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»Wir haben uns von allem verabschiedet«, deklamierte Emrald und sah mir direkt in die Augen. Auf seinem frisch rasierten Gesicht erkannte ich eine winzige blutige Kruste. Wir saßen in seinem Büro, Freitagvormittag, die Uniwoche neigte sich dem Ende zu. Meine Reisetasche stand gepackt neben mir.

»Wer ist schon wieder dieses ›Wir‹, von dem Sie so selbstverständlich sprechen?«, unterbrach ich ihn.

Er wischte meine Frage mit einer energischen Handbewegung beiseite, die aussah, als wollte er irgendwem den Kopf abschlagen. »Die sich angesprochen fühlen, werden es schon merken.«

Ich nickte. Im Zweifelsfall war bei Emralds großen Reden vor allem ich angesprochen.

»Zum Beispiel Gott«, rief er viel zu laut, als wolle er die ihm verhassten Religionswissenschaftler drei Gänge weiter erschrecken. »Wir haben uns von den Heilsversprechen der Religionen verabschiedet, das hat schon Nietzsche bedauert – ich verwende hier mit Absicht das Wort ›bedauert‹: ›Gott ist tot‹ war kein Triumphgeheul, sondern ein Warnruf. Wir müssen etwas anderes finden, das uns Sinn spendet. Und kommen Sie mir nicht mit den islamistischen Extremisten, das sind auch nur Nihilisten. Nur wer an nichts glaubt, kann zum Massenmord aufrufen. Und die Mörder sind dann einfach nur verrückt.«

»Und was spendet Ihnen Sinn, großer Professor? Das Lehren an einer Universität?«

»Ferber! Halten Sie jetzt endlich den Mund, ich versuche hier einen Gedanken zu entwickeln! Können Sie dann gern in Ihren bescheuerten Seminaren zitieren.« Er grinste mich an und warf sich theatralisch seinen karierten Schal um den Hals. »Es zieht hier.«

»Die Kälte der existenziellen Leere weht durch Ihr Büro.«

Er verdrehte die Augen. »Was haben wir denn heute noch? Was lässt uns jeden Morgen aufstehen und die Absurdität des Daseins ertragen? Die Familie vielleicht?« Er machte eine Kunstpause. Ich entdeckte ein paar Bartstoppeln an seinem Hals. Das hätte er sich früher nicht durchgehen lassen.

»Wohl kaum!«, fuhr er fort. »Lassen sich doch alle scheiden, ich spreche da aus eigener Erfahrung, wie Sie wissen. Oder Solidarität? Und eine damit zusammenhängende wie auch immer geartete linke Utopie? Im Moment sieht es eher so aus, als würde der Nationalismus wieder aus den dunkelsten Ecken der Geschichte hervorkriechen.« Er schnaubte verächtlich. »Gemeinschaft ist nicht mehr gefragt. Gemeinschaft heißt jetzt Teamwork. Und Teamwork bedeutet gleichzeitig Konkurrenz. Wettkampf zwischen den Teams und innerhalb des Teams, denn heute übernehmen die Selbstverwirklicher und Selbstoptimierer das Kommando, man ist zum Unternehmer des eigenen Ichs geworden. Es zählt nur noch das Verkaufen, selbst unsere kleinen, dummen Studenten werden schon darauf getrimmt. Ihr seid allein auf dem großen Markt der Individuen, heißt es, macht euch bereit für den Wettbewerb, verbessert euch!«

Er hustete sein schepperndes Husten so laut, dass die Kaffeetassen im Regal leise klirrten. Ich dachte an das Wochenende, das bald anbrechen würde. Emralds Theorien schienen noch weiter entfernt von mir als sonst.

»Was haben wir dann noch? Was bleibt übrig, wenn alle Heilsversprechen, alle großen Erzählungen, die Sinn stiften könnten, dem kapitalistischen Realismus geopfert werden?«

»Die Liebe?«, fragte ich. »Das hat kürzlich zumindest eine meiner Studentinnen behauptet.«

Emrald sackte in sich zusammen, alle Energie schien aus ihm zu weichen. »Ach, Ferber.« Er goss einen Hauch Rum in unsere Tassen, schließlich war es noch vor zwölf, und wir stießen an.

»Ich muss los«, sagte ich dann.

Ich nahm meine Tasche und meine Jacke und öffnete die Bürotür. Emrald machte keine Anstalten aufzustehen und nach Hause zu fahren. »Sie bleiben noch?«

Er nickte. »Gehen Sie jetzt endlich! Sie werden erwartet, vermute ich.« Er wedelte mit beiden Händen, als wolle er mich verscheuchen.

Draußen vor dem speckigen Zugfenster flog die brandenburgische Einöde vorbei, weite, kahle Felder, manchmal ein See, selten ein Dorf mit kleinen Häuschen und verfallenen Plattenbauten. Unzählige Windräder bevölkerten beständig den Horizont. Manche drehten sich schnell, manche nur gemächlich, die meisten standen vollkommen still; wenn die Sonne durch ihre riesigen Rotoren schien, sah es sogar schön aus.

Ich blickte auf mein Handy. Nur etwas länger als eine Stunde würde die Fahrt dauern. Gerade als ich es wieder in die Tasche stecken wollte, rief Irene an. Schnell stellte ich den Ton ab und beobachtete, wie nach ein paar Sekunden der Schriftzug »Verpasster Anruf« aufleuchtete.

Wir erreichten unseren einzigen Halt, Lutherstadt Wittenberg, etwa in der Mitte der Strecke. Der Schaffner sagte es in krächzendem Sächsisch durch. Soweit ich es erkennen konnte, stieg niemand ein oder aus. Auf dem Bahnsteig saßen jugendliche Pärchen auf den Bänken und tranken Energydrinks aus bunten Dosen. Sie machten allerdings nicht den Eindruck, auf einen Zug zu warten, sondern einfach nur so, auf irgendwas, egal was, sie würden es wahrscheinlich nicht mal selbst erklären können.

Neben mir saß ein dicker Mann, wahrscheinlich in meinem Alter, auch wenn er viel älter wirkte (redete ich mir immerhin ein, er hatte eine Glatze), und starrte auf einen laut vor sich hin surrenden Laptop. Es lief ein brutaler Film oder irgendeine amerikanische Serie. Anscheinend ging es um Zombies und eine Gruppe Menschen, die, um sich vor den Monstern zu schützen, in ein altes Gefängnis flohen. Auch ohne Ton fiel mir die bittere Ironie dieser Konstellation auf: Die Menschen müssen sich selber einsperren, um Schutz zu finden. Der dicke Mann sah mich plötzlich misstrauisch an. Ich wandte mich ab und betrachtete wieder die Windräder. Nach einer Weile spürte ich erneut das Vibrieren in der Tasche. Dieses Mal ging ich ran.

»Ich bin im Zug, wahrscheinlich bricht gleich die Verbindung ab«, sagte ich zur Begrüßung. »Was gibt’s denn?«

»Wohin fährst du?«, fragte Irene, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Bist du allein unterwegs?«

»Ja. Ich fahre nach Leipzig.« Jetzt musste ich also auch meiner Schwester die Geschichte über die angebliche Kooperation der Universitäten erzählen. Sie nahm es kommentarlos hin.

»Ich wollte nur fragen, ob ihr weiterhin plant, nächstes Wochenende nach Hamburg zu kommen?«

Was wusste ich, was nächstes Wochenende sein würde? Letztes Wochenende hätte ich mir ja auch nicht ausmalen können, ein paar Tage später schon wieder in einem ICE nach Leipzig zu sitzen. Auf keinen Fall wollte ich über nächstes Wochenende nachdenken, nicht einmal über nächsten Montag. Ich hatte schon genug damit zu tun, damit klarzukommen, in einer halben Stunde Lea wiederzusehen.

»Kann ich dich nächste Woche anrufen? Weiß noch nicht, ob das klappt. Johanna und ich müssen viel arbeiten.«

Irene sagte nichts dazu, obwohl sie wusste, dass höchstens Johanna viel zu tun hatte.

»Paul, ist alles gut bei dir?« Natürlich merkte sie, dass ich mich nicht normal verhielt. Niemand kannte mich so gut wie sie.

»Klar. Die Verbindung ist nur so schlecht«, log ich. »Übrigens sehe ich andauernd Leute, die dein neues Buch lesen.«

»Hast du es denn gelesen?«

»Bin fast durch.«

»Natürlich. Dann kannst du mir ja nächstes Mal erzählen, wie du es fandest.«

Wir verabschiedeten uns, und ich widmete mich wieder der ereignislosen Landschaft und meiner Nervosität. Noch knapp zwanzig Minuten.

Ich suchte den Bahnsteig nach ihr ab und sah sie schließlich, wie sie ein paar Meter weiter ihrerseits nach mir Ausschau hielt. Meine Nervosität erreichte ihren Höhepunkt. Doch sie schien entspannt, als ich sie umarmte, und auf eine beruhigende Art gut gelaunt. Mein erster Gedanke: Nichts hatte sich verändert. Wir würden einfach da weitermachen, wo wir letzten Montagmorgen aufgehört hatten. Wir küssten uns gleich auf dem Bahnsteig.

Mit der Straßenbahn fuhren wir zu ihrer Wohnung. Als wir nach ein paar Stationen ausstiegen, liefen wir eine breite Allee hinunter, imposante Altbauten auf beiden Seiten, die meisten saniert, einige noch mit romantisch abbröckelnden Fassaden. Die Orientierung hatte ich sofort verloren, konnte nicht einmal mehr sagen, in welcher Richtung der Bahnhof lag. Schließlich blieben wir vor einem der sanierten Altbauten stehen, und in letzter Sekunde erkannte ich, wo wir waren – hier wohnte Lea. Wir stiegen die Treppen hinauf und küssten uns noch einmal, bevor sie die Tür aufschloss.

»Alice ist da«, flüsterte sie, als wir unsere Schuhe im Flur auszogen. Leas Mitbewohnerin, die ich vor einer Woche nicht getroffen hatte.

Doch die Wohnung lag ruhig, von Alice keine Spur. Wir setzten uns in die Küche und tranken Tee. Lea erzählte von ihrer Doktorarbeit und der Bewerbung für ihr Stipendium in New York. Es sah wohl so aus, dass sie es bekommen würde. Plötzlich schlug die Küchentür auf, und eine sehr große, sehr blonde Frau stürmte in die Küche.

»Aha«, rief sie viel zu laut, als sie mich entdeckte. »Der Neue! Ich bin die Alice.« Sie hatte eine raue, dunkle Stimme, die nicht so recht zu ihrem Körper passte. Obwohl, wenn ich einen Moment darüber nachdachte, eigentlich passte sie perfekt.

»Meine Mitbewohnerin Alice«, ergänzte Lea, gequält lächelnd.

Ich gab ihr die Hand und nannte meinen Namen, den sie schon zu kennen schien. Sie war wirklich sehr groß, größer als ich, ziemlich dünn noch dazu, ihre langen blonden Haare ließen ihr Gesicht fahler wirken, als es wahrscheinlich war. Sie grinste die ganze Zeit, aber vielleicht gehörte das auch einfach zu ihrem normalen Gesichtsausdruck. Trotzdem wirkte sie hinter ihrer penetrant guten Laune auf mich sofort traurig oder gar verbittert.

Sie machte sich ohne erkennbares Ziel an den Küchenschränken zu schaffen und redete dabei weiter auf mich ein: »Ich habe alle Bücher deiner Schwester gelesen. Total seltsam, dass ihr Bruder jetzt bei uns in der Küche sitzt.« Sie drehte sich zu uns um und lachte gekünstelt. »Du schreibst keine Bücher, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich lese nicht einmal welche, hätte ich beinahe gesagt, sie schien jedoch keine Antwort zu erwarten und wuchtete unter lautem Getöse einen riesigen Wok auf den Gasherd, befüllte einen Topf mit Wasser und stellte ihn daneben. »Ich glaube das einfach nicht! Irene Ferbers Bruder!«

»Alice ist Historikerin«, sagte Lea leise. Sofort nachdem Alice in der Küche aufgekreuzt war, hatte Lea eine Weinflasche geöffnet, sie trank bereits am zweiten Glas. Sie wirkte in Gegenwart von Alice viel ruhiger und verletzlicher. Sie trug wieder einen Pferdeschwanz und hatte ihren riesigen Schal auch in der Wohnung nicht abgelegt. Überhaupt schien sie immer sehr viele Kleider übereinanderzutragen, unter ihrem Anorak mindestens noch einen Kapuzenpulli, eine Strickjacke, ein Hemd und ein T-Shirt.

»Als Lea deinen Namen sagte, da klingelte es sofort bei mir. Hallo, Irene Ferber! Die kennt man, die ist berühmt. Übrigens: Wollt ihr was essen?«

Ich sah zu Lea, sie rollte mit den Augen und schnitt sich mit der Hand symbolisch den Hals durch. Alice wirbelte auf einmal herum und grinste uns breit an, Lea fuhr erschrocken zusammen. Alice’ Präsenz war wirklich umwerfend. Alle Dinge in der Küche schienen sich ihr zuzuneigen, sie füllte den Raum vollkommen aus, und wir wurden an den Rand gedrängt.

»Ich versteh schon«, rief sie mit ihrer erstaunlichen Stimme. »Ihr wollt lieber unter euch bleiben.« Sie zwinkerte uns zu.

Lea stand auf und rief nur: »Alice!«

Es dämmerte bereits, als wir die Wohnung wieder verließen. Wir hatten einen geheimen, nicht ausgesprochenen Pakt geschlossen, Leas Zimmer erst einmal zu meiden. Und damit auch ihr Bett.

»Ich habe Alice nichts erzählt, sie findet alles einfach heraus. Ich kann eigentlich immer nur bestätigen, was sie ohnehin schon weiß«, entschuldigte sich Lea.

Wir aßen in einem kleinen arabischen Imbiss, in dem laut die neuesten Charthits liefen. Auf dem Bildschirm hinter der Theke war dazu ein ausländischer Musiksender zu sehen, allerdings stumm gestaltet, trotzdem schienen die bunten Videoclips perfekt zu den Hits zu passen. Wir berührten uns ständig, beiläufig am Arm, oder unsere Schuhe unterm Tisch verhakten sich wie zufällig. Dunkel konnte ich mich erinnern, wie wichtig und intensiv es sich früher angefühlt hatte, wenn man jemand Neues kennenlernte. Die ersten Abende und Nächte zusammen, dieser Taumel, permanentes Glücksgefühl. Natürlich war es auch mit Johanna so gewesen … Doch das ging alles so schnell vorbei, und man lernte mit den Jahren, dass andere Dinge viel mehr zählten, und fand es lächerlich, wenn jemand im Bekanntenkreis das Verliebtsein wiederentdeckte. Diese anderen Dinge, die mehr zählten, ich dachte kurz darüber nach, ohne auf ein gutes Beispiel zu kommen. Vertrauen. Ja, bestimmt, doch ich vertraute auch Lea, obwohl ich sie ja gar nicht kannte. Geborgenheit. Aber ich fühlte mich auch an der Uni in meinem Büro geborgen oder bei Irene in ihrer düsteren Hamburger Wohnung.

Unsere jugendliche Albernheit war uns durchaus bewusst, wir redeten sogar darüber. »Wie Teenies«, rief Lea, als wir nach dem Essen händchenhaltend durch die inzwischen dunklen Straßen schlenderten, ziellos, und immer wieder anhielten, um uns zu küssen. Manchmal sahen wir uns aber auch nur schweigend an, bis einer von uns die Stille durchbrach. Lea lachte viel und immer zu laut, aber es störte mich nicht. Wir redeten über Bücher, und ich vergaß meinen Unwillen fast. Plötzlich konnte ich wieder begeistert über Jonathan Franzen und sogar Max Frisch reden.

»Lass uns noch in die Kneipe da vorne gehen«, schlug ich vor, als es uns draußen langsam zu kalt wurde. Ich zeigte auf eine schäbige Eckkneipe. Auf einmal hatte ich Lust, Dinge zu tun, die ich in Berlin nie machte. Wir bestellten Wodkashots beim dicken, bärtigen Barkeeper, der uns misstrauisch beäugte, ebenso seine einzigen beiden Gäste, komplett in Beige gekleidet, die mit halb leeren Biergläsern vor sich müde auf Barhockern hingen, als gehörten sie zum Inventar.

Wir tranken den Wodka stehend an der Theke. Betrunken fühlte ich mich nicht, Lea schien ohnehin sehr viel mehr Alkohol zu vertragen als ich, das hatte ich schon letztes Wochenende festgestellt. Ich schnorrte mir sogar eine Zigarette bei einem der Trinker neben uns. Er drehte sie gewissenhaft und reichte sie mir fast feierlich. Der freundliche Barkeeper stellte uns ungefragt neuen Wodka vor die Nase und zwinkerte mir verschwörerisch zu. Beim Rauchen wurde mir angenehm schwindlig, und Lea lachte darüber, wie ich die Zigarette vorsichtig zwischen den Fingern balancierte.

Wir setzten uns an einen speckigen Holztisch unter dem mit Fußballwimpeln behängten Fenster.

»Warst du schon mal in New York?«, fragte sie und zog sich einen ihrer Pullover aus.

Parallel leben

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