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Kein guter Tag

Ich erwachte von einem Hustenanfall, der mich schüttelte, bis es schmerzte. Schon tags zuvor hatten sich Halsschmerzen angekündigt, doch ich hatte ihnen schlicht und ergreifend keine Beachtung geschenkt. Solange man die Krankheit ignorierte, war man gesund. Nun aber konnte ich nicht anders, als sie zu beachten, denn ich fühlte mich fiebrig und meine Kehle brannte. Das viele Frieren und Schlafen im Freien hatte meinem Körper zugesetzt.

Ein Anflug von Panik ergriff mich. Ich durfte nicht krank werden! Medizin war teuer und ich hatte keinen Ort, an dem ich wieder zu Kräften kommen konnte, geschweige denn einen Menschen, der mich pflegte. Wie schnell konnte eine Erkältung zum Todesurteil werden, wenn man auf der Straße lebte! Wie oft wurden steif gefrorene Körper auf Karren davongefahren, die man in den frühen Morgenstunden des Winters am Wegesrand fand! Ich hatte sie schon oft an mir vorbeifahren sehen, in weiße Leinen gewickelt, sodass man ihre armseligen Gesichter nicht erkannte. Wieder spürte ich, wie lieb mir doch das Leben war, wenn ich daran dachte, es zu verlieren.

Ich setzte mich im Bett auf, vergrub mein Gesicht in den Händen und atmete dreimal tief ein und aus. Es brachte mir nichts, mich der Panik auszusetzen, ich musste mich beruhigen und nachdenken. Das tat ich dann auch eine ganze Weile.

Schließlich stand ich auf und trank in großen Zügen von dem abgekochten Wasser, das in einem Krug auf einer Kommode an der Wand bereitstand. Den Rest schüttete ich in eine Schale und wusch mir ausgiebig den Dreck von der Haut. Die alte Wirtsfrau hatte schon zweimal geklopft, bevor ich endlich mein Zimmer verließ, in dem ich mich so gerne noch eine Weile ausgeruht hätte.

Unten setzte ich mich an einen kleinen Tisch in der Ecke der Wirtsstube. Es waren nicht sehr viele Gäste zugegen, doch im Kamin an der Wand flackerte ein munteres Feuer und erfüllte den Raum mit Wärme. Je länger ich hierbleiben konnte, desto besser.

Es dauerte nicht lange und die Tochter des Wirtes trat an meinen Tisch. So wie ich es mir erhofft hatte. Erstaunt musterte sie mein gewaschenes Gesicht und mein gekämmtes Haar. Ich hatte mich zuvor im matten Spiegel betrachtet. Ohne eitel klingen zu wollen, konnte ich von mir behaupten, nicht schlecht auszusehen. Und meine pechschwarzen Augen hatten seit jeher eine besondere Wirkung auf andere, wenn ich meine Blicke nur richtig einzusetzen wusste. Sie hatten mir schon das ein oder andere Mal den Ausschluss vom Mittagessen im Waisenhaus erspart.

„Fast hätte ich dich nicht wiedererkannt. Kann ich dir etwas bringen?“ Sie lächelte mich an.

Trotz des schmerzenden Halses und fiebriger Stirn setzte ich ein schiefes Grinsen auf, als hätte ich keine anderen Sorgen, als mit einem hübschen Mädchen zu liebäugeln. „Das wäre schön.“ Ich nahm den gestohlenen Geldbeutel heraus, wie um nachzuzählen, wie viel Geld ich noch besaß. Mein Gesicht verdüsterte sich. Dafür musste ich nicht einmal schauspielern, bei dem mickrigen Anblick der zwei einsamen Kupfermünzen würde wohl jeder traurig werden. „Oh“, sagte ich. „Dann wohl lieber doch nicht.“

„Alles Geld ausgegeben?“, fragte sie schmunzelnd mit ihren vollen Lippen. Ich warf ihr meinen jämmerlichsten Blick zu und ihr verging das Lächeln. Ich war wirklich gut.

Theatralisch fuhr ich mir mit der Hand über die Stirn. „Nein ... ja ... ach!“

„Übertreib es nicht“, ermahnte ich mich in Gedanken.

Doch sie hatte bereits angebissen, beugte sich über den Tisch und sah mich besorgt an. „Was hast du denn?“

Wieder seufzte ich. „Ach, nichts.“ Doch bevor sie gehen oder das Interesse verlieren konnte, fügte ich schnell hinzu: „Es ist nur ...“

„Ja?“ Kaum zu glauben, wie sehr sich so feine Augenbrauen biegen konnten.

„Das Geld, das ich habe, kann ich nicht ausgeben.“

„Wieso denn nicht? Schuldest du es etwa jemandem?“ Echte Sorge schwang in ihrer Stimme mit. Sie war sicher ein guter Mensch. Das machte es einfacher.

Ich legte meine Stirn in Falten. „Nein, das nicht ...“

Sie zog den Stuhl neben mir unter dem Tisch hervor und setzte sich. Ihre Finger zuckten. Sie war kurz davor, meine Hand in die ihre zu legen und sich jede erdenkliche Lüge auftischen zu lassen, die mir in den Sinn kam. „Du kannst es mir erzählen“, sagte sie leise mit verstohlenem Blick zum Ausschank, doch ihre Eltern waren nicht zu sehen. „Vielleicht kann ich dir helfen.“

„Ich will dir keinen Ärger machen“, murmelte ich.

Jetzt nahm sie meine Hand. Ich hatte sie so weit. „Erzähl es mir wenigstens.“

Ich sah ihr lange in die Augen und nickte dann, mehr zu mir selbst als zu ihr. „Nun gut.“ Und dann begann ich zu erzählen. Von meiner kranken Mutter und meinen kleinen Schwestern außerhalb der Stadt, die ich mit Medizin und Essen versorgen musste, seit mein Vater letztes Jahr im Frühling verstorben war, und für die mein restliches Geld vorgesehen war. Ich hatte nur wenig Arbeit gefunden und weniger Geld verdient, als ich geplant hatte. Deshalb durfte ich nicht mehr an mich selbst denken und musste sparen, immerhin hatte mich der Aufenthalt im Wirtshaus schon viel zu viel gekostet. Und meine jüngste Schwester war doch noch ein Säugling! Das arme Ding ...

Als ich fertig war, hatte sie Tränen in den Augen und versicherte mir, ich könnte bestellen, was ich wollte, sie würde mir nichts berechnen.

***

Den halben Tag verbrachte ich am Kamin in der Wirtsstube und ließ mir von meiner neuen Freundin heißen Tee und Suppe bringen. So lange, bis mich ihr nicht so freundlich gesinnter Vater zum Gehen aufforderte.

Draußen nieselte es. Großartig. Zwar war dies ein Zeichen dafür, dass es noch zu mild für Schneefall war, jedoch zählte ich feuchte Kälte zu der schlimmsten Sorte, die es gab, denn waren die Kleider erst einmal nass und der Körper bis auf die Knochen durchgefroren, dauerte es lange, bis man wieder warm wurde. Besonders ohne ein Dach über dem Kopf. Ich hatte noch immer leichte Halsschmerzen und meine Stirn glühte, auch wenn mir Tee und Suppe deutlich gutgetan hatten. Ich griff in meine Hosentasche und ertastete das kleine Päckchen Brennhölzer, das ich einer Aufseherin im Waisenhaus stibitzt hatte. Es war nicht so gut wie eine erstklassige Pennertonne, doch ich war froh, sie zu haben. Heute würden sie mir allerdings nicht viel nützen. Es war zu feucht, um ein gutes Feuer in Gang zu bringen, an dem ich mich wärmen und meine Erkältung auskurieren konnte.

Kalt ist die Welt

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