Читать книгу Parallel leben - Sebastian Lehmann - Страница 11
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Wie jeden Morgen fuhr ich mit der U-Bahn zur Freien Universität, die am Stadtrand lag, tiefes Westberlin, eine Gegend, in die man sich kaum verirrte, wenn man nicht hier arbeitete oder studierte. Ich schlenderte zum Hauptgebäude, einem hässlichen, silbernen Raumschiff, in den fernen siebziger Jahren gelandet zwischen Gründerzeitvillen, schmucken Einfamilienhäusern und kleinen Parks. In einer knappen Stunde würde mein Seminar zur deutschen Nachkriegsliteratur beginnen, das ich jedes Semester anbot, den Titel variierte ich, die Inhalte blieben weitgehend dieselben. Bis jetzt hatte sich noch niemand beschwert.
Professor Emrald stand draußen vor dem unscheinbaren Eingang des Raumschiffs, das zum Großteil das Germanistik-Institut beherbergte, und rauchte einen Zigarillo. Er hatte vor ein paar Wochen verkündet, endlich damit aufzuhören, ich bemerkte jedoch keine Änderung. Er rauchte seine nach Vanille stinkenden Zigarillos einfach weiter. Wenn man ihn darauf ansprach – was ich natürlich nie getan hätte, doch Kollegen, mit denen ihn weniger verband, taten es manchmal – winkte er ab und sagte, es komme nur darauf an, was man sage, und nicht, was man tue. Die Kollegen lachten, weil sie dachten, er hätte einen seiner Scherze gemacht, aber ich wusste, dass er es ernst meinte.
Emrald glaubte nicht daran, dass Taten irgendwelche Konsequenzen nach sich zogen, wenn man nicht darüber redete. Also galt das ebenso umgekehrt: Wenn man lange genug über etwas sprach – dann trat es auch ein. Logik hielt er für überschätzt, er lebte sein Leben lieber, als schriebe er einen Roman. Und Romane sind selten logisch. Seinen Arzt, der ihm dringend nahegelegt hatte, endlich mit dem Rauchen aufzuhören, würde diese Argumentation natürlich kaum überzeugen, doch wie ich Emrald kannte, hatte er auch für ihn eine passende Erklärung parat.
»Ferber«, rief er, als er mich sah, »ich muss dringend mit Ihnen sprechen.«
Emrald musste fast jeden Tag »dringend« mit mir sprechen, selten war es wirklich von Bedeutung, unterhaltsam war es so gut wie immer. Ich lehnte mich an die Eingangstür und atmete den widerlichen Vanillegestank ein. Studenten strömten an uns vorbei, manche nickten Emrald zu, er ignorierte es, so gut es ging. »Verbrüdern Sie sich nie mit Ihren Studenten!«, lautete einer seiner häufigsten Ratschläge an mich.
»In Leipzig findet eine Konferenz statt, an der Sie teilnehmen werden«, brummte er zwischen zwei Zigarillo-Zügen.
Wenn ich eins hasste, dann Konferenzen. Den Uni-Alltag in Berlin meisterte ich routiniert, darin hatte ich Übung. Lehranstalten in anderen Städten funktionierten nach ihren eigenen Gesetzen, die ich nicht kannte und auch nicht kennenlernen wollte.
»Es handelt sich genau um Ihr Thema.«
»Was ist denn mein Thema?«
Emrald schnaubte verächtlich und blickte einer jungen Studentin nach, die sich lächelnd an mir vorbeidrängte.
Mit meiner Promotion ging es seit nunmehr zwei Jahren nicht mehr voran, und Emrald musste sich bei der Institutsleitung ganz schön ins Zeug legen, um meinen Mitarbeitervertrag Jahr für Jahr zu verlängern. Sein Einsatz war keinem Altruismus oder anderen sentimentalen Gefühlsregungen geschuldet, jedenfalls nicht nur. Schließlich entlastete ich ihn mit meinen Seminaren nicht unerheblich, wie er vor jedem Semester freimütig zugab: »Ein Seminar, das Sie geben, muss ich nicht geben, Ferber! Und jedes Seminar, das ich nicht gebe, ist ein gutes Seminar. Vielleicht nicht für die Studenten, aber für mich und die kosmischen Energiefelder dieser Universität!«
Mir machte das Unterrichten nichts aus, es lenkte mich von meiner Doktorarbeit ab. Ich glaubte nicht mehr an das Thema, über das ich schon fast vierhundert Seiten geschrieben hatte: Konzeptionen der Liebe in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Ich hatte genug von der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Und der andere Teil des Titels überzeugte mich ebenfalls nicht mehr.
»Sie werden nach Leipzig fahren, mein Lieber. Nächstes Wochenende. So etwas finden die einfältigen Bürokraten von der Institutsleitung immer gut.«
»Das ist selbst für Ihre Verhältnisse recht kurzfristig.«
»Ich schätze, ich hätte Ihnen das schon früher sagen sollen.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung und grinste mich jovial an. »Das habe ich wohl vergessen.«
»Nachkriegsliteratur, vermute ich?«
»Das volle Programm, Ost und West. Hört sich alles sehr langweilig an. Immerhin gibt es einen Beitrag über Thomas Bernhard. Sie müssen selbst nur einen kurzen Vortrag halten, das Übliche. Nehmen Sie einfach irgendein altes Kapitel aus Ihrer komischen Arbeit, hört sowieso keiner zu.«
»Nächstes Wochenende ist wirklich sehr schlecht«, murmelte ich, wohl wissend, dass ich aus dieser Nummer ohnehin nicht mehr rauskam.
»Vergessen Sie’s. Schenker hat Sie längst angemeldet.«
Schenker war Emralds Sekretär. Der einzige männliche Büroleiter an der ganzen Universität – behauptete Emrald. Schenker schien für den Posten als seine rechte Hand wie geschaffen, stoisch ertrug er noch den seltsamsten Arbeitsauftrag, nichts und niemand konnte ihn aus der Ruhe bringen. Von seinem Privatleben wusste ich nichts, ich bezweifelte, dass er eines hatte. Er fuhr jeden Tag als Letzter nach Hause, mit seinem scheckheftgepflegten Rennrad, und betrat morgens als Erster das Institut. Trotz seines gelben Fahrradhelms saß sein Scheitel immer perfekt. Ohne Schenker, das wusste jeder, konnte Professor Emrald nicht überleben. Er überwachte sogar seine privaten Finanzen und schrieb die Weihnachtskarten an seine drei Ex-Frauen.
»Eigentlich habe ich da schon andere Pläne, Familie und so«, startete ich einen letzten Versuch.
»Oho, der Herr hat Familie!«, rief Emrald aus. »Wenn Sie nicht nach Leipzig fahren, dann haben Sie bald eine Familie und keinen Job mehr, um sie zu ernähren, Ferber. Wenn es nach mir ginge, dann könnten Sie bis zur Pension an Ihrer sinnlosen Dissertation rumschreiben. Und noch länger! Leider sehen das hier nicht alle so.«
Er blies den Rauch theatralisch in die Luft und rollte mit den Augen. Mit der Unileitung stand er traditionell auf Kriegsfuß, Autorität vertrug Emrald nämlich ausgesprochen schlecht. Obwohl er selbstverständlich all seine Mitarbeiter autoritär behandelte, bisweilen sogar mich. Zum Beispiel gerade jetzt. Ein Widerspruch, der ihm natürlich bestens gefiel.
»Ich tue doch alles, um Sie glücklich zu machen.« Eine Familie schützte nicht mehr, inzwischen war eine Familie zu einem Druckmittel geworden.
Emrald drückte den Zigarillo mit spitzen Fingern im Aschenbecher aus, als würde er einen Käfer zerquetschen. »Ich habe jetzt eine Vorlesung zu halten. Wie immer bin ich nicht im Geringsten vorbereitet. Und wie immer wird es brillant werden.« Er lachte hustend oder hustete lachend, strich über seine zerknitterte Krawatte und verabschiedete sich in Richtung Vorlesungssaal.
Ich blieb noch eine Weile vor dem Raumschiff stehen und beobachtete die zu spät kommenden Studenten, die außer Atem die Steinstufen hinaufhasteten. Sie schienen von Jahr zu Jahr jünger zu werden, aber natürlich wusste ich, dass ich es war, der immer älter wurde.
Die Universität bedeutete für mich einen Ruheraum, ich fühlte mich wohl hier – in den muffigen Gängen, in der Bibliothek, in meinem winzigen Büro, das ich mir mit einem anderen Doktoranden teilte, der höchstens einmal im Monat vorbeischaute, um seine Post abzuholen, und ansonsten zu Hause bei seinen Eltern unterm Dach hauste, eine immer wilder wuchernde Arbeit über Robert Musil schreibend. Oder war es Rilke? Sie würde auf jeden Fall genial werden, und er verschlang ein Stipendium nach dem anderen.
Sogar in der meist nach Bratensoße oder verbrannten Kartoffelpuffern stinkenden Mensa aß ich gern, saß an den weißen, langen Tischen bei den Fenstern und sah hinaus auf die Studenten und Dozenten, die gelangweilt vorbeischlenderten. Auch nach fast fünfzehn Jahren hatte ich nicht ergründen können, warum alle Gerichte einen penetranten süßen Honiggeschmack aufwiesen. Schlechter Geschmacksverstärker, vermutete ich. In Restaurants wunderte ich mich immer, wenn dieser Honiggeschmack fehlte.
Ich hatte an dieser Universität studiert, als Hiwi ganze Bücher kopiert und arbeitete jetzt schon fast vier Jahre lang als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Ich war hier zu Hause.
Eine Studentin, maximal einundzwanzig, rannte direkt an mir vorbei. Ich kannte sie, sie hatte letztes Semester eines meiner Seminare besucht, jedenfalls sporadisch. Außer an Stiller von Max Frisch hatte sie keinerlei Interesse gezeigt. An ihren Namen konnte ich mich nicht mehr erinnern, nur an ihre kurzen blonden Haare.
»Ich bin nicht zu spät«, rief sie mir grinsend zu und verschwand im dunklen Gang. Aber ich, dachte ich und folgte ihr ins Gebäude.
Robert schlief schon, als ich nach Hause kam. Er war vor ein paar Wochen fünf geworden und durfte jetzt bis neun wach bleiben, was ihn mit niedlichem Stolz erfüllte, da die meisten seiner Freunde aus der Kita schon um acht ins Bett mussten. »Höchstens halb neun«, hatte er kürzlich verkündet. Mittwochs schaffte ich es trotzdem nicht rechtzeitig nach Hause, um ihn ins Bett zu bringen und noch ein wenig aus Jim Knopf vorzulesen. Mein zweites Seminar endete erst kurz vor acht, und danach saß ich meistens noch ein wenig mit Emrald in seinem Büro, so auch heute wieder. In einem Schrank neben seinem Schreibtisch bewahrte er einige stets gut gefüllte Flaschen Rum auf, und wir genehmigten uns zum Feierabend gern einen kleinen Schluck, den wir in den übrig gebliebenen Kaffee vom Nachmittag schütteten. Dazu hielt Emrald einen seiner Privatvorträge, die mindestens so unterhaltsam waren wie seine offiziellen Vorlesungen – die Themen waren allerdings weniger wissenschaftlich. Vorhin hatte er über die attraktive spanische Gastdozentin gesprochen, die in druckreifen Sätzen sprach, deutsch und englisch, ohne erkennbaren Akzent. »Vielleicht ist sie in Wirklichkeit gar keine Spanierin«, mutmaßte Emrald, »sondern spielt nur die Rolle einer Gastdozentin.« Jedenfalls sei sie literarisch erstaunlich gut informiert, besonders was Thomas Bernhard anginge. »Ich konnte es gar nicht glauben, der alte Österreicher wird sogar in Spanien gelesen.«
Bernhard war einer seiner liebsten Autoren. »In seiner Unehrlichkeit ehrlich«, pflegte er über ihn zu sagen. »Ein Schwaller, der nie schwallt.« Wie gesagt, Emrald liebte Paradoxien: »Wie wollen Sie sonst eine widersprüchliche Welt beschreiben? Hören Sie mir auf mit Vernunft und Dialektik!«
Johanna saß auf dem Sofa in unserem Wohnzimmer, den Laptop auf dem Schoß, kleine Kopfhörer steckten in ihren Ohren. Der Bildschirm tauchte ihr Gesicht in bläuliches Licht. Wenn sie mich bemerkt hatte, ließ sie sich nichts anmerken.
Sie arbeitete viel von zu Hause aus, auch spätabends noch, seit sie vor einem halben Jahr ihren neuen Job bei einem kleinen Berliner Hörbuchverlag begonnen hatte. Im Grunde war sie für alles zuständig: Sie suchte Bücher aus, die eingelesen werden sollten, sie lektorierte die Manuskripte und überwachte die Produktion. Es gab ein winziges Büro im Prenzlauer Berg, das sie ein- oder zweimal pro Woche aufsuchte, um sich mit der Chefin des Verlags, der einzigen anderen Festangestellten, zu besprechen. Den Rest der Zeit arbeitete sie in unserem Wohnzimmer oder stritt sich in Tonstudios mit uneinsichtigen Regisseuren und besserwisserischen Sprechern. Trotzdem schien sie zufrieden, auch wenn die Bezahlung selbstverständlich miserabel war. Nach ihrem Volontariat hatte sie sich jahrelang mit befristeten Stellen durchgeschlagen, die teilweise nur ein paar Monate dauerten. »Diese ganzen Artikel über die mobile und flexible Arbeitswelt, die sind alle über mich«, hatte sie kürzlich gesagt. Im Gegensatz dazu war mein Arbeitsplatz an der Universität fast schon komfortabel, auch wenn Emrald mich zwang, an langweiligen Konferenzen teilzunehmen.
»Arbeitest du noch?« Ich ließ mich neben Johanna aufs Sofa fallen. Sie lächelte mich an, nahm die Kopfhörer aus den Ohren und drehte den Bildschirm in meine Richtung. Eine Serie lief auf einer illegalen Seite. Johanna stoppte die Wiedergabe. Ein Mann und eine jüngere Frau standen eingefroren auf einem Steg, der ins Wasser führte, und sahen sich verliebt an, aber gleichzeitig auch ängstlich.
»Dann bin ich beruhigt«, sagte ich. »Sonst würde ich mich wieder schlecht fühlen, weil ich den ganzen Tag nichts Sinnvolles geschafft habe.«
»Immerhin hast du heute zwei Seminare gehalten.« Sie klappte den Laptop zu.
»Eben, nichts Sinnvolles. Ich höre mir schon selbst nicht mehr zu, wenn ich den Studenten zum hundertsten Mal das Gleiche über Max Frisch oder Martin Walser erzähle. Und sie mir natürlich ohnehin nicht.«
Sie strich mir über den Kopf. »Du armer, missverstandener Literaturwissenschaftler.«
»Ach, das wäre schön, missverstanden zu werden. Leider verstehen mich alle immer genau richtig. Ich bin einfach sehr leicht zu durchschauen. Deswegen werden sie auch an der Uni bald merken, dass ich meine Diss nie fertig schreiben werde.«
»Das stimmt nicht, nur ich verstehe dich richtig. Und du verstehst dich schon gar nicht selbst.« Sie starrte mich ernst an.
»Das verstehe ich nicht.«
Johanna rollte mit den Augen.
»Was für ein Hörbuch produziert ihr gerade?«, fragte ich.
»Es geht um einen Mittdreißiger, der in einer Werbeagentur arbeitet, unheimlich viel Sex hat und in einer Sinnkrise steckt, da er sein Leben für bedeutungslos hält. Er beschließt alles hinzuwerfen, in den Kongo zu reisen und seine wahre Bestimmung zu suchen. Leider wird er sofort von Rebellen als Geisel genommen und in einem Erdloch gequält, bis sich eine schüchterne, aber wunderschöne Rebellin in ihn verliebt und schließlich befreit. Sie fliehen in ihr Heimatdorf, tief im Dschungel, wo sie sieben Kinder bekommen und glücklich in Einklang mit der Natur leben.«
Ich blickte Johanna ungläubig an. »Das hast du dir doch gerade ausgedacht.«
»Ich bitte dich, das ist ein Bestseller in Frankreich. Wir haben ganz schön viel Geld für die Rechte hingeblättert.« Sie lachte, während ich weiter den Kopf schüttelte. Das kam häufig vor. Sie tischte mir dreiste Lügengeschichten auf, stets mit einer Unschuldsmiene, die ich nach fünf Jahren immer noch nicht recht deuten konnte. Meinte sie es ernst, oder wollte sie sich über mich lustig machen? Zu diesem Spiel gehörte auch, dass es keine Auflösung gab. Sie hielt so lange daran fest, bis ich es glaubte – oder eben nicht. Oder ich spielte einfach mit.
»Das will ich unbedingt hören, wenn es fertig ist.«
Sie nickte, stand auf und stellte sich ans Fenster. »Ich bin unendlich müde. Und morgen muss ich den ganzen Tag ins Studio.«
»Ich bin hellwach, ich habe gerade mit Emrald fünf Tassen Kaffee getrunken. Ich werde die ganze Nacht nicht schlafen können.«
Natürlich stimmte das nicht. Der Rum hatte mich viel müder gemacht als der Kaffee wach. Fünfzehn Jahre an der Uni – ich war im Grunde immun gegen Koffein. Wie immer würde ich kurz nach Johanna einschlafen, ihr gleichmäßiges Atmen strahlte solch eine Vertrautheit und Geborgenheit aus, dass ich allein kaum noch schlafen konnte.
Wir schlichen durch den Flur zu unserem Schlafzimmer, um Robert nicht aufzuwecken. Die alten Holzdielen knarrten trotzdem. Wir lugten durch den offenen Türspalt in sein Kinderzimmer. Man sah ihn kaum, so sehr hatte er sich in seine Decke gewickelt. Er schien nicht aufgewacht zu sein.
»Er kommt nach dir«, sagte ich, »schläft genauso fest und tief.«
Johanna nahm mich in den Arm, und wir beobachteten eine Weile, wie Robert ruhig in seinem Bett lag und schlief.
In diesem Moment war ich mir absolut sicher, dass mein Leben für immer so weitergehen würde.
In der Nacht lag ich wach. Das kannte ich schon, ich konnte zwar einschlafen, nach einer Stunde wachte ich jedoch wieder auf, unendlich müde, trotzdem nicht imstande wieder einzuschlafen. Ich starrte zur Decke, das gleichmäßige Atmen Johannas neben mir. Meine Arme und Beine fühlten sich von mir losgelöst an. Der Körper schien weiterzuschlafen, mein Kopf blieb wach.
Ich konnte mich nicht mehr an den Zeitpunkt erinnern, ab dem sich dieses Gefühl der Taubheit auszubreiten begann, das ich erst nur nachts gespürt hatte. Behutsam, aber unaufhaltsam strömte es durch mich, wie das Morphin, das ich einmal im Krankenhaus nach einer Operation durch eine Kanüle direkt in mein Blut geleitet bekam. Als würde sich alles immer langsamer bewegen, schließlich zum Stillstand kommen, und ich wäre dazu verurteilt, nur noch zu reagieren, oder besser: mich anzupassen an Gegebenheiten, die ich nicht beeinflussen konnte. Oft fand ich diese Vorstellung nicht einmal unangenehm, es bedeutete ja Berechenbarkeit und damit – Sicherheit.
Die Symptome hatten schon vor ein paar Jahren eingesetzt, das erste deutliche Anzeichen war wahrscheinlich das langsame Versiegen der Ideen für meine Dissertation gewesen. Noch ein paar Monate lang versuchte ich weiterzuschreiben, obwohl ich bereits ahnte, dass ich den Faden verloren hatte. Kapitel wurden zu Ruinen, Absätze zu Fragmenten, am Ende konnte ich nicht einmal mehr einen Satz zu Ende schreiben.
Kurz vorher war ich mit Johanna und Robert, ihrem Sohn aus einer anderen Beziehung, zusammengezogen. Hatte es damit zu tun? Das konnte ich mir nicht so recht vorstellen, denn ich fühlte mich wohl, ich war glücklich in unserer neuen, gemeinsamen Wohnung. Außerdem hatten wir auch schon davor fast jeden Tag zusammen verbracht.
Trotzdem verwirrte mich der Gedanke, dass dies nun mein Leben sein sollte, dass ich eine Entscheidung getroffen hatte, ohne sie wirklich zu treffen. Wie hatte ich mir meine Zukunft früher vorgestellt? Gar nicht, wenn ich ehrlich war. Wahrscheinlich dachte man mit siebzehn oder achtzehn einfach nicht weiter als ein halbes Jahr.
»Wenn man erwachsen wird, merkt man, dass man gar nicht erwachsen werden kann.« Emrald hatte das einmal gesagt. Paradox, ja. Aber gab es einen Ausweg? Konnte man sich, wie Kafka geschrieben hatte, »in die Büsche schlagen«? Lief nicht alles auf eine simple Frage hinaus (»Keine Angst vor der Banalität!«, höre ich Emrald rufen): Musste man sich immer entscheiden?
Ich sah zu Johanna, konzentrierte mich auf ihr gleichmäßiges Atmen und schlief schließlich wieder ein.