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Allein in der Nacht

„Wieso können wir nicht einfach zurückgehen?“, fragte Leana und schlang sich ihre zerschlissene Jacke enger um den mageren Leib. Ein eisiger Wind wehte und bewegte ihr mausbraunes Haar mit Geisterhänden.

„Weil wir zu alt sind“, erwiderte ich und kniff die Augen zusammen, damit sie in der kalten Luft nicht anfingen zu tränen. Ich wollte nicht, dass sie glaubte, ich würde weinen.

Sie blieb stehen und starrte mich argwöhnisch an. „Wir sind Kinder, wie können wir zu alt sein?“

Ich packte ihren Arm und zog sie weiter. „Komm, es wird bald dunkel und bis dahin sollten wir einen Unterschlupf gefunden haben.“

Gemeinsam liefen wir eine der zahllosen unbefestigten Straßen des Stadtringes entlang; Leana stolperte hin und wieder über Furchen im gefrorenen Boden und ich nahm erneut ihren Arm, nun um sie zu stützen. Ich konnte spüren, wie sie zitterte, und biss mir auf die Unterlippe. Sie war so klein und zerbrechlich. Der Gedanke daran, dass sie heute Nacht kein schützendes Dach über dem Kopf haben würde, bereitete mir Sorgen. Es hatte bisher nicht geschneit und der Winter hatte sich noch nicht ganz in der Stadt niedergelassen, dennoch sanken die Temperaturen mit jedem Sonnenuntergang bedrohlich tief für jemanden, der des Nachts unter freiem Himmel schlafen musste.

„Und wenn wir nichts finden?“, fragte sie.

„Vertraust du mir etwa nicht?“ Ich bedachte sie mit einem prüfenden Blick und lächelte sie dann an. Sie lächelte zurück und dieser kleine Austausch von Wärme schenkte mir neue Hoffnung. Wir würden schon zurechtkommen. Allein.

„Natürlich tue ich das“, sagte sie und schmiegte sich im Gehen dichter an mich.

„Gut.“ Ich legte meinen Arm um sie.

Doch es war nicht gut. Die Dunkelheit brach über uns herein und mit ihr auch die Kälte. Und noch immer befanden wir uns im Freien. „Ich bin müde, Aron“, murmelte Leana, träge geworden.

„Ich weiß. Komm, wir gehen zum Fluss.“ Auch meine Schritte waren inzwischen langsamer, und wenn es nur um ihretwillen war. Sie sollte sich schonen. Nein, wir beide sollten das.

Wir gingen zur Brücke, doch anstatt über sie hinwegzulaufen, nahm ich Leanas Hand und half ihr den steilen Abhang hinunter – unter die Brücke. Das Wasser rauschte in der Finsternis. Leana setzte sich auf den Boden, winkelte ihre Knie an und schlang die Arme um sich. Ich sammelte ein paar Zweige zusammen und entzündete mit der Packung Streichhölzer, die ich aus meiner Hosentasche fischte, ein spärliches Feuer, über das Leana ihre kleinen Hände ausbreitete, um sie zu wärmen. Ich stand daneben und blickte für einen Moment gedankenverloren in die hellen Flammen.

„Hast du Hunger?“, fragte ich.

Sie schaute zu mir auf, mit ihren viel zu großen Augen für das viel zu schmale Gesicht. „Nein.“

„Was habe ich dir über das Lügen gesagt?“

Sie seufzte. „Belüge jeden außer dich und mich.“

„Goldrichtig. Also, ich frage dich noch einmal: Hast du Hunger?“

Schuldig und überführt schaute sie mich an. „Aber, Aron, wir haben doch gar nichts zu essen.“

„Lass das mal ganz meine Sorge sein. Ich werde schon etwas auftreiben.“

Erschrocken fuhr sie auf, im Feuerschein sah ich Angst in ihren Augen glänzen. „Du willst mich doch nicht allein lassen?“

Beruhigend legte ich ihr meine Hände auf die Schultern. „Nur für eine kurze Weile.“ Ich drückte sie wieder hinunter in eine sitzende Position. „Ich werde nicht lange fort sein.“

Leana packte meine Hand und umklammerte diese so fest, dass es beinahe schmerzte. „Bitte lass mich nicht allein!“ Ein Anflug von Panik schwang in ihrer Stimme mit.

Ich griff an meinen Gürtel und zog ein kleines Messer hervor, das ich in einem unbeobachteten Moment vom Gemeinschaftstisch gestohlen hatte. Ich drückte es ihr in die Hand. „Wenn du jemanden kommen hörst, versteckst du dich im Gebüsch, hörst du?“

„Kann ich nicht mit dir mitgehen? Bitte“, flehte sie mich an.

Ich schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln und schüttelte den Kopf. Dann zog ich meine Jacke aus und legte sie ihr über die Schultern. „Wärme dich auf und warte auf mich.“

Es war kalt ohne meine Jacke und mein langärmliges Hemd vermochte mich nur wenig zu wärmen. Doch Leana benötigte sie dringender als ich. Sie war zwölf und ich nicht mehr als zwei, drei Jahre älter, auch wenn ich mein genaues Alter nicht mit Sicherheit wusste. Dennoch kam sie mir so viel jünger vor als ich mir selbst. Schutzbedürftiger.

Sie war nach mir in das viel zu überfüllte Waisenhaus am äußersten Rand der Stadt gekommen, klein und schmutzig und stumm. Ich hatte mir nie viel aus den Regeln und Strafen der Aufseher gemacht und verließ das Waisenhaus oft tagelang, um durch den Stadtkern zu stromern, die prächtigen Villen und Gärten der dort lebenden Leute zu bestaunen und vor allem meine Freiheit zu genießen.

Seit Leana in das Waisenhaus gekommen war, riss ich nicht mehr aus. Sie hatte meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, seit sie durch die schwere Tür des Heimes geführt worden war. Und dabei war sie so unauffällig gewesen. Ihr Blick immer starr in die Leere gerichtet, ihre Lippen versiegelt wie ein wichtiger Brief.

Die anderen Kinder, die alle neuen augenblicklich zu hassen und zu schikanieren begannen, sobald die Aufseher nicht hinsahen, hatten besonderen Gefallen an ihr gefunden, denn sie gab keinen Mucks von sich, so fest sie auch kniffen und schubsten und schlugen und traten. Leana war still und regungslos geblieben, ganz weit entfernt von dieser Welt, tief versteckt im hintersten Winkel ihrer selbst.

Ich begann, jedes Kind zu verprügeln, das ihr zu nahe kam. Nach einigen Wochen ließ man sie endlich in Frieden.

Ich hatte keine Freunde im Waisenhaus. Die anderen Kinder waren laut, wild, brutal und grausam und ich verachtete sie. Sie waren wie die Tiere. Wie ich die Nächte genoss, wenn ich im Schlaf endlich ihren schrillen Stimmen entfliehen konnte!

Leana war anders und deshalb beschützte ich sie vor den anderen. Anfangs nicht einmal, um ihre Freundschaft zu gewinnen, sondern nur aus dem einfachen Grund, weil sie nicht das verkörperte, was ich verabscheute, und es mir eine gute Gelegenheit gab, den anderen eine Lektion zu erteilen. Wir waren beide Außenseiter und so war es nicht verwunderlich, dass wir bald zu den Mahlzeiten nebeneinandersaßen und unsere freie Zeit miteinander verbrachten. Wir wurden Verbündete.

Sie hatte viele Wochen lang kein einziges Wort gesprochen. Und als sie es endlich tat, schenkte sie mir ihr erstes Wort.

Das war viele Jahre her.

Und jetzt waren wir hier. Unter freiem Himmel und auf uns allein gestellt. Wäre Leana nicht gewesen, hätte ich sicher schon vor langer Zeit den Straßen Felsburgs den Vorzug gegeben. Das Waisenhaus hatte mich von jeher eingeengt mit seinen festen Zeiten für das Essen, das Arbeiten und das Ruhen. Den strengen Aufsehern, den mageren Mahlzeiten, den grauen Wänden. So stellte ich mir das Gefängnis vor!

Doch ich hätte sie nicht sich selbst überlassen können. Allein unter all den anderen schrecklichen Menschen dort. Sie wieder verstummen lassen, dieses Mal vielleicht für immer.

Ich allein hatte keine Schwierigkeiten damit, das Pflaster Felsburgs mein trautes Heim zu nennen, so glaubte ich jedenfalls, mit Leana an meiner Seite war das jedoch etwas völlig anderes. Zum Überleben brauchte ich nicht viel und die Angst, dass mir etwas zustoßen könnte, hatte ich längst abgelegt. Aber ich hatte Angst davor, sie zu verlieren. Sie war nicht für ein Leben auf der Straße gemacht. Im Schmutz, im Kalten, in der Verachtung. Doch man hatte uns keine andere Wahl gelassen.

Ihr gegenüber fühlte ich mich verpflichtet. Ich musste auf sie aufpassen. Sie versorgen. Machte man nicht genau das für seine Familie? Nicht, dass ein Waisenkind auf diesem Gebiet Erfahrung gehabt hätte.

Inzwischen hatte die Nacht ihre düstersten Farben am Himmel verschüttet und die Tore des Stadtkerns waren längst verschlossen. Aber das machte mir nichts, ich würde auch im Stadtring Nahrung finden. Die Armen aßen schließlich auch. Nicht so gut wie im Kern und nicht so viel, doch ein leerer Magen war nicht wählerisch. Und ich hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen.

Wie ein ausgehungerter Wolf streifte ich zwischen den Häusern umher, immer auf der Suche nach etwas, das mir mein Vorhaben erleichtern würde. Schließlich bemerkte ich ein halb zerbrochenes Fenster, welches nur spärlich mit einer Decke verhangen worden war. Wohl um die Kälte davon abzuhalten, ins Innere der Hütte zu dringen. Nicht aber mich. Ich streckte die Hand aus, hielt dann jedoch mitten in der Bewegung inne. Es war das erste Mal, dass ich etwas im Stadtring stehlen würde. Mein erster Einbruch. Ich bekam so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Es waren arme Leute, denen ich etwas nehmen würde.

Dann dachte ich an Leana, wie sie zitternd und hungrig neben dem Feuer kauerte. In diesem Moment waren das hier keine Armen mehr, denn sie besaßen ein Heim und Wärme. Was auch immer hinter den Mauern auf mich wartete, wir brauchten es gerade dringender als ihre Bewohner.

Ich holte einmal tief Luft, dann drückte ich die schwere Decke beiseite.

Das Feuer war erloschen, als ich unter die Brücke zurückkehrte. Es war so dunkel geworden, dass ich Leana nicht sehen konnte. Erst als ich an die noch glühende Asche herantrat, bemerkte ich, dass sie nicht mehr dort war. „Leana?“, fragte ich leise.

Keine Antwort.

Mein Herz begann, schneller zu klopfen. War sie von anderen Obdachlosen überrascht worden? War sie fortgerannt und ganz allein dort draußen in der Nacht?

„Leana?“, fragte ich noch einmal, nun lauter.

Ich wollte mir nicht ausmalen, was ihr alles zugestoßen sein konnte, seit ich sie verlassen hatte. Hätte ich sie doch mit mir nehmen sollen? In meinem Kopf spielten sich düstere Szenarien ab und ich bekam einen trockenen Mund. Ich ließ meine Ausbeute zu Boden sinken und lief unruhig umher. Wenn sie fort war, dann würde ich die ganze Nacht lang kein Auge zutun. Ich würde den gesamten Ring auf den Kopf stellen und auch noch den hintersten Winkel nach ihr durchsuchen! Was machte ich nur, wenn sie für immer fort war?

„Leana?“ Ich rief beinahe.

Da war ein leises Rascheln im Gebüsch. Leichte Schritte.

„Ich bin hier.“ Ihre Stimme.

Ich atmete aus und spürte, wie mir ein Stein vom Herzen fiel. So musste sich eine Mutter nach den Schrecksekunden fühlen, in denen sie ihr kleines Kind im Gedränge einer Menschenmenge verloren hatte.

Nun sah ich ihre schmale Silhouette vor mir. „Ich wusste nicht, ob du es bist. Deshalb habe ich mich versteckt“, erklärte sie leise und drückte mir den Griff des Messers in die Hand. „Das Feuer ist ausgegangen“, fügte sie hinzu.

„Das sehe ich. Ich kümmere mich gleich darum. Sieh mal, ich habe dir eine Decke mitgebracht.“ Ich breitete sie über ihre Schultern aus. „Und ein Stück Brot und Käse. Und Wein.“

„Woher hast du all die Sachen?“

Ich seufzte. „Was denkst du wohl?“

Sie schwieg.

Als das Feuer wieder loderte, saßen wir dicht nebeneinander in die Decke gewickelt davor und aßen und tranken. Ich hatte das Gefühl, nie besser gespeist zu haben. Der Wein war zwar wässrig und säuerlich, doch wärmte er ein wenig von innen. Ich hatte schon zuvor das ein oder andere Mal auf meinen Streifzügen Wein zu kosten bekommen, doch Leana war ihn nicht gewöhnt und wurde sehr schnell schläfrig. So dauerte es nicht lange und sie war, gegen meine Schulter gelehnt, eingeschlafen.

Ich atmete den schweren Rauch des Feuers ein und legte einige Zweige nach. Dann bettete ich Leana vorsichtig auf den sandigen Boden und legte mich daneben. Ich spürte die Kälte von unten in meinen Körper kriechen und schmiegte mich näher an Leana. Wir würden die gegenseitige Wärme brauchen, wollten wir am nächsten Morgen wieder erwachen.

Kalt ist die Welt

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