Читать книгу Parallel leben - Sebastian Lehmann - Страница 12
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Der Leipziger Hauptbahnhof war im Grunde ein riesiges Einkaufszentrum, die üblichen Mode- und Imbissketten reihten sich auf mehreren Stockwerken aneinander. Draußen erwarteten mich grauer Himmel, breite Straßen und ein paar beeindruckende Gründerzeitgebäude. Obwohl Leipzig nur eine knappe Stunde Zugfahrt von Berlin entfernt lag, hatte ich es noch nie hierher geschafft.
Die Universität lag nicht weit vom Bahnhof entfernt. Ich irrte durch die unübersichtlichen Gänge, bis ich schließlich einen der Räume fand, in denen die Konferenz stattfinden sollte. Es war nicht viel los, nur eine andere vermeintliche Teilnehmerin der Konferenz stand vor der Tür und starrte auf ihr Smartphone.
»Nachkriegsliteratur?«, fragte ich halblaut.
Sie sah auf und nickte undeutlich. Die halblangen braunen Haare fielen ihr über die Stirn, und sie strich sie hinter die Ohren. Ihr Gesicht wirkte auf eine seltsame Art gleichzeitig verschlossen und offen. Mir fiel dafür nur ein altmodisches Wort ein: schelmisch. Sie trug einen viel zu großen olivgrünen Armeeparka mit einer fellbesetzten Kapuze. Als ich es schon fast nicht mehr erwartete, steckte sie ihr Handy in die Jackentasche, lächelte mich an, zeigte ihre weißen Zähne, und der ironische Ausdruck in ihrem Gesicht gewann die Oberhand. Ich fand sie sofort sympathisch.
»Ich bin auch Nachkriegsliteratur«, sagte sie und lachte ein wenig zu laut.
Ich stellte mich etwas zu förmlich vor (mit Nachnamen), und sie sagte, sie heiße Lea. Nach einer leicht peinlichen Gesprächspause betraten wir schließlich den Seminarraum.
Die Konferenz begann noch eintöniger, als ich es befürchtet hatte. Sogar der Vortrag über Bernhard zog sich zäh dahin, der Referent hatte offensichtlich nichts verstanden. Ein Schwaller, der schwallt. Ich dachte an Emrald, er hätte es hier keine zehn Sekunden ausgehalten und wahrscheinlich unter lauten Flüchen den Raum verlassen – und damit immerhin einen seiner Eklats erreicht.
Mein eigener Vortrag stand erst morgen an, und so döste ich vor mich hin. In der ersten Pause trank ich drei Tassen Kaffee, die mich kaum wacher werden ließen. Ich rief Johanna an.
»Was macht ihr?«, fragte ich.
»Ich räume auf. Brauchst du eigentlich noch diese komischen Figuren?«
»Jetzt geht das wieder los.«
»Star Wars? Hallo, das ist für Kinder.«
»Ich werde diese Diskussion nicht mehr führen, es ist eine intelligente politische Utopie.« Ich musste lachen. »Räum bitte nicht auf, wenn ich weg bin. Sonst schmeißt du bestimmt noch meine ganzen CDs weg.«
»Paul, niemand hört mehr CDs.«
»Ich schon.«
»Glaub mir, das ist mein Job. Alle downloaden nur noch. Oder streamen. Schon mal davon gehört?« Sie räusperte sich. »Wie ist es bei dir auf der Konferenz?«
»Das Übliche. Ich will nicht darüber reden. Die Konferenz zu erleben ist schon langweilig genug.«
»Robert ist jetzt doch bei Lars. Anscheinend haben sich Elke und Jon wieder zusammengerauft. Als ich ihn hingebracht habe, grinsten sie mich beide an, als würden sie bei einer Vorabendserie über junge, glückliche Pärchen mitspielen. Bald kaufen sie sich bestimmt einen Volvo und einen niedlichen Schäferhundwelpen und ziehen auf einen Bauernhof in Brandenburg. Das perfekte Familienglück. Man könnte glatt vergessen, dass mir Elke noch vor einer Woche erzählt hat, dass sie sich schon nach einer eigenen Wohnung umschaue. Gute Zeiten, schlechte Zeiten.«
»Ich wäre jetzt gern bei dir.«
»Schleimer.«
»Ich wäre jetzt überall lieber als hier.«
»Ich dachte schon, du wolltest mal was Nettes zu mir sagen.«
»Ich sage oft nette Sachen zu dir.«
»Dass ich ein wenig wie Prinzessin Leia aussehe?«
»Das habe ich nie gesagt! Außerdem ist das natürlich ein Kompliment. Und wir wollen doch nicht so werden wie Elke und Jon …«
»Da besteht keine Gefahr, Paul. Wir haben ja nicht mal das Geld für einen Volvo.«
»Ich muss dann mal wieder rein, es geht gleich weiter. Bis morgen.«
»Bring doch einen Hundewelpen mit!«
Ich lachte und legte auf. Die Konferenzteilnehmer strömten zurück in den Vorlesungssaal. Lea schien nicht unter ihnen zu sein, vielleicht wohnte sie in Leipzig und war längst nach Hause gegangen.
Der nächste Vortrag sollte von Martin Walsers späten Romanen handeln, ich hatte keinen von ihnen gelesen und würde es auch nicht tun, obwohl es für mein Doktorarbeitsthema natürlich relevant gewesen wäre.
Als Letzter betrat ich den Saal und setzte mich ganz nach hinten. Ich dachte an meine Schulzeit. Konnte man nicht schon damals die Guten von den Schlechten anhand ihres Sitzplatzes unterscheiden? Die Schlechten saßen selbstverständlich hinten, mit möglichst viel Distanz zwischen sich und dem Lehrer. Natürlich bewunderten alle die Coolen aus der letzten Reihe. Sie fuhren mit Mountainbikes zur Schule, rauchten in der Hofpause verstohlen Zigaretten und lasen Comics unter dem Tisch. Ich saß früher immer in der Mitte. Ich bin mir sicher, dass Johanna zu der Letzte-Bank-Riege gehört hatte, als einziges Mädchen.
Nach dem Walser-Vortrag stand ich etwas abseits auf dem Flur und pumpte an einer riesigen Kaffeekanne, aus der allerdings nur noch ein kümmerliches Rinnsal schwarzer Flüssigkeit tropfte. Einen letzten Vortrag musste ich noch überstehen. Danach konnte ich in meinem Hotelzimmer verschwinden, mich auf dem Bett ausstrecken, das wahrscheinlich nach Desinfektionsmittel riechen würde, und irgendeine Doku über den Ersten Weltkrieg oder die Eröffnung eines Wellnessresorts an der Ostsee ansehen.
»Die ist leer.«
Ich sah auf, Lea stand neben mir und deutete auf die Kaffeekanne, deren Pumpmechanismus ich immer noch stoisch bewegte, obwohl der Kaffeefluss längst versiegt war.
»Paul war dein Name, oder?«
Ich nickte und unterdrückte ein Gähnen, das anonyme Hotelzimmer immer noch vor meinem inneren Auge.
»Hältst du auch einen Vortrag?«, fragte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. Immerhin hörte ich auf, imaginären Kaffee zu pumpen.
»Nö.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin einfach nur so vorbeigekommen, um mich von meiner langweiligen Diss abzulenken.«
Jetzt drängten sich natürlich die Anschlussfragen auf: Über was schreibst du deine Doktorarbeit? Und warum findest du sie langweilig? Kann überhaupt etwas langweiliger sein als diese Konferenz? Doch ich kam nicht dazu. Eine Frau trat zu uns, nickte uns schlecht gelaunt zu, wuchtete die leeren Kannen auf ihren Wagen und verschwand wieder.
»Das war’s dann wohl mit Kaffee für heute.« Lea lachte. »Wovon handelt dein Vortrag?«
»Liebe«, antwortete ich und kam mir unfassbar bescheuert vor. »Also … Konzeptionen der Liebe in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur.«
Jetzt, wo es keinen Kaffee mehr gab, könnte ich ja fragen, ob wir nicht zusammen einen trinken gehen wollten, schoss es mir durch den Kopf, einfach so, doch Lea wandte sich schon ab.
»Der nächste Vortrag geht los«, sagte sie, zum Glück ohne auf mein Dissertationsthema einzugehen, und ging zurück zum Seminarraum. Ich blieb einfach stehen, mein Kopf völlig leer, gedankenlos. Nach ein paar Metern drehte sie sich um und schaute zu mir zurück. »Kommst du mit?«
»Ja, klar, ich komme«, sagte ich und folgte ihr.
Rituale beruhigten mich. Jeden Morgen der Weg zur Universität, mit der altehrwürdigen U3 durch Westberlin. Die monumentalen Bahnhöfe – Heidelberger Platz, Rüdesheimer Platz, Breitenbachplatz. Wie es oben aussah, was für Plätze sich hinter den Namen versteckten, ich hatte keine Ahnung. Manchmal, auf der Rückfahrt, überlegte ich, einfach auszusteigen, aber tat es nie.
Diese Routine, jeden Tag die gleiche Strecke zu fahren, manchmal sogar die gleichen Gesichter in der U-Bahn zu sehen, bereitete mir ein seltsames Hochgefühl, das ich mit nichts vergleichen konnte außer anderen Routinevorgängen: zum Briefkasten gehen, die Zeitung aufschlagen, der erste Schluck Kaffee morgens im Stehen, aus dem Küchenfenster blickend. Sogar so etwas wie die Schuhe parallel ausgerichtet neben der Wohnungstür anzuordnen, vermochte dieses sanfte Glücksgefühl auszulösen. Ich schämte mich für diese kleinen Freuden, obwohl es Johanna ähnlich ging, wie sie freimütig zugab. Wenn sie zum Beispiel jeden Morgen sorgfältig das Bett machte oder das Besteck im Geschirrspüler sortierte. »Ich komme mir schon fast vor wie meine Mutter«, sagte sie. »Deine Mutter ist eine esoterische Alt-Achtundsechzigerin und besitzt nicht mal einen Geschirrspüler«, antwortete ich.
Mein liebstes Ritual wurde der kurze Weg von der U-Bahn-Haltestelle zum Institut. Die Luft schien mir reiner, und es war stiller als in der Innenstadt, trotz der Studenten, denen man hier überall begegnete. Wenn man nur eine Querstraße von den üblichen Wegen abwich, fand man sich plötzlich allein zwischen scheinbar unbewohnten Villen wieder. Auf den Gehwegen sammelte sich im Herbst das Laub der hohen Bäume, die jede der kleinen Straßen säumten, und morgens roch es fast das ganze Jahr über nach feuchtem Gras.
An diesem Morgen in Leipzig, eingesperrt in ein viel zu kleines Zimmer eines Billighotels, sehnte ich mich nach meinen morgendlichen Ritualen, nach dem Blick aus dem Küchenfenster, dem Weg zur Uni.
Ich duschte in einer Art Plastikkabine, in der ein blaues Neonlicht ansprang, wenn man die Dusche anstellte. Das ganze Zimmer war nur mit unglaublich hässlichen, wahrscheinlich wahnsinnig energiesparenden Lichtquellen ausgestattet und verströmte die Atmosphäre einer Leichenhalle. Kaum erfrischt stieg ich wieder aus der Kabine und sah mir mein Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken an. Im unerbittlichen Licht der Energiesparlampen wirkte es noch fahler, als es ohnehin schon war. Weiß wie Wachs. Dieses Gesicht mir gegenüber im Spiegel passte überhaupt nicht in diese fremde Umgebung, in dieses Plastikbadezimmer. Als hätte jemand mit einem schlechten Graphikprogramm ein Foto von mir in eine Computerlandschaft versetzt. Und wann hatte ich eigentlich angefangen, graue Haare zu bekommen? Ich fand nicht viele, vielleicht vier oder fünf an jeder Schläfe. Immerhin verlor ich meine Haare noch nicht.
Der erste Vortrag (schon wieder Walser, wie ich entsetzt feststellte) sollte um Viertel nach acht beginnen, und als ich mich kurz vorher im Seminarraum einfand, sah ich Lea nirgendwo. Nur langsam füllte sich der Raum mit müden Konferenzteilnehmern, wie ich brachte jeder einen Pappbecher mit Kaffee mit. Niemand von diesen übernächtigten Zombies würde im normalen Arbeitsmarkt bestehen (und ich als Letzter).
Ich bemerkte sie erst, als sie sich direkt hinter mir auf einen Stuhl fallen ließ und ihren Pappbecher auf den Tisch knallte.
»Guten Morgen«, rief sie und wirkte viel wacher als alle anderen. Ihre Haare trug sie heute als Pferdeschwanz, ein riesiger Schal, den sie kunstvoll um ihren Hals arrangiert hatte, verdeckte fast ihr ganzes Gesicht. Den Parka hängte sie über ihre Stuhllehne.
»Danach bist du dran, oder?«
Ich nickte müde und nahm einen Schluck aus meinem Becher.
Der Vortrag über Walser ließ sich überraschenderweise furios an. Dieses Mal ging es um Ein fliehendes Pferd, das einzige Buch von ihm, das ich halbwegs erträglich fand.
Diese ganzen Bücher verschwommen zusehends. Ich konnte mich kaum noch an die Handlung erinnern, wenn ich ein Buch zu Ende gelesen hatte, schon gar nicht an den Anfang. Einmal begann ich aus Versehen ein Buch ein zweites Mal zu lesen, das ich vielleicht zwei Monaten vorher beendet hatte – es fiel mir erst nach hundertfünfzig Seiten auf. Also hatte ich beschlossen, einfach keine Bücher mehr zu lesen, beziehungsweise: Es war natürlich kein bewusster Entschluss gewesen – ich las einfach nicht mehr. Mein ganzes Leben lang hatte ich Bücher verschlungen, doch seit etwa einem Jahr rührte ich kein Buch mehr an. Ich wollte einfach keine Geschichten mehr hören. Ziemlich schlecht für einen Literaturwissenschaftler.
Der Vortrag handelte hauptsächlich von Liebe. Von sterbender Liebe. Mein Thema. Leider. Die alternden Pärchen am Bodensee, das verlogene Leben, der spießige Habitus, ich dachte an Elke und Jon – zu meiner Überraschung fand es der Vortragende allerdings gar nicht hoffnungslos. Das eine Paar fände einen Ausweg aus der peinlichen und festgefahrenen Situation, indem sie am Ende wieder miteinander reden würden. »Frei und wie gleichberechtigte Partner«, sagte er mit leuchtenden Augen. Beinahe hätte ich mich gemeldet und ihn darauf hingewiesen, dass das alles doch die immer gleichen, hilflosen Ausbruchsversuche seien, da gebe es ja wohl schon von Anfang an keine Hoffnung.
Der Referent schien tatsächlich begeistert von seinem Thema, er mochte dieses Buch wirklich und zitierte ständig irgendwelche Sätze Walsers, die er besonders treffend fand. »Man ist ja viel länger tot als lebendig«, zum Beispiel. Das hätte Emrald auch nicht besser sagen können. Leidenschaft für ein Thema findet man selten an der Uni. Dabei sah der Vortragende mit seiner blassen Haut und dem ausgebeulten Cordanzug wie ein Bilderbuch-Akademiker aus. Und mehr graue Haare als ich hatte er auch.
Ich war plötzlich viel wacher. Gespannt folgte ich den Ausführungen über den schrecklichen Walser und hätte mir beinahe sogar Notizen gemacht – wenn ich einen Stift dabeigehabt hätte. Ich spürte Leas Augen auf mir, auch wenn ich mich nicht traute, mich umzuschauen und ihren Blick zu erwidern. Falls sie mich überhaupt ansah. Ihre Gegenwart hatte mich wacher gemacht, als zwei Liter Kaffee es vermochten.
Der fünfundvierzigminütige Vortrag mit anschließender Fragerunde (Lea fragte nichts, ich natürlich auch nicht) verging wie im Flug, schon bedankte sich der Cord-Akademiker, und wir klopften anerkennend auf die Tische. Schließlich drehte ich mich doch zu ihr um, sie war bereits aufgestanden und wechselte ein paar Worte mit dem Referenten, sie schienen sich zu kennen. Sie verabschiedete sich schnell von ihm, wandte sich um und sah zu mir herunter, ich saß ja noch immer. Ruckartig stand ich auf – und plötzlich waren wir uns viel zu nah.
Wenn ich mich jetzt nach vorn beugte, hätte ich sie küssen können.
Warum dachte ich das?
Mir kam ein besonders schlimmer Satz aus dem Vortrag in den Sinn: »Jeder noch lebendige Mann will sich von seiner Frau trennen, nur Tote sind treu.«
Walser kotzte mich wirklich an.
Mein Vortrag sollte ebenfalls eine Dreiviertelstunde dauern, danach Fragen, wenn es welche gab – und es gab immer welche. Falls sich niemand von den Zuhörern meldete, improvisierte grundsätzlich einer der Organisatoren der Konferenz eine allgemeine Frage. Auch der Unibetrieb wird von Ritualen beherrscht.
Ich hielt den gleichen Vortrag wie immer, änderte bei jeder Konferenz nur den Titel, variierte die Reihenfolge und manchmal die besprochenen Texte. Ein Prinzip, das sich bei meinen Seminaren in Berlin bewährt hatte. Die Wiederholung brachte auch den Vorteil mit sich, dass ich gelassen und kompetent wirkte. Bloß nicht den Faden verlieren und anfangen zu stottern, sonst dachte jeder, man wäre schlecht vorbereitet oder noch schlimmer: dumm. Inhalte wurden überschätzt, denn, Emrald hatte es gesagt, es hört ohnehin keiner zu.
Heute lief mein Vortrag allerdings nicht ganz so rund. Ich versprach mich immer wieder und musste mich korrigieren, weil ich im Manuskript verrutschte. Fahrig manövrierte ich mich durch meine Argumentation, und als ich zum Ende kam, schielte ich zum ersten Mal auf mein Handy. Es war schon kurz vor zwölf. Gut, ich hatte aus dem Stegreif einen Exkurs zu Bernhards Holzfällen eingefügt, das ich gerade im Seminar besprach und das eigentlich überhaupt nichts mit meinem Thema zu tun hatte; aber das sollte eine Viertelstunde Überlänge verursacht haben?
»Tut mir leid«, stotterte ich und blickte auf die etwa dreißig anwesenden Zuhörer, weniger als gestern Nachmittag, das gleiche Phänomen bei jeder Konferenz: Am Morgen des zweiten Tages erscheint nur noch ein Bruchteil. Sie starrten mich apathisch an. »Gibt es noch Fragen?«
Murmeln setzte ein, und ich hoffte inständig, dass niemand meine Berechtigung, Holzfällen in einen Vortrag mit dem Titel Konzeptionen der Liebe aufzunehmen, kritisierte. Tatsächlich rang sich nicht einmal einer der Organisatoren zu einer Frage durch, vielleicht war gar keiner anwesend. Nach einem kurzen Blick in die Runde beendete ich die Sitzung.
»Schöner Vortrag.« Lea hatte ihren Parka bereits wieder angezogen, und wir verließen zusammen den Seminarraum. Zum ersten Mal stellte ich mir die Frage nach ihrem Alter. Ich hatte keinen blassen Schimmer. Irgendwann in den letzten zehn Jahren hatte ich jegliches Gefühl dafür verloren, ob jemand in meinem Alter war oder nicht.
»Ach, ich halte eigentlich immer den gleichen Vortrag, bis jetzt hat’s nur noch niemand gemerkt.«
Sie lachte zum Glück. »Immer noch müde?«, fragte sie. »Ich hab gesehen, dass es neuen Kaffee gibt.«
Auf dem Gang drängten sich schon sämtliche Zuhörer um zwei Kaffeekannen. Den Teller mit den billigen Keksen hatten sie bereits leer gegessen. Der Gedanke, hier zwischen den Leuten herumzustehen, die gerade meinen langweiligen Vortrag mehr oder weniger verfolgt hatten und mich womöglich sogar darauf ansprachen, ließ augenblicklich Panik in mir aufsteigen.
»Ich kenne ein nettes Café hier ganz in der Nähe«, erriet Lea meine Gedanken. Dankbar folgte ich ihr die Treppen hinunter zum Ausgang.
»Kommst du aus Leipzig?«, fragte ich sie, als wir den Campus hinter uns ließen und in eine schmale Straße einbogen. Ich verlor sofort die Orientierung.
»Nein, ich hab hier nur studiert. Ich will eigentlich auch weg. Jetzt habe ich mich erst mal für ein Stipendium woanders beworben.«
Ich nickte. Und vergaß zu fragen, wo dieses Woanders denn sei.
Wir erreichten ein winziges Café, in dem nur ein paar kleine Tische standen. »Mein Zufluchtsort vor den ganzen Unileuten.« Lea grinste.
Wir bestellten Kaffee und ein spätes Frühstück, und sie begann zu erzählen. Ich brauchte sie nicht zu ermuntern, sie legte einfach los. Während ich langsam einen Avocado-Bagel verdrückte und zwei Tassen Kaffee trank, rührte sie ihr Croissant nicht an und nippte nur hin und wieder an ihrem Tee, wenn sie gerade kurz Luft holte. Sie erzählte von den unzähligen Stunden, die sie in der Bibliothek beim Schreiben ihrer Doktorarbeit verbrachte. Und vom Überdruss, der sich inzwischen eingestellt hatte. K. schläft – Wach- und Schlafzustände im Werk Franz Kafkas, deklamierte sie den Titel ihrer Arbeit. So interessant konnte ein Diss-Thema also auch klingen, keine Ahnung, warum sie das langweilig fand.
Sie machte eine kurze Pause, um von ihrem Croissant abzubeißen. »Ich rede zu viel«, sagte sie mit vollem Mund.
Ich sah sie an, sie wirkte auch dann gut gelaunt, wenn sie gar nicht lächelte oder lachte.
»Ich mag, wenn Leute viel reden, dann muss ich nicht so viel sagen.«
»Wie du meinst.« Es schien unmöglich, sie aus dem Konzept zu bringen. Sie zog ihre Augenbrauen hoch und erzählte ungerührt weiter. Zuerst von ihrer anscheinend anstrengenden Mitbewohnerin, mit der sie schon fünf Jahre zusammenwohnte. »Mit zweiunddreißig sollte man doch langsam eine eigene Wohnung haben, aber das ist selbst in Leipzig einfach zu teuer, wenn man nichts ›Richtiges‹ arbeitet.« Ich war verblüfft, wie einfach sich die Altersfrage klärte. Die Jobaussichten seien für Geisteswissenschaftler hierzulande ja nicht gerade rosig, wie ich sicher wüsste – ich nickte beflissen –, sie hätte im Grunde keine Ahnung, wie es weitergehen solle, wenn ihr Doktoranden-Stipendium in drei Monaten auslief. »Vielleicht klappt wenigstens das New-York-Stipendium, aber das bringt mir auch nur ein paar Monate.« Und auch das hatte sich geklärt: Woanders bedeutete New York.
Sie nahm einen Schluck Tee, sah mich über den Rand der Tasse mit ihren grau-blauen Augen an und sprach dann noch von ihrer Heimatstadt Frankfurt (schlimm), Tanzen in Clubs (bei ihrem »hohen« Alter inzwischen peinlich), der Qualität der Croissants in diesem Café und im Allgemeinen in Deutschland (schlecht), ihrem Doktorvater (Arschloch, aber leider genial), Lou Reed (ebenfalls Arschloch und genial) und den Romanen Paul Austers (meistens gut, aber immer gleich).
Plötzlich verstummte sie und stellte mir eine Frage, die erste, seitdem wir hier saßen: »Wie lange bleibst du eigentlich in Leipzig?«
Ich antwortete nicht sofort, deswegen redete sie einfach weiter. »Wir müssen mal langsam zurück zur Uni. Fängt nicht gleich der Abschlussvortrag an?« Sie nahm einen riesigen, bunten Geldbeutel aus ihrer ebenfalls riesigen Tasche und begann wahllos Kleingeld auf dem Tisch zu verteilen. Dann sah sie mich wieder an und fuhr sich, vielleicht etwas verlegen, durch ihre Haare. »Wenn du willst, können wir uns heute Abend noch mal auf ein Bier treffen oder so?«
Wie zufällig berührte sie mit ihren Schuhen mein Schienbein unter dem Tisch. Ganz kurz nur, wahrscheinlich aus Versehen, doch ich war plötzlich wie elektrisiert. Lea interessierte mich. Und dieses Gefühl, dass mich jemand, den ich nicht kannte, interessierte, wirklich, ganz und vollkommen, das hatte ich schon lange nicht mehr erlebt. Ob es ihr auch so ging? Und wenn ja, warum?
»Ich fahre erst morgen zurück.«
Ich dachte nicht an Emrald und an mein Seminar morgen Vormittag, als ich das sagte. Ich dachte nicht an den Zug, den ich gebucht hatte und der in ein paar Stunden nach Berlin fuhr. Ich dachte nicht an Johanna. Genauso wie gestern, als ich Lea zum ersten Mal begegnet war, dachte ich einfach gar nichts.