Читать книгу Parallel leben - Sebastian Lehmann - Страница 10

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Die Sirenen kommen näher. Lange wird es nicht mehr dauern. Ich blicke zum See, die Flammen spiegeln sich im dunklen Wasser, das von einem Schwarz ist, noch undurchdringlicher als der Nachthimmel in Brandenburg.

»Was haben Sie denn gemacht?«

»Nichts.«

Und es stimmt.

Unser Nachbar, der neben mir steht, starrt gebannt auf die erstaunlich hohen, grellorangen Flammen. Der Feuerschein taucht den Wald in flackerndes Licht. Es riecht nach Lagerfeuer.

»Eigentlich sieht es sogar schön aus.« Ich muss lachen, leise und freudlos.

Er schüttelt ungläubig den Kopf, murmelt irgendetwas Unverständliches und verschwindet in seinem Haus.

Alles scheint sich zusammenzufügen, alles passt, wie eine perfekte Gerade, eine Strecke von A nach B. Aber je länger ich auf das brennende Haus starre, desto unklarer und verworrener wird es wieder. Die gerade Linie verwickelt sich, verknotet sich wie ein loser Faden. Und ich weiß auf einmal nicht mehr, wo der Anfang liegt und wo das Ziel, wann es losging und ob es jetzt zu Ende ist.

Natürlich hatte mich Professor Emrald gewarnt, es ist noch gar nicht lange her.

»Wenn Sie weitermachen wie bisher, wird Sie das alles irgendwann heimsuchen – und dann ist es wahrscheinlich zu spät«, sagte er, als wir wieder einmal in seinem Büro saßen. »Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche, ich kämpfe schon lange mit Gespenstern, die sich nicht abschütteln lassen.«

Unser Nachbar, zurück auf seiner Veranda, wirkt noch aufgeregter. Seine Hände zittern. Erst jetzt bemerke ich das Mobiltelefon, das er an sein Ohr hält. Er flüstert die Worte wie ein Mantra: »Es brennt. Es brennt. Ja, wirklich, es brennt.«

Inzwischen kann ich auch das zuckende Blaulicht erkennen, nicht mehr weit entfernt auf der Bundesstraße.

Sie sind fast da.

Mir kommt wieder einmal diese Mathestunde vor vielen Jahren in der Schule in den Sinn, an die ich in letzter Zeit oft gedacht habe. »Bei zwei parallelen Geraden ist der Abstand aller Punkte auf diesen Geraden konstant. Sie sind immer gleich weit voneinander entfernt«, sagte unser erstaunlich junger, stets motivierter Mathelehrer. Das leuchtete sogar mir ein. Ich zählte nicht gerade zu den Mathe-Cracks und war immer froh, wenn ich eine Vier schaffte. Verschmitzt fügte er allerdings hinzu: »Im Unendlichen schneiden sie sich doch.« Das klang nach Science-Fiction, aber die Nerds in der Klasse nickten grinsend. »Wenn man zwei parallelen Linien mit den Augen folgt, scheinen sie sich aufeinander zuzubewegen«, erklärte unser Lehrer und schrieb einen kryptischen Beweis an die Tafel. Parallelität existierte also nicht, wenn ich das richtig verstand. Doch was sollte das bedeuten: »im Unendlichen«? In der Praxis hatte das schließlich keine Auswirkungen, selbst wenn es so »aussah«, es passierte ja nicht wirklich.

Als ich schließlich die Feuerwehrautos sehe, das brennende Haus vor mir, weiß ich, dass mein Mathelehrer recht behalten hat.

Parallel leben

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