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Zum Gefühl der Taubheit gehörte auch der Blick zurück. Vielleicht bedingten sich diese beiden Stimmungen. Besonders in den wachen Nächten drifteten meine Gedanken irgendwann ab, und ich verlor mich in unbestimmten Erinnerungen. Paradoxerweise erinnerte ich mich am stärksten an die Erinnerung selbst. Schon als Kind, so kam es mir vor, hatte ich darüber nachgedacht, wie ich mich später, wenn ich älter wäre, an meine Kindheit erinnern würde. Ich hatte mir damals vorgestellt, in ein paar Jahren aufzuwachen und an diesen Moment zurückzudenken, an dem ich dachte, dass ich mich daran erinnern würde. Von diesem Gedankenexperiment kam ich lange nicht los. Ich versuchte mir vorzustellen, wie mein Ich jetzt für mein Ich in vier Wochen aussehen würde. Dabei durchströmte mich ein Gefühl der Zeitlosigkeit, als würde sich Zeit überhaupt auflösen. Es schien fast so, als existiere ich gar nicht. Davor fürchtete ich mich früher am meisten: Dass ich in Wahrheit gar nicht lebte, nicht da wäre.

Und in diesem Zusammenhang stand auch eine seltsame Kindheitserinnerung. Sie wirkte inzwischen wie ein Traum – doch einer, der bereits ins Bewusstsein übergegangen ist und von dem man nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen kann, ob er nicht doch Realität ist. Wie ein altes, vergessenes Foto, auf dem man sich selbst erst nach einer Weile erkennt.

Ich sah es deutlich vor mir: Wir befinden uns auf einer Wanderung im Wald, ich muss so etwa zehn Jahre alt gewesen sein. Ein Ausflug mit meiner Fußballmannschaft, samt Trainern und Eltern. Wo genau wir hinwandern, weiß ich nicht mehr. Bei einer Rast, wir essen auf moosigen Baumstämmen sitzend schweigend unsere Vesperbrote, spüre ich plötzlich zum ersten Mal dieses Schaudern. Es fühlt sich an, als würde ich an einem Abgrund stehen, hinunterblicken und im nächsten Moment befände ich mich schon im freien Fall. Ich weiß auf einmal, dass ich sterben muss. Selbst für einen Zehnjährigen keine ganz neue Erkenntnis, doch in diesem Moment geht mir die Konsequenz daraus auf: Es würde eine Zeit geben, in der ich und alles und jeder, der mit mir zu tun hatte, verschwunden wäre. Ein Ende, ein Nichts. Ich blicke meine Freunde an, die um mich herum sitzen und ihre Brote verspeisen, ihre Eltern, die sich über etwas unterhalten, was mich als Kind nichts angeht, und ich weiß auf einmal, dass ich mit ihnen nicht darüber sprechen kann. Sie würden es nicht verstehen, oder vielleicht würden sie es zu gut verstehen und deswegen nicht darüber reden wollen. Es gibt im Grunde auch nicht viel zu sagen.

Wahrscheinlich verfiel ich dann auf die Idee mit den Gedankenexperimenten. Weil ich damit scheinbar meine Zukunft eingrenzen konnte. Oder wie der alte Walser sagt: »Man ist ja viel länger tot als lebendig.«

Auf dem Weg zur Freien Universität las mir gegenüber eine junge Frau, wahrscheinlich Studentin, ein Buch meiner Schwester. Das kam öfter vor, Irene verkaufte ziemlich gut, trotzdem erschrak ich immer wieder, wenn ich ihren – und damit auch meinen – Namen auf einem Buchcover sah.

Meine Schwester war Historikerin und hatte schon vor knapp acht Jahren promoviert – obwohl sie nur dreieinhalb Jahre älter war als ich. Schon während des Studiums hatte sie begonnen, in einer unglaublichen Geschwindigkeit dicke Bücher über wichtige geschichtliche Persönlichkeiten zu schreiben. Allgemein verständliche Bücher für ein großes Publikum und trotzdem akademisch relevant, hieß es oft in den Rezensionen. Sie brauchte immer genau zwei Jahre zum Schreiben, davor hatte sie bereits ein Jahr lang recherchiert. Diesen Zeitplan wollte sie unbedingt einhalten, was sie dank ihrer asketischen Lebensweise sogar schaffte.

Die Frau in der U-Bahn las ihr neuestes Buch über Fürst Metternich. Hatte sie nicht schon ihr letztes Buch über Metternich geschrieben? Ich konnte diese ganzen historischen Figuren einfach nicht auseinanderhalten. Vor allem wenn sie klangen wie Sekt­sorten.

Irene machte auf fremde Leute oft einen unglücklichen Eindruck, sie lächelte so gut wie nie, selbst wenn es die Konventionen erfordert hätten. Augenkontakt mit ihren Gesprächspartnern vermied sie, so gut es ging. Damit stieß sie einige Leute vor den Kopf, was sie in der Regel nicht einmal bemerkte. Doch trotz ihres sozialen Ungeschicks überzeugte sie alle schnell mit ihrer Brillanz. Sie führte auch kein unglückliches Leben, selbst wenn es manchmal sogar auf mich so wirkte. Meine Schwester ging in dem auf, was sie schuf – und dieses Schaffen machte sie glücklich. Sie reihte ihre Bücher in einem eigenen Regal im Arbeitszimmer auf und nahm sie nie wieder heraus. Sie brauchte nur ihren Blick kurz vom Computer abzuwenden und sah sofort, was sie schon alles geschafft und damit auch geschaffen hatte. Ich habe es zwar noch nie in diesem Zusammenhang erlebt, aber ich bin mir sicher: Dann huschte sogar ein zufriedenes Lächeln über ihr fahles Gesicht, das dringend mal wieder ein paar Sonnenstrahlen vertragen könnte.

Aber da gab es ja diese Liste in der obersten Schublade ihres beeindruckenden Gründerzeitschreibtisches, ich konnte einmal einen kurzen Blick darauf werfen, als Irene sie gerade wegräumte. Auf der Liste stand eine lange Reihe mit Namen historischer Persönlichkeiten, über die sie Bücher schreiben wollte. Das musste sie noch alles schaffen – also blieb nicht viel Zeit für sonstige Bedürfnisse, vor allem weil die Liste kontinuierlich wuchs. Es dauerte schließlich nur drei Sekunden, einen neuen Namen auf die Liste zu setzen, aber drei Jahre, ein neues Buch zu schreiben. Zudem unterrichtete sie an der Hamburger Universität – und es schien nur eine Frage der Zeit, bis sie dort ordentliche Professorin werden würde.

Mein eigenes akademisches Versagen wirkte im Hinblick auf meine Schwester fast plakativ groß, sodass ich lieber gar nicht darüber nachdachte. Ungeachtet dieses Umstandes verstanden wir uns ziemlich gut.

Der Mann meiner Schwester hieß tatsächlich Helmut und sah leider auch so aus (grauer Backenbart, Glatze, dick, eckige Brille), war aber ein herzensguter Chemieprofessor und zehn Jahre älter als sie. Ich hatte mit ihm noch kein einziges interessantes Gespräch geführt, was mich nicht im Geringsten störte. Die beiden hatten keine Kinder, und so waren Robert, Johanna und ich beliebte Gäste in der riesigen Altonaer Wohnung, die sich die beiden vor nicht allzu langer Zeit gekauft hatten und die viel erwachsener eingerichtet war als unsere: ausschließlich antike Möbel, schwere, dunkle Vorhänge, durch die kaum Sonnenlicht auf die braunen Dielen fiel, dazu teure elektronische Geräte, an denen Helmut unablässig herumspielte.

Die Frau mir gegenüber klappte das Buch zu, und wir stiegen an der gleichen Haltestelle aus. Mein Seminar begann in genau einer Stunde, und ich machte mich erst einmal auf den Weg in mein Büro.

Vor der philologischen Bibliothek kam mir Emrald entgegen, er roch verdächtig nach Vanille. Wie immer trug er sein abgewetztes Tweedsakko und eine zerbeulte beige Hose, darüber einen nagelneuen, dunkelblauen Dufflecoat. Seine grauen Haare standen am Hinterkopf wirr ab, als wäre er gerade aufgestanden. Er sollte sich dringend von Schenker ein paar Frisiertipps geben lassen.

»Emrald, Sie sehen mal wieder aus wie das Klischee eines verrückten Professors.«

»Kommen Sie mit in mein Büro, Ferber!«, rief er, und ein paar Studenten drehten sich nach ihm um. »Und hören Sie auf mit Ihrem oberflächlichen Geschwätz!« Er schob mich in Richtung seines Büros. »Sie müssen mir noch von der Konferenz in Leipzig berichten«, fügte er etwas leiser hinzu.

In seinem Büro machte sich Emrald an seinem Alkoholschrank zu schaffen.

»Es ist zu früh für Rum.« Ich ließ mich auf den einzigen nicht von hohen Bücherstapeln belegten Stuhl fallen.

»Was haben Sie denn für eine Laune!« Er knallte die Schranktüren wieder zu und stellte nur die Kaffeekanne auf den Tisch. »Na gut. Wie war es?«

»Was denken Sie? Langweilig, eintönig, ermüdend, unnötig. Eine literaturwissenschaftliche Konferenz eben. Der Vortrag zum Fliehenden Pferd war halbwegs interessant, zu Bernhard habe ich allerdings selten etwas Dümmeres gehört.«

Emrald schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass die Tassen klirrten. »Walser interessant! Sind Sie verrückt geworden?« Es gab kaum einen Schriftsteller, den Emrald mehr hasste als Walser. Und er hasste viele Schriftsteller. Vorsichtig nahm er einen Schluck heißen Kaffee und schien mit dem Gedanken zu spielen, sich doch einen kleinen Spritzer Rum zu gönnen.

»Ich fand den Vortrag gut, nicht das Buch«, versuchte ich die Wogen zu glätten, doch Emrald schüttelte nur den Kopf.

»Und Bernhard naturgemäß fürchterlich«, sagte er mehr zu sich selbst. »Die Wissenschaftslangweiler vergewaltigen ihn immer wieder aufs Neue. Es ist ein Skandal!«

Ich nickte nur und kratzte etwas Dreck vom Rand meiner Tasse. »Ein fliehendes Pferd ist kein schlechtes Buch«, murmelte ich ohne ihn anzusehen.

»Was ist nur mit Ihnen los, Ferber? Werden Sie schon senil, oder sind Sie verliebt?«

Ich zuckte zusammen. Man durfte Emrald nicht unterschätzen und sich von seinem Poltern in die Irre führen lassen, er besaß eine gute Menschenkenntnis und reagierte äußerst sensibel auf seine Mitmenschen. Jedenfalls manchmal.

»Aber das ist ohnehin das Gleiche!« Er lachte. »Es wird immer schlimmer mit Ihnen, Ferber!«

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, schielte auf die Uhr an der Wand und zog die elf Minuten ab, die sie seit Jahren vorging. Mein Seminar würde erst in einer Dreiviertelstunde beginnen, er hatte noch genug Zeit für eine seiner gefürchteten Standpauken.

»Sie können nicht ewig unterbezahlt langweilige Seminare für einfältige Studenten geben.«

»Das machen Sie doch auch.« Ich ging zum Schrank, holte die Rumflasche heraus und goss uns beiden einen kräftigen Schluck ein. Emrald sah mich dabei verwundert an. Ein Gespräch mit ihm über mein verkorkstes Leben konnte ich nur angetrunken ertragen. »Allerdings sind Sie nicht unterbezahlt«, fügte ich hinzu, als ich mich wieder hinsetzte.

»Na, na«, rief er. »Sie sollten sich nicht mit mir vergleichen, da kann es ja nur einen Verlierer geben! Ich habe ein bahnbrechendes Buch über Thomas Bernhard geschrieben! Und war dreimal verheiratet. Oder sogar viermal? Egal. Ich habe in Paris in den frühen Achtzigern mit Foucault zusammengearbeitet!«

Diese Geschichte wieder. Es existierte kein Beweis für eine Zusammenarbeit mit dem großen Michel Foucault, auch wenn Emrald sich damals tatsächlich als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Paris aufgehalten haben musste. Mit genauen Informationen hielt er auch auf Nachfrage stets hinterm Berg, also hatte ich mir angewöhnt, es einfach zu ignorieren.

»Vielleicht sollten Sie mal für eine Zeit lang aus Berlin abhauen, sich eine Auszeit gönnen. Das hört sich vielleicht abgeschmackt an, aber man muss sich immer wieder in neue, unbekannte Situationen versetzen, erst dann kann man etwas erreichen.«

Dass sich etwas ändern musste, damit hatte Emrald wahrscheinlich recht. Doch bei seinen vermeintlich wohlmeinenden Ratschlägen musste man vorsichtig sein. Er war ein großer Scharlatan und behauptete an einem Tag etwas und am nächsten Tag das komplette Gegenteil. Immer klang es überzeugend und einleuchtend. Er hätte seinen Studenten alles erzählen können – und ich wusste, dass er es auch tat. Sie lauschten begierig seinen Sentenzen und schrieben eifrig alles mit. Wenn er wieder in besonders süffisanter Laune war und ich ihn nach einer Vorlesung auf dem Gang traf, rief er mir immer schon von Weitem zu: »Wissen Sie, was ich denen heute wieder erzählt habe? Man kann Menschen alles verkaufen, man muss es nur schön verpacken, dann schlucken sie jeden Schwachsinn. Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Politikern!«

Ich sah Emrald an. »Wohin soll ich denn gehen? Und außerdem: Was soll denn das heißen: ›etwas erreichen‹?« Das klingt mir zu ökonomisch, das Leben ist doch keine Kosten-Nutzen-Rechnung.«

»Sie müssen aufhören, alles immer mit Begriffen zu kategorisieren.« Er streckte sich auf seinem Schreibtischstuhl aus. »Begriffe sind immer unscharf. Die Praxis dagegen ist eindeutig. Was Sie machen, wie Sie leben, das ist real. Diese ganze Theorie ist gut für Vorlesungen, damit können Sie Ihre Studenten einschläfern. Denken wird überschätzt.« Scheppernd schoss er eine Lachsalve ab und griff zu seinen Vanille-Zigarillos. Nur in Ausnahmesituationen gönnte er sich einen im Büro, Rauchen war in der Universität strengstens verboten. Anscheinend handelte es sich gerade nicht um solch eine Situation, denn er spielte nur kurz mit der Packung und legte sie dann wieder zurück auf den Tisch.

»So, langsam muss ich mal etwas essen. Und Sie müssen Ihr Seminar halten.« Er hob seine Tasse, auf der, wie ich jetzt sah, tatsächlich ein Elefant prangte, und prostete mir theatralisch zu. Dann leerte er sie mit einem Zug und wuchtete sich aus seinem Sessel.

»Walser interessant!«, murmelte er noch, als er sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund steckte. »Sie sind wirklich verrückt geworden.«

Wir verließen sein Büro, und ich schlug den Weg zum Seminarraum ein. Verliebt oder senil. Emrald hatte wieder einmal ins Schwarze getroffen. Trotzdem würde ich ihm auf gar keinen Fall von Lea erzählen.

Als Erstes stand das obligatorische Referat an. Lukas und Marie, wenn ich mich recht erinnerte, zweites Semester Germanistik auf Bachelor und damit höchstens zarte zwanzig Jahre alt, bauten sich schon vorne neben meinem Pult auf und nickten mir schüchtern zu.

»Dann legen Sie mal los«, ermunterte ich die beiden. Heute stand Max Frischs Mein Name sei Gantenbein auf dem Seminarplan, erfahrungsgemäß interessierten sich die Studenten nicht gerade übermäßig für diesen über fünfzig Jahre alten Roman.

Der Vortrag begann wie immer furchtbar. Ich sollte die Referate am Anfang jeder Sitzung dringend abschaffen, dachte ich jedes Mal, doch mit ihnen ließ sich so gut Zeit totschlagen. Man konnte ja nicht jede Woche einen Film zeigen.

Marie las erst einmal fast den kompletten Wikipedia-Eintrag zu Max Frisch vor. Ich hatte es aufgegeben, zu intervenieren, anscheinend ging es nicht ohne, jedes Referat begann so. Zum Glück sprach sie so schnell, dass es kaum fünf Minuten dauerte, die komplette Biographie Frischs herunterzurattern. Ich betrachtete dabei die nach der Mittagspause besonders schläfrigen Studenten, etwa fünfundzwanzig. Am Anfang des Semesters waren es doppelt so viele gewesen. Bei den meisten war mir rätselhaft, warum sie Literatur studierten, ich vermutete, weil ihnen nichts Besseres eingefallen war. Wahrscheinlich ahnten sie, dass ich sie auch nur unterrichtete, weil mir wiederum nichts Besseres einfiel. Eigentlich konnte man bei solch einer Ausgangssituation recht gut miteinander auskommen.

Nach Maries Wikipedia-Einstieg übernahm zum Glück Lukas, der sich wohl eingehender mit dem Roman beschäftigt hatte. Er schien mir ohnehin einer der Belesensten im Seminar (was nicht viel bedeutete), er meldete sich manchmal sogar freiwillig und versuchte sich an umständlichen Theorien, was ich stets unterstützte. Zur Feier des Tages trug er heute ein Cordjackett und ein mindestens zwei Nummern zu großes, hellblaues Hemd, in dem er aussah wie ein kleiner Junge, der für eine Familienfeier zurechtgemacht worden war.

»Frisch zeigt, wie sich die Identität einer Figur in verschiedene Rollen aufspaltet und wie das Spielen einer Rolle zwischenmenschliche Beziehungen verändert. Der nicht klar gekennzeichnete Erzähler des Romans erfindet sich dazu zum Beispiel als Gantenbein, der sich als Blinder ausgibt.« Lukas räusperte sich theatralisch. »Ein sehender Blinder könne nämlich die Menschen ohne ihre Masken betrachten. Ich zitiere: ›Vor allem aber, so hofft Gantenbein, werden die Leute sich vor einem Blinden weniger tarnen, so daß man sie besser kennenlernt, und es entsteht ein wirkliches Verhältnis, indem man auch ihre Lügen gelten lässt …‹«

»Bedeutet das, man soll den Leuten ihre Lebenslügen lassen?«, konnte ich mich nicht beherrschen, Lukas zu unterbrechen.

»Wahrscheinlich geht es eher um Rollen, um Geschichten, die man sich zu seinen Erfahrungen erfindet. So wie der Pechvogel, von dem im Roman auch die Rede ist. Er gewinnt irgendwann im Lotto. Und plötzlich stimmt er nicht mehr mit seiner Geschichte, seinem Selbstbildnis als Pechvogel überein, was ihn völlig aus der Fassung bringt – bis er sein Portemonnaie mit dem Gewinn verliert.«

Lukas grinste breit, und zwei Studenten in der ersten Reihe taten ihm den Gefallen, kurz zu lachen.

»Der Erzähler sagt selbst, er probiere Geschichten wie Kleider an«, deklamierte Lukas. »Ich zitiere wieder: ›Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.‹«

An diese Stelle konnte ich mich gar nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich hätte ich mich besser vorbereiten sollen, statt das ganze Wochenende in Leipzig zu verbringen.

Ich nickte Lukas wohlwollend zu, Marie mischte sich jedoch plötzlich ein, ich hatte sie schon ganz vergessen.

»Seine Frau Lila betrügt er damit doch. Er erzählt ihr, er sei blind, und spielt ihr etwas vor, was er gar nicht ist.«

Lukas blickte sie eine Sekunde zu lang an, ich vermutete, er hatte sich bei der Referatsvorbereitung in sie verliebt.

Sie klang ehrlich empört, als hätte Frisch über reale Personen geschrieben, die so etwas Böses nicht verdienten. Und der böseste von allen sei Frisch selbst, der darüber schrieb. Bleiben Sie beim Text, bläute ich meinen Studenten fast jede Sitzung ein – vergebens natürlich. Sie interessierte vor allem der Autor und seine persönliche Meinung.

»Eine steile These«, warf ich ein. »Immerhin betrügt Lila ja auch Gantenbein. Und er muss sogar vorspielen, er würde es nicht sehen.«

Marie schüttelte aufgeregt den Kopf. War sie überhaupt schon zwanzig? Sie wirkte eher wie dreizehn. »Er benutzt sie doch von Anfang an als Versuchskaninchen. Sie kennt den wahren Gantenbein gar nicht, wie soll sie ihn da überhaupt lieben können?«

Das wird ja immer schlimmer, dachte ich. Welchen »wahren Gantenbein« denn überhaupt?

»Hat jemand im Plenum dazu eine Meinung?« Doch die vor sich hin dösenden Studenten starrten nur apathisch ins Leere. Der verliebte Lukas schien diesem gefühligen Schwachsinn ebenfalls nicht widersprechen zu wollen. Wahrscheinlich waren er und Marie die Einzigen, die den Roman überhaupt gelesen hatten.

Lukas kam mir doch noch zu Hilfe. »Ich habe hier ein Zitat aus dem Roman«, stotterte er und las von seinen Laptop ab: »›Vielleicht weiß Lila schon lang, daß ich nicht blind bin, und sie läßt mir meine Rolle nur aus Liebe?‹«

»Genau!«, rief ich zu laut. »Man muss die Masken oder Tarnungen seiner Mitmenschen akzeptieren, will man mit ihnen auskommen.«

Marie schien nicht zufrieden. »Natürlich spielen wir die ganze Zeit Rollen und probieren Geschichten aus, die zu unserem Erleben passen und mit denen wir uns wohlfühlen. Aber sollte sich nicht gerade die Liebe dagegen wehren und das Wahre sein?«

Lukas und ich starrten sie an. Ich dachte an den Walser-Vortrag. So viel Leidenschaft bei einem Referat war ziemlich ungewöhnlich. Sollte ich sie daran erinnern, dass es nicht einmal eine Note gab?

»Hat Frisch nicht auch gesagt, man solle sich kein Bild machen?«, fuhr sie energisch fort. Sie errötete vor Aufregung. »Vor allem von seinem Partner in einer Beziehung. Die Liebe sollte der Ausweg sein aus dem Spiel. Ich glaube, Lila erkennt das – im Gegensatz zu Gantenbein. Am Ende, als herauskommt, dass er seine Blindheit nur gespielt hat, sagt sie: ›Du hast mich nie geliebt.‹« Marie schluckte. »Wer eine Rolle spielt, der kann gar nicht lieben.«

Ich blickte zu Lukas, der keine Anstalten mehr machte, etwas zu sagen. Marie setzte sich hin und blätterte aufgebracht in ihren Unterlagen. Selbst die anderen Seminarteilnehmer wirkten noch erschöpfter als zu Beginn. Hatte diese völlig unerfahrene Zweitsemester-Studentin vielleicht sogar recht?, fragte ich mich plötzlich. Für eine Sekunde fühlte ich mich ertappt. Doch im Grunde waren das nur kindlich romantische Gedanken. Glaubte sie tatsächlich an ein wahres Ich, das die Liebe offenlegen konnte, das sogar die Grundlage bildete für eine Beziehung?

Ich blickte auf meine Notizen aus dem vorletzten Semester, die ich heute Morgen noch irgendwo in einer Schublade gefunden hatte, darauf das Zitat: »Erst das Geheimnis, das ein Mann und ein Weib voreinander hüten, macht sie zum Paar.«

»Wir wissen ja letztlich gar nichts Objektives von Lila«, sagte ich schließlich. »Wir kennen sie nur aus der Sicht von Gantenbein, wir sehen sie nur durch seine Blindenbrille, die – abgeschmackterweise – alles lila färbt. Im Grunde erfindet er nicht nur seine Geschichte, sondern auch ihre …«

»Aber so ein Übergriff muss ja nicht gut sein!«, unterbrach mich Marie.

»Nein, das hat niemand behauptet«, sagte ich und klang dabei resignierter, als ich es beabsichtigt hatte. Marie nickte und sah sich zu Lukas um, der schlaff auf einem Stuhl hing. Das Referat hatte er sich wohl anders vorgestellt.

Ich beendete das Seminar eine halbe Stunde zu früh.

Am Nachmittag saß ich allein im Wohnzimmer auf dem Sofa und wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Es gab kein Seminar mehr vorzubereiten, keine Klausuren zu korrigieren, ich hatte sogar schon das Bad geputzt. Johanna war immer noch im Büro, und in einer halben Stunde musste ich Robert von der Kita abholen. Darauf freute ich mich immerhin. Draußen war es bereits dunkel, die Straßenlaternen sprangen an, in ihrem gelblichen Licht sah der Nieselregen wie schmale Bleistiftstriche in einem Comic aus. Die Tage gingen so unglaublich schnell vorbei, ich hätte sie gern festgehalten, damit sie mir nicht immer entglitten.

Diese Ereignislosigkeit schien mir seltsam zwangsläufig. Natürlich konnte man frei wählen in der viel beschworenen westlichen Welt. Niemand zwang mich zu etwas, zumindest im sogenannten Privaten nicht. Ich hatte mich frei entschieden, Literatur zu studieren und danach zu promovieren. Trotzdem schien es mir im Nachhinein nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt. Ich hatte eben das studiert, was ich einigermaßen gut konnte, und nicht an die Zukunft gedacht. Emrald hatte mir vorgeschlagen, bei ihm eine Doktorarbeit zu schreiben, und ich hatte angenommen. So ein Angebot schlägt man schließlich nicht aus. Eine gerade Linie, die immer weiter führte, keine Widerstände, die sich mir in den Weg stellten. Zeichnete nicht die meisten Entscheidungen genau dieser Charakter der scheinbaren Zwangsläufigkeit aus? Entscheidungen widerfuhren einem. Man machte es eben, weil man es machte.

Ich stand auf, ging in den Flur, nahm meine Jacke von der Garderobe und suchte meinen Schlüssel.

Auch einer dieser seltsam befriedigenden Routinevorgänge: Robert von der Kita abholen. Manchmal plauderte ich mit anderen Eltern über Belangloses, während die Kinder sich ihre Schuhe anzogen. Dann der Weg nach Hause mit Robert an meiner Hand, der mir atemlos von seinem Tag erzählte. »Lars und Ayshe haben sich gestritten, bis Lars mit Bauklötzen geworfen hat, Frau Heizung ist voll ausgerastet.« So nannte er die Kindergärtnerin, die eigentlich Frau Haizing hieß, Johanna und ich übernahmen seine Bezeichnung, und ich musste immer aufpassen, sie nicht so anzusprechen.

Ich trat auf die Straße und zog mir meine Kapuze tief ins Gesicht. Länger in Leipzig zu bleiben war im Grunde auch keine bewusste Entscheidung gewesen. Ich folgte einfach Lea. Das sollte keine Entschuldigung sein. Alles hier in Berlin hatte so wenig mit dem zu tun, was in Leipzig passiert war, dass es schien, nicht ich hätte es erlebt, sondern jemand anderes.

Am Abend las ich Robert aus dem zweiten Band von Jim Knopf vor. Wir hatten die beiden Bücher schon einmal durch, aber er mochte sie so sehr, dass wir einfach noch einmal von vorne begonnen hatten. Das rührte mich ein wenig, denn auch ich hatte früher als Kind meine Lieblingsbücher mehrmals hintereinander gelesen, weil ich nicht aus dieser Welt auftauchen wollte, in die mich die Geschichten mitnahmen. Johanna hatte sogar schon begonnen, Robert das Lesen beizubringen, und er war mit Eifer dabei, da er Jim Knopf gern alleine lesen wollte. Doch so weit war er noch nicht.

Natürlich las ich ihm auch aus anderen Büchern vor, ein Durchgang genügte ihm aber. Von Astrid Lindgren fand er nur Pippi Langstrumpf gut, Michel wollte er gar nicht erst anfangen. »Was ist das denn für ein komischer Name?«, war sein einziger Kommentar dazu gewesen, bevor er wieder Jim Knopf aus dem Regal hervorholte und sich in sein Bett kuschelte.

Heute war ich nicht recht bei der Sache, und er schien es zu merken. Die einzigen Bücher, die ich noch las, waren Kinder­bücher, fiel mir auf.

Robert sah mich mit vor Müdigkeit glasigen Augen an und fragte leise: »Bist du auch müde, Paul?«

Ich nickte, legte das Buch beiseite und strich ihm seine braunen Haare aus der Stirn. Robert nannte mich nicht Papa. Zu seinem wirklichen Vater sagte er ebenfalls nicht »Papa«, auch ihn sprach er nur mit Vornamen an. Johanna dagegen war selbstverständlich »Mama«.

Sie war bereits mit Robert schwanger, als wir zusammenkamen. Allerdings kannten wir uns schon länger. Meine Schwester und sie hatten an der gleichen Universität studiert, und als ich einmal Irene in Hamburg besuchte, trafen wir sie zufällig in einem Restaurant. Wir mochten uns auf Anhieb und verabredeten uns für ein Treffen zu zweit ein paar Tage später. Sie studierte damals noch, nahm es aber nicht besonders ernst, jedenfalls wirkte es so, und trieb sich die halbe Woche in den Bars auf der Schanze rum. Außerdem schrieb sie an einem Stück, es sollte sogar an einem Off-Theater aufgeführt werden, sie in der Hauptrolle, doch es kam nie dazu, weil sich das komplette Ensemble zerstritt oder so. Ich fand sie ziemlich faszinierend, vielleicht hatte ich auch etwas Angst vor ihr, denn sie schien – im Gegensatz zu mir – genau zu wissen, was sie wollte. Ich war mir sicher, dass sie einen Freund hatte – mindestens. Komischerweise hatte sie das Gleiche von mir gedacht (es stimmte bei uns beiden nicht), und so verloren wir uns aus den Augen, auch Irene und Johanna wurden erst später Freundinnen.

Es dauerte knapp drei Jahre, bis wir uns wiedertrafen, zufällig in einer Bar, dieses Mal in Berlin, wohin sie inzwischen gezogen war. Auf den ersten Blick erkannte ich, dass sie sich verändert hatte. Sie wirkte viel ruhiger, aber auch abwesend. Offensichtlich war viel passiert in der Zwischenzeit. Es dauerte eine Weile, bis ich die ganze Geschichte erfuhr. Und ich weiß bis heute nicht, ob sie mir wirklich alles erzählt hatte.

Unsere beiden zufälligen Zusammentreffen erschienen uns als Schicksal, eine romantische Fügung, die zeigte, dass wir zusammengehörten. Was man eben so denkt, wenn man frisch verliebt ist. Schon an unserem zweiten Abend erzählte sie mir, dass sie im vierten Monat schwanger war, mit dem Vater aber nicht zusammenlebte. Mehr nicht. Ich fragte damals nicht nach – und eigentlich sprachen wir auch später kaum darüber. Seltsamerweise sei nach dem ersten Schock für sie sofort klar gewesen, dass sie das Kind bekommen wolle, hatte sie weitererzählt. Das hätte sie selbst am meisten überrascht.

So wurde ich von einem Tag auf den anderen Teil einer Familie.

Robert fielen die Augen zu, als ich ihn schweigend ansah. Wann er wohl die gleiche Entdeckung machen würde wie ich auf der Wanderung im Wald, fragte ich mich plötzlich. Und würde er dann mit mir darüber reden? Ich strich ihm noch einmal über die Stirn und ging ins Wohnzimmer. Johanna hatte ihren Laptop zugeklappt. Ich setzte mich zu ihr aufs Sofa und lehnte meinen Kopf an ihre Schulter.

»Wie war dein Tag?«, fragte sie.

»Alles wie immer. Routine. Und bei dir?«

»Der Regisseur des neuen Hörbuchs, weißt du, das über den sexsüchtigen Mittdreißiger in Afrika, treibt mich in den Wahnsinn. Er möchte eine Art Hörspiel daraus machen und ständig Löwenbrüllen und Elefantentröten einspielen.«

Ich sah sie skeptisch an. »Von sexsüchtig hast du bis jetzt aber nichts gesagt.«

»Na klar. Er geht ja nur nach Afrika, weil er vor den Zuhältern in Paris fliehen muss, weil sich alle Prostituierten immer in ihn verlieben und nicht mehr arbeiten wollen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das ist doch totaler Schwachsinn.« Aber sie lächelte mich nur an, und ich wusste wieder nicht, was sie dachte.

Das erste Jahr hatten Johanna permanent Schuldgefühle geplagt, mich in etwas hineingezogen zu haben, was ich vielleicht gar nicht wollte. Ich konnte ihr noch so oft versichern, dass ich glücklich sei mit ihr und Robert. Dass ich ihn liebte wie mein eigenes Kind. Doch die Schuldgefühle verschwanden nicht. Nach Roberts erstem Geburtstag zogen wir dann in die Kreuzberger Wohnung, und es hörte einfach auf, fast plötzlich. Diese Anfangszeit, leidenschaftlich und traurig zugleich, intensiv, belastend und neu, schien nun – und eigentlich auch schon kurz danach – wie eine ferne Erinnerung, die nichts mit uns zu tun hatte.

»Ich habe mit Emrald gesprochen«, sagte ich. Ich hatte mir nichts zurechtgelegt, aber auf einmal sprudelte es aus mir heraus. »Ich muss nächstes Wochenende wieder nach Leipzig, ich weiß, es ist nervig. Die Fachbereiche sollen anscheinend kooperieren, und ich muss da irgendetwas vorbesprechen. Emrald wälzt natürlich alles auf mich ab.«

Sie sah mich nur an und sagte nichts. Ich wusste, dass sie der wichtigste Mensch in meinem Leben war, doch das hielt mich nicht davon ab weiterzusprechen. »Du weißt, meine Stelle hängt von ihm ab, ich kann ihm nichts abschlagen.«

Sie schwieg immer noch, und für einen Moment wollte ich ihr alles offenbaren, wollte von Lea erzählen und warum ich wirklich länger geblieben war (nicht die Geschichte wiederholen, die ich ihr bei meinem Anruf aus Leipzig erzählt hatte: »Ich komme erst morgen, es gibt doch noch weitere Vorträge, die für die Diss wichtig sind, obwohl sie mich nicht besonders interessieren. Tut mir leid!«), aber dann nickte sie, als würde sie alles verstehen.

»Das ist doch gut«, sagte sie schließlich. »Du hast doch immer Angst, dass sie dich rausschmeißen, und wenn sie dir eine neue Aufgabe übertragen, dann geht das ja nicht mehr so einfach.«

Ich redete weiter, verfeinerte meine Ausrede, und Johanna schien überzeugt. Warum sollte sie mir auch misstrauen?

»Ich habe ohnehin genug zu tun am Wochenende. Und Robert ist ja am Samstag bei der Geburtstagsfeier von Lars eingeladen.«

Ich legte den Arm um sie und schloss müde meine Augen. Alles war in Ordnung.

Parallel leben

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