Читать книгу Was richtig ist - Sebastian Kalkuhl - Страница 6
1 Montag, 16. November eine Stunde später
ОглавлениеSie hatten den Anstand gehabt, seine Wunden zu versorgen. Sie hatten nicht den Anstand gehabt, ihm zu sagen, wohin sie ihn im Anschluss brachten, aber etwas anderes als das Gericht kam nicht in Frage. Das Einzige, was Cassiel entsprechend interessieren sollte, war ob sie ihn noch anhörten oder gleich hinrichteten, aber das kümmerte ihn nicht. Seine Gedanken waren immer noch da unten, immer noch auf der Erde.
›Ich habe das Richtige getan‹, dachte er. ›Ich habe immer das Richtige getan.‹
Die beiden Soldaten, die ihm, kaum dass er wieder im Himmel angekommen war, erst Handschellen angelegt und ihn dann an der Schulter gepackt hatten, führten ihn mitten in das größte Gebäude im Himmel. Vorbei an den Treppenstufen zu den Balkonen, von denen die öffentlichen Urteile gesprochen wurden – immerhin das blieb ihm erspart. Aber selbst dann hätten ihn einfach nur mehr Leute gehört.
›Ich habe das Richtige getan.‹
Sie brachten ihn weiter ins Innere des Gebäudes, blieben aber rechtzeitig stehen, bevor sie die Zellen erreichten, in denen die Todeskandidaten auf ihr Schicksal warteten. Einer der Soldaten klopfte an die Bürotür vor ihnen, unter dutzenden identischen scheinbar zufällig ausgewählt. Ein Schild rechts an der Wand gab Cassiel Auskunft darüber, bei wem er jetzt landen würde.
Jehudiel, stand da. Erzengel. Oberster Richter.
Besagte Person öffnete nur einen Moment später. Er trug die üblichen schwarzen Richterroben, die dunklen Haare sorgfältig im Nacken zusammengebunden und musterte Cassiel aus ebenso dunklen Augen hinter Brillengläsern. Er wirkte übermüdet und überarbeitet, und ließ trotzdem keinen Zweifel daran, dass er seine Arbeit tun würde. Im Namen Gottes zum einen, im Namen der Erde zum anderen.
»Tretet ein, bitte«, sagte Jehudiel, ging selbst einen Schritt zur Seite und setzte sich hinter den Schreibtisch, der fast die Hälfte des Raums einnahm. Die andere war mit Akten, Schränken und Bücherregalen zugestellt, ein einziges Chaos auf den ersten Blick, aber auf den zweiten erkannte Cassiel das System dahinter. »Und nehmt ihm die Handschellen ab.«
Die Soldaten befreiten ihn von den schweren Ketten. Das Metall und die Kraft, mit der es infundiert worden war, damit er sich ja nicht losreißen konnte, waren hier wohl nicht mehr nötig. Die Richter besaßen ganz eigene Möglichkeiten, um ihre Angeklagten an der Flucht zu hindern.
»Lasst uns jetzt allein«, fuhr Jehudiel seelenruhig fort an die Soldaten gewandt und schien Cassiel für den Moment noch gepflegt zu ignorieren. »Ich lasse jemanden rufen, wenn wir hier fertig sind. Und schickt mir Remiel her.«
Die beiden nickten knapp, einen Moment später schloss sich die Tür wieder und ließ Cassiel allein mit dem Richter. Der Gedanke kam auf, dass er zumindest versuchen könnte sich zu wehren, doch weit würde er nicht kommen. Einen Großteil seiner Kraft hatte er auf der Erde verbraucht und was noch übrig war, würde gegen einen Erzengel nicht reichen. Sie standen in der Hierarchie lediglich knapp über Cassiel, doch hatten sie nur ihren Rang und Namen aufgegeben, als sie sich dem Schutz der Erde verschrieben hatten – nicht etwa ihre Macht.
Jehudiel stieß einen tiefen Seufzer aus, dann bedeutete er Cassiel, sich ihm gegenüber auf einen unbequem wirkenden Stuhl zu setzen. »Fangen wir an.«
»Werde ich hingerichtet?«
»Selbst wenn ich das schon wüsste, würde ich mich trotzdem noch mit dir unterhalten wollen«, erwiderte der Richter. »Du bist kein Soldat, das hier ist nicht das Kriegsgericht. Jeder Engel hat das Recht auf einen fairen Prozess und eine Anhörung, so sehr er sich auch versündigt hat.«
›Erstaunlich, wie leicht du das sagen kannst, nachdem ihr erst vor sechshundert Jahren Engel einfach in die Hölle gestoßen habt‹, dachte Cassiel bei sich. ›Aber Gott den Rücken zu kehren ist etwas anderes.‹ »Ich habe mich nicht versündigt, ich habe nur meine Arbeit getan.«
Jehudiel schwieg daraufhin sehr eisern und nahm sich die oberste Akte auf dem Stapel neben sich. Blätterte einmal kurz darin, legte sie weg und wiederholte das Ganze noch dreimal, ehe er die Richtige gefunden zu haben schien. Cassiel beugte sich leicht vor, in der Hoffnung, erkennen zu können, worum es da ging, aber außer seinem Namen konnte er nichts lesen. Das half ihm auch nicht zu neuen Erkenntnissen.
»Du heißt Cassiel?«, fragte der Richter schließlich.
»Ja.«
»Alter?«
»1463.« Nicht alt für einen Engel.
Jehudiel hob eine Augenbraue und wirkte so, als würde das Dinge erklären. Jugendlicher Leichtsinn oder was auch immer, Cassiel wollte es gar nicht so genau wissen. »Beruf?«
»Schutzengel.«
Jehudiel nickte sehr langsam und mit gerunzelter Stirn, machte sich eine Notiz in der Akte vor ihm und kommentierte das nicht weiter. »Dir ist bekannt, weswegen du hier sitzt?«
»Ja«, erklärte Cassiel, konnte das so aber unmöglich stehenlassen. »Aber ich musste das alles tun, es war richtig. Schutzengel tun immer das Richtige.«
Wieder bekam er eisernes Schweigen als Antwort. Dieses Mal gemischt mit einer unterschwelligen Erklärung, dass Jehudiel das bitte für sich allein entscheiden wollte.
»Diese Anhörung dient dazu, dass ich mir ein Bild von den Dingen machen kann, die passiert sind«, erklärte der Richter. »Sie soll mir helfen, ein gerechtes Urteil zu fällen. Ich bitte dich darum, die Wahrheit zu erzählen, sie nicht zu verdrehen und keine wichtigen Details auszulassen. Wenn du das Richtige getan haben solltest, dann werden mich nichts weiter als die tatsächlichen Ereignisse davon überzeugen können.«
»Ja«
»Schwörst du in Gottes Namen, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts anderes als die Wahrheit?«
»Ich schwöre. In Gottes Namen.«
»Gut.« Mit einem erneuten Seufzen schloss Jehudiel die Akte vor sich, nahm mehrere leere Blätter Papier und einen Stift, schrieb eine Überschrift und wartete dann kurz ab, als sollte Cassiel ihm jetzt diktieren, wie es weiterging. »Was ist, grob zusammengefasst, deine Aufgabe als Schutzengel?«
»Ich denke, das wisst Ihr längst.«
»Ich hätte es spätestens in den letzten Tagen erfahren, ja«, erwiderte Jehudiel ein kleines bisschen gereizt. Nicht auszuschließen, dass er unter anderem wegen Cassiel so müde aussah. »Aber ich würde es gerne von dir persönlich hören. Was ist deine Aufgabe als Schutzengel?«
»In Gottes Auftrag über meinen schutzbefohlenen Menschen zu wachen, auf ihn zu achten und vor Gefahren zu bewahren.« Die Worte beherrschte Cassiel im Schlaf. Es würde ihn wundern, könnte es auch nur einer seiner Kollegen nicht. »Und das habe ich getan.«
»Hattest du einen schutzbefohlenen Menschen?«
›Hatte.‹ Das Wort versetzte ihm einen Stich. »Ja. Sam.«
Jehudiel notierte. »Wie sieht die Beziehung eines Schutzengels zu seinem Menschen aus?«
»Der Schutzengel kennt das Leben seines Menschen besser als jeder andere. Er begleitet ihn ab dem Moment seiner Geburt. Er erlebt jeden wichtigen Moment seiner Entwicklung mit, auch dann, wenn sonst niemand da ist. Ein Schutzengel weiß, wann sein Mensch Schutz benötigt. Und er weiß auch, wann es richtig ist, einzugreifen.«
»Wissen die Schutzbefohlenen von ihren Schutzengeln?«
»Wir zeigen uns in der Regel nicht vor ihnen.«
Jehudiel nickte und schien das alles in Stichpunkten zusammenzufassen. »War das, was du mir gerade erzählt hast, auch bei deinem Menschen der Fall?«
Es half alles nichts. »Nicht… direkt.«
»Erläutere das bitte.«
Cassiel nickte und holte tief Luft. Jetzt erst begann er zu ahnen, dass er ein bisschen länger hier sitzen dürfte.