Читать книгу Kalt ist die Welt - Selina Lux - Страница 10

Stadtratten

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Roman begleitete mich nach draußen, wo es bereits dunkel geworden war. „Bist ein guter Lügner. Du hast keinen blassen Schimmer, wie es mit dir weitergehen soll, richtig?“

Wieder knirschten die Kiesel unter meinen Sohlen. Spottend. „Nicht wirklich.“ Ja, ich hatte Leana von jeher gepredigt, dass wir ehrlich zueinander sein mussten, wollten wir es gegen den Rest der Welt aufnehmen. Manchmal jedoch brachte ich es einfach nicht übers Herz, ihr die kalte Wahrheit ins Gesicht zu schleudern. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte. Sie sollte sich auf ihre neue Arbeit konzentrieren.

Roman lief hinter mir. „Tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte, Junge.“

Ich hielt ihm die Gartentür auf. „Das ist nicht schlimm. Die Hauptsache ist, dass Leana ein Dach über dem Kopf hat.“

„Ja“, erwiderte er gedankenverloren. Vermutlich dachte er wieder an sein eigenes kleines Mädchen.

Die Gartentür fiel hart hinter mir ins Schloss.

„Danke“, sagte ich voll Aufrichtigkeit und er nickte mir zu.

Roman ging nach rechts, also ging ich nach links, auch wenn ich nicht wusste, wohin mich meine Füße tragen würden. Ich war erleichtert, Leana in Sicherheit zu wissen, andererseits war ich auch verzweifelt, wenn ich an meine eigene nahe Zukunft dachte. Ich hatte keine Arbeit und keinen Ort, an dem ich mich vor dem hereinbrechenden Winter schützen konnte. Nur eine Handvoll Silbermünzen, die schon bald ausgegeben sein würden. Wohin sollte ich gehen? Wo würde ich die kommende Nacht schlafen? Wie um meine Ängste zu schüren, fuhr ein eisiger Wind durch meine Kleider und ließ mich erschaudern.

Es war furchtbar, nicht zu wissen, wohin man ging. Ich fror schon jetzt, wie sollte es erst im Verlauf der Nacht werden? In all den anderen beständig kälter werdenden Winternächten? Erfrierungen waren keine schöne Sache. Überhaupt war der Winter keine schöne Jahreszeit. Während er den Reichen Schneemänner, weiße Wunderlandschaften und gefrorene Seen zum Schlittschuhlaufen brachte, schenkte er den Armen nur Kälte, Hunger und Tod.

Wie sehnte ich mich nach einem ewigen Sommer! Ich hatte schon von Ländern gehört, in denen es nie Winter wurde, konnte mir aber nicht so recht vorstellen, dass sie wirklich existierten. Vielleicht waren sie nur die sehnsuchtsvollen Fantasien der Frierenden.

Ich musste mir überlegen, wie ich die kommende Nacht überstehen wollte. Geld hatte ich, allerdings nicht genug, um mich langfristig über die Runden zu bringen, und auf einen weiteren Glücksgriff in die Tasche eines Fremden konnte ich mich nicht verlassen. Ich konnte mir heute vielleicht ein kleines Zimmer in einem Wirtshaus leisten, sicher, und auch etwas zu essen, aber das würde den Winter nicht aufhalten, wenn das Geld fort war und ich wieder verloren auf den Straßen der Stadt umherirrte. Nein, ich musste langfristig planen, wollte ich meine jämmerliche Lebenssituation einigermaßen heil überstehen.

Ich hörte die Kirchturmuhr sechsmal schlagen. „Zeit fürs Abendbrot“, dachte ich bitter und musste beinahe lachen. Kaum zu glauben, dass mir das Heimleben auf einmal komfortabel erschien.

Die Decke fest um meinen Leib geschlungen und zitternd, lief ich eine der zwei großen Hauptstraßen entlang, die es in Felsburg gab und die von Laternen gesäumt waren. Es tat gut, ein wenig Licht in der Kälte zu haben und sich auszumalen, dass dieses die Umgebung ein klein wenig erwärmte. Ich begegnete kaum einem Menschen, und wenn, dann eilten sie an mir vorüber, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, als existierte ich gar nicht. Nicht nur war ich allein, ich war zu allem Überfluss auch noch unsichtbar geworden.

Zu meiner Linken und Rechten reihten sich Läden aneinander, die meisten waren bereits geschlossen oder gerade dabei zu schließen. Schuhläden, eine Bäckerei, ein Möbel- und Teppichladen, ein Zeitungsstand.

Vor einem Schaufenster blieb ich stehen. Durch das Glas war eine kopflose Holzpuppe zu sehen, die einen Mantel aus dicken Fellen trug. Ich legte meine Hand an das kalte Glas und versuchte mir vorzustellen, wie es sein musste, diesen jetzt zu tragen. Ich scheiterte. Er musste ein Vermögen kosten. Ich seufzte und ging weiter.

Was Leana wohl gerade machte? Den Boden einer feinen Küche schrubben? Delikate Speisen auf einem Silbertablett servieren? Woher hatte sie gewusst, worauf man zu achten hatte, wenn man jemanden bediente? Denn dass sie auf die Probe gestellt worden war und bestanden hatte, das hatte ich an Ernestines verdattertem Gesichtsausdruck erkannt. Im Waisenhaus war uns nur beigebracht worden, die Hände vor dem Essen zu waschen und wie man Messer und Gabel zu halten hatte, ohne dabei seinen Sitznachbarn zu massakrieren. Nicht aber, wie man wohlhabende Hexen bediente. Leana musste aus dem Kern stammen, ob nun als Tochter einer Bediensteten oder einer reichen Familie. Wie aber hatte sie dann ihren bedauernswerten Weg hinab in das düsterste Loch im Ring gefunden, das sich Waisenhaus nannte? Es brannte mir unter den Nägeln, mehr über ihre Vergangenheit herauszufinden, und doch würde ich sie nicht fragen können. Ich wollte ihr nicht wehtun.

Ich dachte an meine eigene Vergangenheit. Kein Gedanke zum Aufwärmen. Das Gesicht einer jungen Frau blitzte vor meinem geistigen Auge auf. Wie konnte etwas, das so lange zurücklag, noch so sehr schmerzen? Ich schluckte schwer und verdrängte meine traurigen Erinnerungen, indem ich mich auf meine Umgebung konzentrierte.

Die Hauptstraße hatte ich nun hinter mir gelassen und eilte zügigen Schrittes eine schmalere, unbeleuchtete Gasse entlang. Der Himmel über mir war mit unbarmherzigen Wolken bedeckt und weder Mond noch Sterne konnten mir so ihr Licht senden, das ich gut hätte gebrauchen können. Es war stockfinster und meine Augen gewöhnten sich nur langsam daran. Immer wieder stolperte ich über lose Steine in der Straße und fluchte leise. Flüche hatten im Waisenhaus Prügel nach sich gezogen. Ich war oft geprügelt worden.

Schließlich fand ich meinen Weg durch die Dunkelheit und hielt mich nun in unmittelbarer Nähe zur Stadtmauer auf, die sich wie ein dunkler Riese vor mir in den Himmel erhob. Die Tore waren sicher längst geschlossen worden, doch ich hatte ohnehin nicht im Sinn, in den Ring zurückzukehren. Es war besser, arm zwischen den Reichen zu sein als zwischen den Armen. Wie eine Taube, die auf herabfallende Brotkrumen wartete. Oder wohl eher eine Ratte, denn Davonfliegen war mir nicht vergönnt.

Im Angesicht der Nacht konnte ich noch immer nicht viel erkennen, doch ich wusste von früheren Besuchen des Kerns, dass die Gebäude kleiner und unscheinbarer wurden, je näher man der Mauer kam. Es war schon eine ganze Weile her, seit ich das letzte Mal in dieser Gegend gewesen war, doch ich konnte mich an einen bestimmten Laden erinnern, der damals meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Ich wusste nicht, ob es ihn überhaupt noch gab oder ob ich ihn wiederfinden würde, doch nun hatte ich ein Ziel für meine Füße, und auch wenn das nur ein kleiner Trost war, so tat es doch unwahrscheinlich gut. Augenblicklich bewegten sie sich zügiger über den gefrorenen Boden, ja, fast schon eifrig. Ich war so verzweifelt darauf aus, einen Plan zu haben, wie ich es Leana vorgegaukelt hatte, dass ich beinahe froh war zu wissen, was als Nächstes kam. Oder es zumindest zu hoffen.

Ich weiß nicht, ob es am Ende Glück, Zufall oder die Eifrigkeit eines Verzweifelten war, die mich den Laden schließlich in einem entlegenen Winkel der Stadt finden ließ. Ich war unglaublich erleichtert, als ich endlich vor dem zerkratzten Schaufenster stand, als hinge mein Leben von seinem Bestand ab. Nun, vielleicht war dem auch so.

Mich interessierte nicht der Krimskrams, der dort vor meinen Augen aufgetürmt war und mir den Blick hinein beinahe vollständig mit heilloser Unordnung versperrte. Aber vielleicht das, was sich dahinter verbarg.

Mein Herz pochte schneller und ich lächelte fast, denn es brannte noch Licht im Ladenbereich. Beinahe war ich wieder guter Dinge. Als ich jedoch an die Tür trat, sank meine Hoffnung bodentief, denn ein Geschlossen-Schild hing daran. Ich konnte zwar nicht lesen, doch erkannte ich den Unterschied zum Geöffnet-Schild am Schwung der letzten Buchstaben. Ich war zu spät.

In hässlichen Wölkchen wurde mein Atem im Schein des Lichtes sichtbar, als wollte er mich verhöhnen. „Du wirst erfrieren“, schien er zu wispern. „Vielleicht nicht heute, aber du wirst es, allein hier draußen.“

„Oh nein“, murmelte ich trotzig und begann wie ein Wilder, mit den Fäusten gegen die Tür zu hämmern. Ich musste dort hinein, jetzt sofort, und mein Schicksal den nach mir ausgestreckten Klauen des Winters entreißen. Und mochten sich mir noch so viele Geschlossen-Schilder in den Weg stellen!

Ich hielt inne und wartete auf eine Reaktion auf den unangebrachten Lärm.

Nichts. Stille.

Hatte mich der Ladenbesitzer nicht gehört? War er taub? Ich klopfte noch einmal, dieses Mal jedoch züchtiger.

Wartete wieder.

Nichts.

Aber da war Licht! Da musste noch jemand im Laden sein. Oder hatte man schlicht und ergreifend vergessen, es zu löschen, und ich stand hier und schlug mir ganz umsonst die Handknöchel wund?

„Hallo?“, rief ich. War da ein Geräusch hinter dem Holz oder bildete ich es mir nur ein, weil ich fror und es mir wünschte? Ich lauschte angestrengt, doch was auch immer meine Ohren wahrgenommen hatten, es war wieder still. Wütende Enttäuschung ergriff Besitz von mir und ich sank an der Tür hinab zu Boden.

Ich könnte am nächsten Tag wieder hierherkommen und erneut mein Glück versuchen. Aber das hieße, eine ganze Nacht in der Kälte ausharren ...

Ich könnte das Schaufenster mit einem großen Stein einwerfen, um so in den Laden zu gelangen, aber dafür war es noch nicht spät genug. Ich könnte gesehen und festgenommen werden. Dazu kam, dass ich noch nie irgendwo eingebrochen war, wenn man meinen unerlaubten Einstieg in die Hütte im Ring nicht zählte.

Im Ring gestaltete sich ein solches Unterfangen leichter. Doch hier im Kern waren die Häuser besser geschützt und man lief Gefahr, von einem der Nachtwächter festgenommen zu werden, welche die Stadt abliefen, sobald es dunkel wurde. Wenn mir jedoch nichts anderes übrig blieb, würde ich wohl zu solchen Mitteln greifen müssen. Ich würde warten, bis es spät in der Nacht war und ich nicht mehr Gefahr lief, von Passanten gestört zu werden. Schon bei dem Gedanken daran begann mein Herz schneller zu pochen. Ein Taschendieb musste nur schnell und einigermaßen geschickt sein, ein Einbruch hingegen benötigte sorgfältige Planung, wollte man auf der sicheren Seite sein. Zeit dafür hatte ich allerdings nicht.

Ich musste an Leana denken, die Diebstahl verabscheute. „Aber was bleibt mir denn anderes übrig? Erfrieren?“, dachte ich, wie um mich vor ihr zu rechtfertigen, als wäre sie noch bei mir. Nein, ich hatte nicht das Waisenhaus überstanden, nur um demnächst in irgendeiner einsamen Straße zwischen den Villen steinreicher Leute den Löffel abzugeben.

Nein, ich würde warten.

Ich zog die Decke fester um mich und machte es mir gemütlich. Gemütlich. Ich musste beinahe lachen. Die Kälte der steinernen Stufe, auf der ich saß, kroch an mir hinauf wie eine widerliche Spinne auf der Jagd nach Beute und das Holz der Tür drückte hart gegen meinen Rücken. Wo war die Gleichgültigkeit gegenüber meiner eigenen Existenz geblieben? Wie hatte ich auch nur einen Herzschlag lang der Überzeugung sein können, dass ich problemlos auf den Straßen überleben würde, wo ich doch bisher nur im Frühling und Sommer von dieser Art der Freiheit gekostet hatte? Wie leichtgläubig ich doch gewesen war! Meine zweite Nacht hier draußen hatte noch nicht einmal richtig begonnen und schon verzweifelte ich an der Kälte. Wie einfach war es doch, kühn und mutig zu sein, solange man sich nicht in jener Situation befand, von der man dachte, man könnte sie meistern.

Mein Magen knurrte und mein Kopf schmerzte davon, dass ich zu wenig getrunken hatte. Und müde war ich auch. Ich schloss die Augen.

In diesem Moment drehte sich ein Schlüssel im Schloss und die Tür wurde aufgerissen. Erschrocken verlor ich das Gleichgewicht und fiel buchstäblich mit dem Rücken voran in den Laden hinein, wo mir ein Schwall warmer Luft entgegenschlug.

„Wer klopft da so wild gegen meine Tür? Und wer tritt da unerlaubt über die Schwelle meines bereits geschlossenen Ladens?“, fragte eine laute, harsche Stimme.

Wie ein umgekippter Käfer rollte ich mich schwerfällig auf den Bauch, stützte meine Hände auf den Holzdielen ab und rappelte mich auf. Vor mir stand ein kleiner, hagerer Mann mit weißem, langem Ziegenbart und einer winzigen Brille auf der Nasenspitze. Er trug ein weißes Hemd und darüber eine schwarze Weste, die selbst im schwachen Schein der Beleuchtung aus dem Hinterzimmer abgetragen und alt wirkte. Böse sah er mich aus zusammengekniffenen Augen an.

Das konnte ich auch. Ohne den Blick von ihm abzuwenden, klopfte ich den Staub aus meiner Decke, die mir von den Schultern gerutscht war, als würde das etwas nützen. „Sie meinen, wer hat da vor einer guten Viertelstunde wild gegen Ihre Tür geklopft und ist in Ihren bereits geschlossenen Laden gefallen, nachdem Sie ihn so elegant geöffnet haben?“ Waise hin oder her, auf den Mund gefallen war ich nicht. Und wenn es das einzige Nützliche war, das ich mir über die Jahre hinweg angeeignet hatte.

„Gesindel können wir hier nicht gebrauchen!“, rief er, gab mir einen leichten Stoß gegen den Brustkorb und wollte mir die Tür vor der Nase zuschlagen. Schnell schob ich meinen Fuß zwischen Tür und Rahmen und fluchte laut, als dieser eingequetscht wurde. Der alte Mann hatte einen energischeren Schwung drauf, als ich angenommen hatte. Wütende Augen blinzelten mich über den Brillenrand hinweg an.

„Aber, aber“, sagte ich, „wer redet denn von Gesindel?“ Meine Mundwinkel zogen sich auseinander und entblößten meine Zähne. Für ein richtiges Lächeln reichte es heute nicht mehr, aber der gute Wille zählte.

„Was willst du?“, knurrte er und zog die Tür einen Spalt weiter auf.

„Das, was Leute gewöhnlich in Läden wollen.“

„Du meinst stehlen? Denn dass du kein Geld hast, kann ein Blinder mit Augenbinde sehen.“ Er zupfte am Saum meiner löchrigen Decke, wie um seine Aussage zu bekräftigen.

Ich rollte sie zusammen. Schelmisch grinste ich ihn an. „Wollen wir das Sehen doch den Sehenden überlassen.“ Ich zog den gestohlenen Geldbeutel hervor, öffnete ihn weit genug, um seinen Inhalt im Lichtstrahl glitzern zu lassen, und hielt ihn ihm unter die gekrümmte Nase.

Die kleinen Augen wurden groß und er begann, nach links und rechts die Straße entlangzuschauen. Dann zog er mich schwungvoll in den Laden hinein und schloss hinter uns ab. Wärme umfing mich und ich seufzte leise. Ich fühlte mich wie ein großes Stück Eis, das man in die Sonne gelegt hatte. Es würde dauern, bis die Kälte ganz aus meinen Gliedern gewichen war, aber zweifelsohne fühlte es sich gut an.

„Dass das nicht dein hart verdientes Geld ist, weiß ich von selbst. Ich will gar nicht erst fragen, wie du da drangekommen bist.“

Staunend blickte ich mich im Laden um, während ich weiter hineinlief, dem warmen Licht aus dem Hinterzimmer entgegen. Die zusammengerollte Decke legte ich achtlos auf einem Stapel Bücher an der Wand ab. Der Duft von Hagebuttentee hing in der Luft.

Die verschiedensten Gegenstände stapelten sich in Haufen und Türmen bis an die Decke und ich hatte im Vorübergehen Angst, gegen einen davon zu stoßen und ihn zu Fall zu bringen. Da war ein Regal voll mit altem Geschirr und Besteck, Kerzenleuchter, aufeinandergestapelte Tierfallen, Tücher und Vorhänge in verblassten Farben, Brettspiele, Petroleumlampen mit Sprung, Flöten und Zupfinstrumente, aus Holz geschnitzte Tierfiguren, große und kleine Bilderrahmen, Bücher mit vergilbten Seiten – und das war nur ein Bruchteil dessen, was mich umgab.

Ich wandte mich wieder dem kleinen Mann, dem Trödelhändler, zu, der mich auf Schritt und Tritt verfolgte. „Wenn Sie mich klopfen gehört haben, warum haben Sie erst jetzt die Tür geöffnet?“

Stolz reckte er das Kinn in die Höhe. „Um dich Geduld zu lehren! Glaubst wohl, ich eile, wenn mir jemand fast die Tür einschlägt? Oho, nein, einen Tee habe ich mir stattdessen aufgesetzt.“

Ich konnte nicht anders, mein Mund verzog sich von ganz allein zu einem erleichterten Lächeln. Ich war so froh, dass sich das Männchen dazu entschieden hatte, trotz der späten Stunde zu öffnen und sich von seiner Habgier leiten zu lassen. Und ein für den Kern ärmlicher Trödler wie er stellte keine Fragen über verdächtige Geldsummen, so wie ich es mir gedacht hatte. Genau deshalb war ich hergekommen. „Haben Sie auch Mäntel?“, wollte ich wissen.

Der Verkäufer schenkte mir einen herausfordernden Blick. „Die Frage, mein Junge, lautet nicht ob, sondern wo. Hier entlang.“ Er führte mich durch das Labyrinth des Trödelwirrwarrs.

„Machen Sie das oft?“, fragte ich.

„Was denn?“

„Lärmende Jugendliche nach Ladenschluss einlassen?“

Er schenkte mir einen flüchtigen Schulterblick, bevor er sich durch ein herabhängendes Fischernetz kämpfte. „Wenn sie das nötige Kleingeld dabeihaben. Wie man so schön sagt: Geld öffnet Türen. Manchmal eben auch wortwörtlich.“ Dann tauschten wir die Rollen, ich verfing mich im Netz und er stellte eine Frage: „Du lebst noch nicht sehr lange im Kern, oder?“

„Nein. Ist mein erster Tag heute. Ich wohne in der Villa am Ende der Straße.“

„Ja, ja, Junge, mach du nur deine Scherze. Wenn es anfängt zu schneien, wird dir das Lachen noch früh genug vergehen. Tust gut daran, nach Mänteln zu schauen.“

Das Netz war überwunden, ich pflückte ein paar alte Fischschuppen aus meinem Haar und fand mich vor einem Kleiderständer wieder, an dem Jacken, Hemden und Mäntel in mehreren Schichten übereinanderhingen.

„Staubfänger“, murmelte er leise. „Welche Farbe bevorzugt der feine Herr?“, fragte er mich, die Hand bereits ausgestreckt, um sofort nach dem Stoff meiner Wahl zu greifen.

Ich ließ meinen Blick über die Kleidungsstücke schweifen. Grau, braun, blassblau. Es hätte mir nicht gleichgültiger sein können.

„Die Farbe, die zum wärmsten Mantel gehört“, entgegnete ich.

Er zog mit einiger Mühe einen dunklen Mantel unter mehreren anderen zum Vorschein. Zwei Hemden fielen dabei achtlos zu Boden. „Der scheint mir warm zu sein.“ Er hielt ihn mir unter die Nase.

Ich rieb den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger und begutachtete kritisch die fehlende Knopfleiste. Ich schüttelte den Kopf. „Knöpfe wären großartig.“ Immerhin wollte ich im Winter nicht dazu gezwungen sein, meinen Mantel offen tragen zu müssen.

Der kleine Mann schaute mich ungeduldig an, immerhin strapazierte ich gerade seine freie Zeit nach Ladenschluss. Ich ließ meinen Geldbeutel klimpern, um ihn daran zu erinnern, warum er das tat. Ich kam mir dabei sehr gut vor. Und es wirkte; mit neuem Elan durchstöberte er die Kleiderschichten. Er hielt mir einen weiteren Mantel hin, den ich auch ablehnte, da er löchriger war als meine Decke.

Schließlich reichte er mir einen verwaschenen blauen Mantel mit tiefen Taschen, dem nur ein einziger Knopf fehlte und der ansonsten in einem guten Zustand zu sein schien.

„Na los, probier ihn an!“, forderte er mich auf.

Ich tat wie geheißen. Er war etwas zu groß und die Ärmel reichten mir bis an die Fingerspitzen, aber das machte mir nichts. Ich strich über den rauen Stoff und nickte zufrieden. „Wie viel?“

„Zwei Brocken“, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Meine linke Augenbraue schoss in die Höhe und ich machte mich aufs Feilschen gefasst. „Zwei Goldstücke für diesen alten Mantel?“

„Ein Brocken. Oder fünf Steine.“ Haha, beides war gleich viel wert.

„Ein Brocken für den Mantel, dazu Handschuhe und Stiefel.“

Der kleine Mann kämpfte sich durch den Laden, war für einige Minuten verschwunden und kam mit einem Paar grauer Wollhandschuhe und Lederstiefeln zurück. Er hielt sie abschätzend an meinen Fuß. „Zehn Steine. Nicht weniger, die Stiefel sind so gut wie neu!“

Viel mehr befand sich auch gar nicht in meinem Beutel. Einen besseren Preis würde ich wohl nicht herausschlagen können. Die Stiefel sahen wirklich so aus, als wären sie aus gutem Material, und waren wahrscheinlich mehr wert, als ich zahlen sollte.

Ich hielt dem Verkäufer meinen Geldbeutel hin. „Das ist alles, was ich habe. Sie können es behalten, wenn Sie mir dafür noch einen Becher von Ihrem Tee zu trinken geben.“

Gierig riss er mir den Beutel aus der Hand, öffnete ihn und zählte misstrauisch nach. Elf Silbermünzen waren darin. Dann nickte er und steckte ihn in seine Tasche. „Komm mit, Junge. Ich hoffe, du magst Hagebutte.“

***

Nie zuvor hatte ich Kleidung besessen, die mich so wärmte, geschweige denn die ich mir selbst ausgesucht und gekauft hatte. Doch nach Stunden des Umherwanderns konnte auch sie den schneidenden Wind nicht mehr davon abhalten, unter meine Haut zu kriechen. Ich war so müde, ich hätte auf der Stelle umfallen mögen, um meine Augen zu schließen und ein wenig zu ruhen, doch ich wagte es nicht, der Kälte der Nacht im Schlaf zu trotzen. Ich musste in Bewegung bleiben.

Zunächst hielt ich mich an den Verlauf der Hauptstraßen, denn das Licht der Laternen spendete mir etwas Trost. Doch bald suchte ich die Dunkelheit, die mich wie eine sichere Decke umhüllte und mich in sich einschloss. Ich wanderte durch schmale Gassen und benutzte unbeleuchtete Straßen, probierte, meinen Kopf zu beschäftigen, um die bleierne Müdigkeit zu verdrängen. Es nützte nicht viel. Ich wurde langsamer und legte eine Hand auf meinen knurrenden Bauch.

Dann sah ich es.

Da war ein Licht. Vor mir, in einiger Entfernung, am Ende der Gasse. Ich musste daran denken, was man sich über das Sterben erzählte, dass man wie eine Motte zurück ins Licht flog.

Ich zog meine Nase hoch und tastete über meinen Oberkörper. Nein, ich fühlte mich noch ganz lebendig an. Also war ich nicht irgendwo vor Erschöpfung zu Boden gegangen und erfroren. Ausgezeichnet.

Nein, da war in der Tat ein Licht. Es flimmerte und bewegte sich leicht wie funkelnde Sterne in der Ferne, doch strahlte es nicht mit ihrem kalten Glanz, sondern schien warm und lebendig zu sein. Plötzlich durchströmte mich neue Kraft und ich wurde schneller. Ein Feuer, an dem man sich die steif gefrorenen Finger wärmen konnte!

Noch ehe ich das Feuer erreichte, hörte ich leises Stimmengemurmel. Im Schein der Flammen waren drei Gestalten zu erkennen, die in dicke Schichten Lumpen gehüllt waren. Über ihre Gesichter sprangen abwechselnd Licht und Schatten. Sie standen um eine Tonne herum, in der das Feuer brannte, welches sie gerade mit Zweigen und einer Zeitung fütterten.

Eine Ratte blieb nicht lange allein.

Noch war ich nicht nahe genug, als dass sie mich hätten sehen können, und ich wurde langsamer. Sollte ich ihnen einfach in einer selbstgefälligen Art zunicken und mich zwischen sie drängen oder sie zunächst ein wenig belauschen?

Ein Kieselstein, gegen den meine linke Schuhspitze stieß und der daraufhin fröhlich klackernd über den Boden hüpfte, nahm mir die Entscheidung ab, denn plötzlich wandten sich alle drei Augenpaare voller Misstrauen in meine Richtung um. Also gut, dann eben das selbstgefällige Nicken.

Schnurstracks ging ich auf die Tonne zu, murmelte: „’n Abend“, und streckte meine Hände nach den Flammen aus. Ich konnte die Wärme in der Luft durch meine Handschuhe spüren.

„Verschwinde!“, keifte eine kratzige Frauenstimme und eine schmutzige Hand stieß mich unsanft fort. „Das ist unser Feuer!“ Die schmutzige Hand gehörte zu einer noch schmutzigeren, rundlichen Frau, der fettige Haarsträhnen in die Stirn fielen. Sie kratzte sich energisch am Kopf und ich war froh, Abstand von ihr zu haben. Läuse waren eine lästige Sache.

„Kann man Feuer besitzen?“, fragte ich und versuchte mich von der anderen Seite zu nähern, wo ein großes, dünnes Mädchen an der Tonne stand und schluchzte. Ein Strom von Tränen glänzte auf ihren Wangen. „Da stimmt was mit deinen Augen nicht“, sagte ich in besorgtem Tonfall und deutete mit dem Finger auf sie.

„Was?“, fragte sie verwirrt.

„Sie tropfen.“

„Halt doch dein Maul!“, fuhr sie mich an und wendete sich von mir ab, um sich weiter ihrem Kummer hinzugeben. Ich hatte das Gefühl, als ob ich hier schnell neue Freundschaften schließen würde.

„Mach, dass du wegkommst!“, rief der Dritte im Bunde, ein kleiner, gebeugter Mann mit langen grauen Haaren und dem mickrigsten Bart, den ich je gesehen hatte. Ich hoffte inständig auf einen besseren Bartwuchs in meinen nächsten Lebensjahren. Ich wollte ja nicht aussehen wie ein halb gerupftes Huhn.

Huhn ... ich bekam wieder Hunger, aber dagegen konnte ich jetzt nichts tun. Gegen die Kälte allerdings schon. Ich machte noch einen Schritt auf die Tonne zu.

„Ist ja nicht so, als ob ich euch die Wärme wegnehme“, warf ich ein. Und weil ich gehört hatte, dass es die meisten Leuten gut aufnahmen, wenn man ihnen Komplimente machte, fügte ich schnell hinzu: „Übrigens eine wunderschöne Tonne, die ihr da habt.“

„Du sollst verschwinden, hab ich gesagt!“, rief die Frau nun deutlich erbost, denn ihr Kopfgekratze hatte an Intensität gewonnen.

„Essigwasser“, raunte ich ihr zu, ohne das Umkreisen der Tonne einzustellen. Ich kam mir vor wie eine hungrige Raubkatze. Sehr hungrig.

Die Frau warf etwas nach mir und ich duckte mich.

„Du mit deinen guten Sachen brauchst kein Feuer. Geh woanders hin oder ich nehme sie dir ab!“ In der Hand des Mannes blitzte eine Klinge. Mir wurde bewusst, dass ich in dieser Gesellschaft in der Tat als gut gekleidet galt, so sauber und ganz ohne Löcher im Stoff. Ich musste mich vorsehen.

„Wir könnten einen kleinen Tauschhandel vornehmen“, schlug ich vor.

„Ich nehme deine Schuhe und schenke dir dafür das Leben. Wie klingt das für dich?“ Der Mann wedelte mit seinem Messer herum.

„Ja, genau“, krächzte die Frau, „da hast du deinen Tauschhandel!“

Ich schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ich hatte da eher an etwas anderes gedacht.“

„Der feine Herr ist ein Denker.“ Im Schein des Feuers konnte ich ihre fauligen Zähne sehen, als sie sprach.

Ich ignorierte sie. „Ich habe Fleisch.“

Der alte Mann musterte mich von Kopf bis Fuß. „Nicht gerade sehr viel.“

Ich schenkte ihm mein überheblichstes Lächeln. „Ich habe Zugang zu einer Metzgerei. Gleich morgen kann ich euch gutes Fleisch verschaffen, vorausgesetzt, ich erfriere nicht. Ihr seid sicher hungrig.“ So wie ich.

Das Mädchen hielt für einen Moment im Schluchzen inne, um mich entgeistert anzustarren. „Der Mann mit der Glatze?“ Sie fürchtete sich vor Roman. Es war ihr nicht zu verdenken.

„Lasst das ganz meine Sorge sein.“

„Wir brauchen keinen zwielichtigen Fleischlieferanten. Wir können für uns selber sorgen“, knurrte die Frau. Doch der Mann schluckte schwer, als liefe ihm das Wasser im Munde zusammen. Er hatte angebissen.

„Schinken“, sagte ich.

Sie machte eine scheuchende Bewegung mit der Hand. „Verschwinde endlich.“

„Speck.“

„Na los, husch!“

„Rippchen.“ Der Mann knickte beinahe ein.

„Hau ab!“

Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern, wandte mich von der brennenden Tonne ab und machte drei langsame Schritte in die Dunkelheit hinein.

„Warte!“, rief der Mann.

Ich blieb stehen und grinste.

Am Feuer ließ sich die Kälte der Nacht aushalten. Zu viert standen wir dicht gedrängt wie die Spatzen um die Tonne herum und hielten unsere ausgestreckten Hände über die Flammen. Ich stand zwischen Geske und Ben, dem großen Mädchen und dem Alten, während zwischen mir und Roksi mit ihren Läusen das Feuer loderte. Vor den kleinen Mistviechern war ich sicher. Es sei denn, sie hatten schon meine direkten Nachbarn befallen, was ziemlich wahrscheinlich war. Nun, zumindest fror ich nicht.

Nachdem wir uns alle mit Namen vorgestellt hatten, Roksi Geske mit dem Ellenbogen in die Seite gestoßen und sie angefaucht hatte, mit dem Heulen aufzuhören, war es fürs Erste still geworden in unserer kleinen, gemütlichen Runde. Sie wagten es nicht, vor einem Fremden ihre vertraulichen Gespräche zu führen. Ich konnte es ihnen nicht verdenken.

Die runde Roksi war es schließlich, die das Schweigen brach. „Ich sehe nicht ein, wieso wir ihn für Fleisch an unser Feuer lassen. Ein guter Schnaps hätte es da schon eher getan ...“

Ich lächelte ihr gutmütig zu. „Alkohol verträgt sich nicht mit Feuer.“

„Wenn du schon hier rumstehst, halt wenigstens deine vorlaute Klappe!“, fuhr sie mich an.

Ich führte meine rechte Hand an mein Kinn, hielt es fest und ihr Blick wurde noch finsterer. Langsam kam mir in den Sinn, weshalb ich im Waisenhaus so wenig Freundschaften geschlossen hatte: Alle meine Mitmenschen waren schrecklich! Nun, ich konnte sie nicht ändern.

„Diesen Metzger ... du kennst ihn gut?“, wollte Ben wissen und rieb sich den Bauch.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Was kannst du uns bringen?“

„Was ich kriegen kann“, erwiderte ich knapp.

Roksi schnaubte. „Wir werden den Jungen nicht wiedersehen, ich sag es euch. Nachdem er sich an unserem Feuer gewärmt hat, ist er über alle Berge.“

„Felsburg hat keine Berge“, bemerkte ich und erntete erneut einen bösen Blick.

Geske zog geräuschvoll die Nase hoch. Ich wünschte, sie würde noch immer heulen, das war besser auszuhalten.

„Meine lieben Freunde ...“, setzte ich an.

„Wir sind nicht deine Freunde“, schallte es mir dreistimmig entgegen. Das hatten sie bestimmt geübt.

„Mitbürger“, setzte ich erneut an, „ihr mögt mir nicht vertrauen und das ist euer gutes Recht, immerhin kennen wir uns noch nicht besonders lange. Aber ich versichere euch, dass alles, was ich euch bis jetzt gesagt habe, der Wahrheit entspricht. Ich werde euch euer Fleisch besorgen.“

Ben sah mich eindringlich an. „Wollen wir es hoffen, Flint.“

Mein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. „Ihr habt mein Ehrenwort.“

Kalt ist die Welt

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