Читать книгу Was richtig ist - Sebastian Kalkuhl - Страница 8
2 Montag, 16. November drei Stunden später
ОглавлениеJehudiel schrieb seinen letzten Satz fertig, war mittlerweile beim sechsten Blatt Papier angekommen. Wenn Cassiel sich allerdings den leeren Stapel anschaute, den der Richter sich hatte bringen lassen, dann waren sie sehr weit davon entfernt, fertig zu sein.
»Nach dem, was du jetzt erzählt hast«, begann der Richter, »würdest du sagen, dass deine Beziehung zu Sam den zuvor genannten Regeln entsprochen hat?«
Cassiel kam nicht einmal dazu, den Mund zu öffnen, als die Bürotür hinter ihm aufflog und ein weiterer Engel hineinkam. Sie trug fast die gleiche Kleidung wie Cassiel, deutlich förmlicher und edler allerdings, und vor allem hatte sie Schuhe an. Ungewöhnlich für Schutzengel, aber auf einzelne Menschen passte sie schon lange nicht mehr auf. Sie hatte ihr dunkelblondes Haar streng zurückgebunden, und funkelte sie beide an, ihr Blick ebenso kühl wie ihre blauen Augen.
»Ihr habt ohne mich angefangen?«, stellte sie fest und ließ es sich vermutlich nur nach einer Frage anhören, um ansatzweise höflich zu wirken.
»Es war nicht meine Aufgabe, auf dich zu warten, Remiel«, erwiderte Jehudiel ruhig, stand unterdessen auf und rückte ihr einen Stuhl an seiner Seite zurecht. Cassiel hätte auch nicht zu träumen gewagt, dass die Vorsteherin der Schutzengel hier war, um ihn zu unterstützen. »Du warst anfangs noch nicht involviert und bist noch keine Zeugin gewesen. Außerdem hast du dich verspätet.«
»Ich habe mich mit Michael unterhalten, um die Situation auf der Erde zu klären. Wir haben hier ein weitaus größeres Problem als eine Anhörung nach Protokoll!«
»Setz dich bitte«, antwortete Jehudiel darauf, wartete aber nicht auf sie. »Cassiel, entsprach deine Beziehung zu Sam den Vorgaben?«
›Nichts als die Wahrheit.‹ »Nein.«
»Natürlich hat sie das nicht«, warf Remiel ein, kaum dass sie saß. »Wir zeigen und nicht. Wir schützen nur, wenn das Leben unseres Menschen bedroht ist und nicht bei Kleinigkeiten!«
»Wir schützen, wenn es richtig ist«, erwiderte Cassiel. Remiel hatte die Regeln ebenso wenig gemacht wie er, sie hatte sich ebenso daran zu halten und vor allem hatte sie sie ebenso wenig nach ihrer Vorstellung zu biegen. »Und es war richtig. Es war immer alles überall richtig.«
»Deine Gefühle für Sam haben dein Urteil getrübt«, erwiderte Remiel scharf. »Distanz zu wahren garantiert, dass das nicht passiert, du hättest es auf der Stelle melden müssen als du gemerkt hast, dass-«
»Remiel. Bitte.« Mit einem Seufzen nahm sich Jehudiel ein neues Blatt. »Cassiel, hattest du Gefühle für deinen Menschen?«
»Ja.« Es wussten ohnehin schon alle.
»Die du nicht hättest haben dürfen«, erklärte Remiel.
»Ich denke, das haben wir in der Zwischenzeit herausgearbeitet«, erwiderte der Richter und fuhr seelenruhig fort, weiter an Cassiel gewandt. »Haben deine Gefühle zu Sam dein Urteilsvermögen beeinflusst?«
»Ich…« Er schüttelte den Kopf und fuhr dann fort, weil das alleine keine sinnvolle Antwort darstellte, das wusste er selbst. Je länger er nachdachte… »Ich weiß nicht. Ich kann es nicht sagen. Tut mir leid.«
Jehudiel hob eine Augenbraue. Er schaute kurz zu Remiel hinüber, doch die pflichtete ihm ausnahmsweise nicht bei. »Kannst du das erläutern?«
»Ich habe getan, was richtig ist«, erwiderte Cassiel. »Das war immer so. Das war bei den Menschen vor Sam so. Ich habe mich gewundert, warum manche Dinge nötig gewesen sind, aber das waren sie alle. Das waren sie immer. Sie waren alle richtig.«
Jehudiel schien nicht wirklich zu verstehen, aber das hatte wohl auch niemand erwartet. Er zeigte es lediglich deutlich weniger offen als die meisten anderen Engel. »Kannst du zweifelsfrei ausschließen, dass dein Urteil beeinträchtigt wurde?«
»Nein.«
»Und das ist das Problem«, murmelte Remiel kopfschüttelnd. »Ganz genau das ist das Problem.«
Cassiel wusste nicht, was er sagen sollte. Noch mehr darauf beharren, dass das alles richtig gewesen war, konnte er beim besten Willen nicht, und so sehr das Argument bei Schutzengeln zählte, so wenig tat es das offensichtlich vor einem Richter. Aber es blieb sein einziges Argument.
»Ist die Tatsache, dass ich in Sam…« Er räusperte sich, schaffte es dann doch nicht, das in der Deutlichkeit zu sagen. Jetzt hätte er gerne erst recht dazu gestanden, und trotzdem brachte er es einfach nicht über sich. »Dass ich Gefühle für Sam hatte, ist das jetzt immer noch so relevant?«
»Ich denke, es ist sicher zu sagen, dass diese Tatsache alles losgetreten hat«, erwiderte Jehudiel. »Zumindest nach dem, was ich bisher in Erfahrung bringen konnte. Und ich würde gerne weiter von dir hören, wie es weitergegangen ist.«
»Ich habe nur getan, was…«
»Hast du ansatzweise eine Ahnung, was du alles damit angerichtet hast?«, fragte Remiel. Cassiel bildete sich hoffentlich nur ein, dass sie gefährlich nach vorne gezuckt war. »Weißt du, was gerade auf der Erde los ist? Du hättest dich von diesem Menschen lossagen sollen, du hättest dich unter Kontrolle haben sollen, du hättest ihn nicht lieben dürfen, dann wäre das alles nicht passiert!«
»Ihr könnt mir nicht verbieten, Gefühle zu haben!«
»Doch, das kann ich.«
›Bitte was?‹ »So funktioniert das nicht!«
»Ruhe«, unterbrach Jehudiel sie. »Das hier wird auch so schon lange genug dauern. Beruhigt euch beide.«
Remiel sah nicht begeistert aus, aber sie schwieg. Und gab Cassiel allein mit ihrem Blick zu verstehen, dass er auch nicht weiter diskutieren sollte – nicht dass er das vorgehabt hatte.
»Fahren wir fort. Erzähl mir bitte von den Ereignissen, die die ganze Sache ausgelöst haben.«
Cassiel nickte, holte wieder tief Luft. Wohl fühlte er sich nicht dabei, aber aus der Sache kam er nicht mehr heraus.