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Diebe im Stadtkern

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Ich erwachte mit Husten. Meine Kehle fühlte sich rau und kratzig an, wenn ich schluckte, und meine Glieder schmerzten.

Leana neben mir regte sich. „Wie spät ist es?“, murmelte sie blinzelnd. Sie glaubte wohl in ihrer verschlafenen Verwirrtheit, sich noch immer im Waisenhaus zu befinden und die Morgenversammlung zu verpassen.

Ich blickte hinauf zur hellen Wolkendecke. „Morgens.“

Leana streckte sich und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Dann nieste sie. „Mir ist kalt.“

Ich erhob mich, rieb mir das Blut zurück in Arme und Beine und entzündete ein Feuer. Schweigend aßen wir die Reste unseres gestrigen Abendbrotes.

Als Leana aufgegessen hatte, sah sie mich fragend an. „Und was machen wir jetzt?“

„Hier unter der Brücke bleiben. Ist doch gemütlich.“ Ihre Augen wurden groß und ich lachte. „Natürlich bleiben wir nicht hier. Wir gehen in den Stadtkern.“

„Und dort sind die Nächte milder als hier?“, fragte sie skeptisch.

„Du hast gesagt, dass du mir vertraust. Ich werde schon etwas für uns finden. Eine Unterkunft und gutes Essen.“

„Aber nicht wieder stehlen.“ Sie sah mich streng an, beinahe wie eine der Aufseherinnen.

Ich seufzte. Sie machte es mir wirklich nicht leicht. „In Ordnung. Solange es eine andere Möglichkeit für uns gibt, werde ich nichts stehlen.“

Ich ging zum Fluss hinunter, wusch mir das Gesicht mit dem eiskalten Wasser und spürte, wie mir mein kurzes Haar wie Pech an der Stirn kleben blieb. Schlagartig war ich hellwach.

Leana tat es mir gleich und erschauderte. „Weißt du noch, wie es sich anfühlt, ein warmes Bad zu nehmen?“, fragte sie mich.

Ich legte die Stirn in Falten. Im Waisenhaus war das Waschwasser nicht so eisig wie hier draußen, doch richtig warm wurde es nie. Und davor ... ich konnte mich nicht mehr genau erinnern. Es musste sich gut anfühlen, wenn ich darüber nachdachte. Von wohliger Wärme umhüllt zu werden, nur dazuliegen und zu genießen ...

„Weißt du es noch?“ Auf ihren Lippen ließ sich ein verträumtes Lächeln nieder und ich ließ sie in der süßen Erinnerung schwelgen. Sie hatte mir nie erzählt, woher sie gekommen war und was für ein Leben sie geführt hatte, bevor ich ihr im Waisenhaus begegnete. Und ich war klug genug, sie nicht danach zu fragen.

Wir trampelten das mickrige Feuer mit den Schuhen aus und rollten die Decke zusammen. Leana wollte einen Schluck aus dem Fluss trinken, bevor wir aufbrachen, doch ich hielt sie zurück. „Es macht dich nur krank“, erklärte ich ihr. Ich hatte die Leute alle möglichen Dinge in das Wasser kippen sehen. Es gab einen Grund dafür, dass nur wenig Wasser in der Stadt getrunken wurde.

„Überhaupt nichts zu trinken, macht mich ebenso krank“, erwiderte sie, doch sie hörte auf mich.

„Komm, wir gehen.“ Ich nahm die Decke und dann verließen wir unser Nachtlager.

Wir waren nicht die Einzigen, die zu den Stadttoren strömten. Viele der Ringbewohner arbeiteten tagsüber im Kern und kehrten erst abends in ihre ärmlichen Behausungen zurück. Es war grausam, dachte ich, für den Reichtum anderer zu arbeiten, wenn man ihn selbst nie erlangen würde. Doch genau das hatte ich vor: Arbeit finden für Leana und mich.

Auf unserem Weg durch den Stadtring huschten meine Augen immer wieder besorgt zu Leana hinüber. Ihr schmales Gesicht war blass, auf ihrer Nase und ihren Wangen lagen Sommersprossen verstreut wie die ersten Sterne am Nachthimmel und ihre braunen Augen wirkten beinahe schwarz. Sie war oft krank gewesen im vergangenen Jahr. Und ich fürchtete, dass die Übernachtung unter der Brücke ihrem zierlichen Körper zugesetzt hatte.

Sie bemerkte meinen Blick. „Was ist?“

„Geht es dir gut?“

„Geht es dir denn gut?“, fragte sie zurück.

Ich sagte nichts.

Die Straßen wurden breiter, baufällige Hütten wurden durch größere Häuser ersetzt und bald schon kam eines der Stadttore in Sicht. Die Mauern waren grau, hoch und bedrohlich. Sie versprachen, jeden davon abzuhalten, unbefugt ins Innere der Stadt zu gelangen. Die breiten Flügel des Tores waren jedoch weit geöffnet, zu beiden Seiten standen je zwei Soldaten der Stadtwache und beobachteten die Leute, die sie passierten. Sie trugen blaue Uniformen mit dem Wappen Felsburgs auf der Brust: eine stattliche Burg mit Türmen und wehenden Fahnen.

Leana schob ihre schmale Hand in meine, als wir zügig durch das Tor liefen. Der Blick des einen Stadtwächters blieb an mir haften und für einen schrecklichen Moment hatte ich das Gefühl, er würde direkt in meine Seele schauen und meine dunkelsten Geheimnisse kennen. Dann wandte er sich ab und wir waren im Kern der Stadt.

„Wo gehen wir jetzt hin?“, fragte Leana abwesend, während sie die prächtigen Villen und Gärten betrachtete, an denen wir entlanggingen.

All die Fragen, die sie mir seit unserem Auszug aus dem Waisenhaus gestellt hatte, schwirrten mir selbst im Kopf herum. Es war nicht das erste Mal, dass ich Arbeit suchte. Die Aufseher hatten uns schon früh darauf aufmerksam gemacht, dass wir nicht für immer bleiben konnten und Geld verdienen mussten, denn Kinder blieben wir nicht ewig. Und in den letzten Wochen hatten wir viele neue Waisen bekommen, wie es so oft geschah, wenn das Wetter schlechter und die Armen kränker wurden. Die ältesten mussten dann gehen. Dieses Jahr hatte es uns getroffen.

Doch es war nicht einfach, als Waise Arbeit zu finden. Unser schlechter Ruf eilte uns voraus, wohin wir auch gingen. Wir waren krank, ungehorsam, faul und stahlen – so sagte man uns nach. Nun gut, das Letzte mochte ich nicht bestreiten, doch man musste sich schließlich zu helfen wissen.

„Vertrau mir einfach“, murmelte ich, doch in Wahrheit wusste ich es selbst nicht. Einfach weitergehen und die nächste sich bietende Möglichkeit ergreifen, das war meine großartige Überlegung.

Es stimmte, ich fühlte mich genauso hilflos wie sie selbst, doch ich wollte ihr ein Gefühl der Sicherheit geben, wenn ich es schon selbst nicht besaß. Ich setzte das selbstgefälligste Halblächeln auf, das ich aufbringen konnte, und schaute zielgerichtet nach vorn, als hätte ich bereits einen Plan. Ich spürte die Blicke, die sie mir zuwarf, und wusste, dass es mir gelungen war: Sie vertraute mir. Mehr noch als ich mir selbst. Ich durfte sie nicht enttäuschen.

„Was die anderen wohl gerade machen?“, überlegte Leana.

„Töpfe und Teller abwaschen, Böden schrubben, das Mittagessen vorbereiten ...“ Ich stieß sie mit dem Ellenbogen in die Seite und wir lächelten uns an, froh darüber, diese lästigen Aufgaben heute nicht zu den unseren zählen zu müssen. Ich hielt an und sie ebenso.

Irritiert musterte sie mich. „Was ist los, Aron?“

Wir befanden uns inmitten einer wohlhabenden Nachbarschaft, auf dem Bürgersteig neben einem großen Garten, der trotz der Jahreszeit mit seinen gepflegten Büschen und Bäumen, Hecken und weißen Kieselwegen beeindruckte.

Ich sah sie verschwörerisch an. „Schließe die Augen.“

„Was?“ Sie war noch immer verwirrt.

„Mach schon.“

„Wieso denn?“

„Tu es einfach.“ Ich legte ihr meine Hand vor die Augen und spürte ihren Wimpernschlag.

Sie kicherte. „Was soll das denn?“

Ich lehnte mich zu ihr vor und flüsterte ihr ins Ohr: „Stell dir vor, wir wären nicht Leana und Aron aus dem Waisenhaus.“

Sie grinste. „Wer sind wir dann?“

„Wir sind Leana und Aron aus dem Stadtkern. Wir machen einen Spaziergang durch unsere Nachbarschaft, bevor wir zurückkehren in unsere vornehme Villa, wo bereits das Essen für uns angerichtet ist.“ Ich nahm meine Hand herunter.

Leana rümpfte die Nase, wie sie es wohl reiche Leute hatte tun sehen, hakte sich bei mir unter und wir gingen weiter. „Sieh nur, der Stadtmeister hat einen neuen Springbrunnen im Garten. Wir sollten uns auch einen bauen lassen.“

„Noch einen?“, fragte ich empört.

„Von Springbrunnen kann man nie genug haben!“

„Da hast du recht, meine Liebe.“

Ein älteres Ehepaar lief an uns vorbei, hatte wohl den letzten Teil unserer Unterhaltung mit angehört und bedachte uns mit skeptischen Blicken, als hätten wir den Verstand verloren. Wir mussten lachen.

„Hast du ihre Gesichter gesehen?“, prustete Leana.

„Ja, und hast du ihre Sachen gesehen? Dieser glänzende Zylinder und der froschgrüne Frack über dem dicken Bauch?“

„Und das hässliche Kleid mit den albernen Rüschen?“

Oh, wie viel schöner fühlte es sich an, über diese Leute zu lachen, als sich eingestehen zu müssen, dass sie alles besaßen, was uns vor Neid erblassen ließe.

Die Illusion des reichen, sorgenfreien Lebens wurde schon bald zerstört. Wir fragten in der Bäckerei, der Schneiderei, bei den Gärtnern des Stadtparks und bei etlichen Läden und Verkaufsständen nach Arbeit, doch niemand wollte oder benötigte unsere Hilfe. Es war bereits Nachmittag und wir setzten uns auf den Rand des Springbrunnens in der Mitte des großen Platzes vor dem Rathaus, weil man von Springbrunnen nie genug haben konnte, wickelten uns in die Decke und Leana beschloss mit einem müden Lächeln, dass unser Brunnen genauso aussehen sollte. Wir waren beide durstig und hungrig, müde von den Zurückweisungen und wohl auch ein wenig verzweifelt. Was sollte denn nun aus uns werden?

Leana schaute traurig in das unbewegte Wasser. Selbst für die Wasserfontänen war es bereits zu kalt, um zu tanzen, doch wir mussten hier draußen überleben. Ich wollte gar nicht daran denken, wo wir an diesem Abend schlafen würden. Oder in all den Nächten, die uns noch bevorstanden. Der Winter würde hart werden und wir würden erfrieren.

Wenn wir nicht vorher verhungerten.

Als ich zu Leana hinüberblickte und den leeren Ausdruck auf ihrem Gesicht bemerkte, vermutete ich, dass sie in ähnlichen Gedanken gefangen war. Ich sprang auf, und noch bevor sie widersprechen konnte, setzte ich mich mit den Worten „Ich komme gleich wieder“ in Bewegung. Doch ich hatte nicht mit ihrer Sturheit gerechnet. Sie lief hinter mir her und krallte sich in einer wütenden Bewegung an meinem Arm fest. „Du lässt mich nicht noch einmal allein!“

Ich blieb stehen. „Aber ich werde etwas tun müssen, was dir nicht gefällt.“

Sie seufzte und blickte zu Boden. „Anders geht es wohl nicht.“

„Willst du mir helfen?“ Unschlüssig zuckte sie mit den Schultern und ich lächelte. „Du musst auch gar nicht viel tun. Komm.“ Ich nahm ihre Hand und zog sie mit mir.

Im Sommer herrschte auf dem großen Marktplatz der Stadt bis in die späten Abendstunden hinein ein reges Treiben, heute hingegen waren nur noch wenige Stände aufgebaut und die überschaubare Menge an Leuten beeilte sich, nach Hause ins Warme zu kommen.

Wir hatten unser Opfer schnell gefunden. Ein Mann mittleren Alters in einem vornehmen Mantel, der einen Beutel voll Teeblätter kaufte. Er war groß und sein dunkles Haar wurde beinahe vollständig von einem schwarzen Hut verdeckt. Gerade verließ er den Teestand. Ich schickte ihm Leana hinterher und folgte ihr dann in kurzem Abstand. Sie rannte die Straße hinunter wie ein Fohlen in vollem Galopp, streifte besagten Mann beim Überholen an der Seite, stolperte und fiel der Länge nach auf das harte Pflaster. Direkt vor seine Füße. Er blieb stehen und beugte sich zu ihr hinunter.

„Das kommt davon, wenn man so unbedacht durch die Menge fegt“, hörte ich ihn sagen. Ich war ihm jetzt ganz nahe.

Leana ließ sich von ihm auf die Beine ziehen und wischte sich die aufgeschürften Hände am Stoff ihrer Jacke ab. „Danke. Das nächste Mal pass ich besser auf.“

Da war ich schon vorbei, der Mann lief weiter und Leana suchte mich zwischen den Leuten. Als sie mich gefunden hatte, sah sie mich fragend an. Ich grinste und zog, als wäre ich ein Zauberer, einen prall gefüllten Geldbeutel aus meiner Jackentasche.

Nachdem wir in einem – zu unserem großen Bedauern unbeheizten – Wirtshaus unseren Durst gestillt hatten, standen wir nun vor dem Schaufenster der Metzgerei und uns lief bei dem sich uns bietenden Anblick das Wasser im Mund zusammen: Wurstketten, Schweinekeulen, Rippen, Schinken und sogar komplette Hälften von Schweinen, deren Ohren traurig gen Boden hingen. Im Waisenhaus hatte es nicht oft Fleisch gegeben. Dafür viel Haferschleim und altes Brot. Ich hörte Leanas Magen knurren.

„So viel Fleisch!“, entfuhr es ihr in andächtigem Ton.

„Was würdest du als Erstes essen?“, wollte ich wissen.

Sie schenkte mir ein schelmisches Grinsen. „Das da.“ Sie deutete auf ein halbes Schwein. „Und danach die Wurstkette.“

„Du könntest sie dir wie einen Schal um den Hals binden. Und immer wenn du hungrig wirst, brauchst du nur den Kopf zu senken und daran zu knabbern.“

Leana lachte. „All die feinen Damen hier würden mich um solch einen Schal beneiden.“

In diesem Moment riss jemand von innen die Ladentür auf und ein Glöckchen bimmelte in schrillem Ton. Ein stämmiger, groß gewachsener Mann steckte seinen glatt rasierten Kopf heraus und sah uns fragend an. „Wollt ihr den ganzen Abend vor meinem Laden stehen und euch die Bäuche reiben oder habt ihr auch Geld, um etwas zu kaufen? Wenn ja, kommt herein und wärmt euch auf, wenn nicht, dann verschwindet lieber.“

Drinnen war es wohlig warm. Erst jetzt bemerkte ich, wie durchgefroren ich wirklich war. Es tat gut, sich wieder einmal in einem Gebäude zu befinden, Wärme zu spüren, Essen vor sich zu sehen und Geld in der Tasche zu haben. Das erste Mal an diesem Tag fühlte ich mich beinahe glücklich.

Der unaufdringliche Duft von Schweinewurst hing in der Luft, und wenn ich die großen Schenkel an den Haken hängen sah, die beinahe menschlich wirkten mit ihrer blassen Haut und dem roten Fleisch, fühlte ich mich für einen kurzen Augenblick in einen dieser Albträume hineinversetzt, die zu schrecklich waren, als dass man sich vollständig an sie erinnern konnte.

Der weiß gekachelte Ladenbereich der Metzgerei war nicht sehr groß, doch durch eine halb geöffnete Tür konnte man in einen zweiten, größeren Raum blicken, in dem ich einen Holztisch und ein darin versenktes Beil erspähen konnte.

Der Metzger stand hinter einer gläsernen Theke, durch die wir freien Blick auf die feinsten Fleischsorten hatten. Hinter ihm hingen die schrecklich aufgespießten Schweinehälften und -beine. Nahezu bedrohlich lehnte er sich über den Rand der Glasscheibe und blickte auf uns hinab. Unter der Haut seiner aufgestützten Arme spielten kräftige Muskeln. Seine weiße Schürze war mit getrocknetem Blut beschmiert. Ich musste nicht zu Leana hinübersehen, um zu wissen, dass sie sich vor diesem Mann fürchtete. Ich konnte es förmlich spüren.

„Nun?“ Seine brummige Stimme klang ungeduldig.

Ich deutete auf eine schmale hellbraune Wurstkette. „Zwei davon.“

Eine der buschigen Augenbrauen sprang in die Höhe. „Nur zwei? Und dafür verschwendet ihr all meine kostbare Zeit?“

Leana übernahm ihren Teil des Schauspiels, so wie wir es zuvor besprochen hatten. „Wir haben nicht genug Geld für mehr als das.“

Der Mann seufzte. „Das habe ich mir gedacht. Sechs Kiesel. Habt ihr das?“

Ich suchte in meiner Hosentasche nach den Münzen, die ich eine nach der anderen herausfischte. Sorgfältig hatte ich zuvor den Geldbeutel nach Kupfer durchsucht. Es gab keinen Grund, dass jemand erfuhr, wie viel Geld wir wirklich besaßen. Abgemagerte Kinder mit schmutziger Kleidung, die mit Silbermünzen um sich warfen, gerieten nur allzu schnell in die Fänge der Stadtwächter. Aber nicht wir.

Ich ließ die Münzen in die ausgestreckte Hand des Metzgers fallen und er reichte uns die Würste. Leana, ausgehungert, wie sie war, biss sofort hinein und begann unter den Augen des Mannes, eifrig zu kauen. Ich ging zur Tür hinüber, Leana folgte. Wir waren schon beinahe zurück auf der Straße, als wir einen tiefen Seufzer hörten, gefolgt von einem widerwilligen „Wartet!“. Wir drehten uns zum Metzger um, der hinter der Theke hervorgekommen war. „Wisst ihr, wo ihr heute Nacht schlaft?“, wollte er mit Blick auf die zusammengerollte Decke unter meinem Arm wissen.

Leanas Augen wanderten fragend zu mir hinüber. „Wir werden schon etwas finden“, erwiderte ich zögerlich.

Die linke Augenbraue des Mannes ging in die Höhe. „Es wird sehr kalt werden heute Nacht.“

„Daran kann ich leider nichts ändern, mein Herr“, sagte ich und wollte mich abwenden.

„Ich wüsste da etwas für das Mädchen.“

Mein Herz machte einen Hüpfer, doch ich blieb misstrauisch. Erst sah ich Leana in die Augen, dann dem Metzger. „Und was wäre das?“

Der Mann schaute mitleidig zu Leana hinunter. „Ich habe eine Tochter in deinem Alter, weißt du?“ Und dann an mich gewandt: „Meine Nachbarn brauchen ein neues Küchenmädchen. Ich könnte ein gutes Wort für sie einlegen. Und auch fragen, ob sie Verwendung für einen jungen Burschen wie dich haben.“

„Was verlangen Sie dafür?“, fragte ich und der Mann schenkte mir einen schiefen Blick.

„Was ich dafür ... Seid ihr aus dem Waisenhaus im Ring?“

Leana nickte langsam.

„Dann wundert mich gar nichts“, murmelte er. „Wieso geht ihr nicht dorthin zurück? Immer noch besser, als auf der Straße zu leben bei diesem Mistwetter.“

„Es ist überfüllt. Die Ältesten müssen gehen“, erklärte ich.

Der Metzger nickte verstehend und strich sich nachdenklich über den kahlen Kopf. „Na, dann kommt mal mit, ihr beide.“

Bevor wir die Metzgerei verließen, drückte uns der Metzger noch jeweils eine Scheibe Schinken in die Hand und warf sich einen dicken Wintermantel über die Schultern. So einen hätte ich auch gerne gehabt für mich und Leana, als uns die kalte Luft von Neuem umfing.

Wir mussten nicht besonders weit laufen, denn der Mann, der sich uns als Roman vorstellte, wohnte nicht weit von seinem Arbeitsplatz entfernt im Villenviertel, durch das wir hergekommen waren. Sein Haus war groß und schön, doch das seiner Nachbarn war größer und schöner. Ein zweistöckiges weißes Gebäude ragte vor uns aus dem Boden, an dessen Wänden die kahlen Ranken einer Pflanze emporkletterten. Im Sommer musste es sehr schön aussehen. Wer immer Romans Nachbarn waren, sie mussten einen Haufen Geld verdienen.

„Wartet hier“, sagte Roman und ließ uns am hohen Gartentor zurück.

„Es ist zu schön, um wirklich wahr zu werden. Zu einfach“, murmelte Leana leise.

Ich lächelte ihr ermutigend zu. „Auch arme Leute haben manchmal Glück. Sie suchen ein Küchenmädchen und du hast schon oft in der Küche gearbeitet. Ich wüsste nicht, weshalb sie dich nicht einstellen sollten.“ Vielleicht klang meine Stimme eine Spur zu zuversichtlich, um sie zu überzeugen, denn ihr Blick blieb skeptisch.

„Ich schon. Weil ich eine Waise bin und niemand will Waisen bei sich haben. Außerdem werde ich sowieso nicht hierbleiben, falls sie dich nicht wollen.“

Ich sah sie streng an. „So eine Möglichkeit lässt du dir unter gar keinen Umständen entgehen. Du kennst mich, ich komme sehr gut allein zurecht.“

„Ohne dich bleibe ich nicht.“

„Doch, das wirst du. Und vielleicht können wir ja auch beide bleiben.“

Leana schluckte schwer und blickte mich mit ihren großen Augen an. Sah ich da etwa Tränen in ihren Augenwinkeln glänzen? „So funktioniert das Leben aber nicht, Aron.“

Ich stellte mich dumm. „Wie funktioniert das Leben denn?“

„Durch Abschiede“, sagte sie traurig.

Nur allzu gut wusste ich, dass sie recht hatte. Ich machte einen Schritt auf sie zu und schloss sie in meine Arme. Ich drückte mein Gesicht an ihren Kopf und ihr Haar wehte sacht gegen meine Wange. „Nicht immer. Außerdem wirst du mich nicht so schnell los, ich bin hartnäckiger als ein schlimmer Husten.“

Sie lachte in den Stoff meiner Jacke hinein. „Und genauso unangenehm.“

Zur Strafe für ihre Frechheit pikste ich sie in die Seite und sie löste sich quiekend von mir. In diesem Moment kehrte Roman zum Gartentor zurück und öffnete es. „Kommt herein“, sagte er und das Lächeln um Leanas Mund verschwand.

Die weißen Kiesel des Gartenweges knirschten unter unseren Sohlen wie die Zähne eines alten Mannes, der uns nicht bei sich haben wollte. Doch wir gingen weiter. Roman hielt uns die breite Haustür auf und bedeutete uns einzutreten. Der Flur dahinter war hell und hoch, an der Wand zu unserer Linken hing ein gewaltiger Spiegel. Es war das erste Mal seit Langem, dass ich mein eigenes Abbild so klar und deutlich vor mir sehen konnte: ein schlaksiger, hochgewachsener Junge mit blasser Haut und zerzausten schwarzen Haaren. Die ebenso pechschwarzen Augen starrten mir mit einer Mischung aus Misstrauen, Sorge und Erschöpfung entgegen. Ich musste wirklich an meinem Gesichtsausdruck arbeiten, wollte ich nicht, dass man an ihm ablesen konnte, was ich gerade dachte oder empfand. Augenblicklich verhärteten sich meine Züge und meine Augen bekamen einen abweisenden Glanz. Schon besser.

Ich blickte zu Leanas Spiegelbild neben mir. Sie wirkte so klein und hilflos. Ihr vom Wind verwirbeltes Haar umrahmte ihr viel zu schmales Gesicht und betonte ihre riesigen braunen Augen, die sich nervös im Flur umschauten. Ihr Kopf war leicht gesenkt und ihre Schultern angehoben, wodurch sie an ein verängstigtes Tier erinnerte.

Ich griff nach ihrer Hand und drückte diese kurz. „Alles wird gut werden.“

Roman zog hinter sich die Tür ins Schloss und schob uns weiter, tiefer hinein in den Schlund des Hauses. Wir betraten einen großen Raum mit hohen Fenstern, durch die das schwindende Licht des Tages fiel. Eine lange Tafel aus dunklem Holz halbierte den Raum, um den ein Dutzend samtiger Stühle platziert war. Auf einem davon saß eine Frau mit gelangweilter Miene. Sie machte sich nicht die Mühe, aufzustehen und uns zu begrüßen. Doch wir waren auch keine Gäste. Ihr graubraunes Haar war durch eine Hochsteckfrisur gebändigt worden und ihr schlanker Körper in einem zu eng geschnürten Kleid gefangen. Ihre Augen waren kalt und ihr faltiges Gesicht ausdruckslos. Von ihr konnte ich noch viel lernen.

„Hallo“, sagte Leana schüchtern und machte einen halbherzigen Knicks.

Abschätzend wurde sie von der Frau am Tisch gemustert. Ihre schmale Hand strich dabei über die polierte Oberfläche, als liebkoste sie den hölzernen Gegenstand. „Du bist also die ... Waise.“ Zu mir sagte sie nichts, sie würdigte mich nicht eines Blickes.

Ich überlegte, „Und ich bin auch eine!“ zu rufen, hielt mich aber zurück. Im Waisenhaus hatte man mir immer wieder unterstellt, dass ich zu vorlaut und unhöflich wäre. Dagegen konnte ich nicht viel tun, außer meinen Mund zu halten. Und das tat ich. Ich wollte nicht riskieren, Leana um ein neues Heim zu bringen. Dass es für mich eher düster aussah, daran hegte ich spätestens nach dieser frostigen Begrüßung keinen Zweifel mehr.

Roman nahm neben der Frau Platz und stellte sie uns vor, da sie scheinbar nicht selbst dazu in der Lage war. „Das ist Ernestine, die Frau des angesehensten Geschäftsmannes in ganz Felsburg. Sie ist meine geschätzte Nachbarin und Freundin.“ Das letzte Wort betonte er auf seltsame Weise, sodass ich ihm keinen Glauben schenken konnte. Ohnehin wirkte das Bild der beiden für mich mehr als bizarr: der glatzköpfige Metzger mit seiner blutverschmierten Schürze unter dem geöffneten Mantel neben der feinen Dame, die in edle Stoffe gehüllt war. Sah man sie so, konnte man kaum glauben, dass sie aus derselben Nachbarschaft stammten. Und noch viel weniger, dass sie Sympathien füreinander hegten.

Ernestine durchbohrte Leana mit ihrem Blick und ich bemerkte, wie Letztere immer mehr in sich zusammensank. Am liebsten hätte ich wieder ihre Hand gedrückt.

Leana ließ sich schnell einschüchtern. Auch die Heimaufseherinnen hatten sie immer verängstigt. Und jedes Mal, wenn ich sie so sah, bekam ich Angst, sie könnte wieder in den Zustand zurückversetzt werden, in dem ich sie kennengelernt hatte. Nie wieder wollte ich diesen leeren Blick in ihren Augen sehen, denn dann hätte sie mich verlassen. Meine einzige Verbündete auf dieser Welt. Dann wäre ich wieder allein wie zuvor, und was hätte ich dann noch? Was war ein Mensch ohne die Gesellschaft anderer Menschen? Nichts. Doch ich wollte kein Nichts sein.

Ich räusperte mich kurz, um den Bann der bösen Hexe zu brechen. Und tatsächlich, es funktionierte. Ihr bohrender Blick wanderte zu mir. Sie wirkte beinahe überrascht, mich dort mit der löchrigen Decke unter dem Arm stehen zu sehen, als hätte sie meine Anwesenheit völlig vergessen. Ich machte eine übertriebene Verbeugung und setzte mein freundlichstes Lächeln auf, was mir bei ihrem Anblick nicht gerade leichtfiel. Meine Gesichtsmuskeln waren in letzter Zeit etwas eingerostet.

„Wir sind beide sehr erfreut, Sie kennenzulernen, gnädige Frau. Mit wir meine ich dabei Leana und meine Wenigkeit, Aron.“

„Gute Güte, Junge, setz dich, du machst mich ja ganz nervös, wie du da herumstehst mitten in meinem Esszimmer.“

Ich unterdrückte einen Würgereiz beim Klang ihrer übertriebenen Stimme, doch ich gehorchte und Leana folgte mir.

„Du nicht!“, rief Ernestine streng und Leana blieb wie angewurzelt stehen, während ich viel zu laut die Stuhlbeine über den Boden zog in der Hoffnung, einen bleibenden Striemen im Boden zu hinterlassen. Dann ließ ich mich auf dem weichen Polster nieder. Mein Hinterteil hatte nie bequemer gesessen.

„Bring mir ein Glas Wasser“, sagte sie an Leana gewandt.

„Woher?“, piepste diese verunsichert.

„Aus der Küche natürlich.“ In diesem Moment begann ich, Ernestine zu hassen.

Leana sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. „Ich weiß nicht, wo die Küche ist.“

Ernestine klatschte zweimal kurz in die Hände und Leana suchte hilflos meinen Blick. Ich nickte ihr aufmunternd zu und sie entspannte sich ein wenig.

Ein Mädchen trat in den Raum, vielleicht ein paar Jahre älter als ich. Sie trug ein dunkles, schlichtes Kleid und darüber eine Schürze. Ihr braunes Haar war streng nach hinten gekämmt und ihre Augen genauso ausdruckslos wie die der Frau, für die sie arbeitete. Man musste wohl innerlich abgestorben sein, um unter einem Dach mit der werten Dame Ernestine zu leben. Ich wollte Leana um keinen Preis in einer solchen Gesellschaft zurücklassen. Doch die andere Wahlmöglichkeit wäre ein Leben auf der Straße. Im Winter. Ernestine schien dagegen das kleinere Übel zu sein. Wenn auch nur um Haaresbreite.

„Tilda, zeig der Waise die Küche.“

Tilda nickte und machte auf dem Absatz kehrt. Leana folgte ihr mit unsicherem Schritt.

„Wie geht es den Kindern?“, wandte sich Ernestine in gelangweiltem Ton an Roman.

Er lächelte höflich. „Danke, gut. Wie geht es Eckart?“

„Er packt gerade oben seine Sachen für die Reise zusammen. Ich würde dich ja für einen Plausch unter Männern zu ihm hinaufschicken, doch er will nicht gestört werden.“

Ich legte meine Hände, die ich seit dem Fluss nicht mehr gewaschen hatte, auf den Tisch und spielte mit dem Zipfel der schmalen Tischdecke.

Ernestine warf mir einen eisigen Blick zu und verzog dann ihren Mund zu einem hässlichen, aufgesetzten Lächeln. „Junge, hier wurde gerade erst geputzt. Sei also so gut und fasse so wenig wie möglich an.“ Das Lächeln verschwand augenblicklich wieder.

Ertappt hielt ich die Hände in die Höhe und riss die Augen weit auf. Dann legte ich sie zurück auf meinen Schoß. „Waise Nummer zwei bittet untertänig um Verzeihung“, murmelte ich.

Sie blickte mich scharf an. „Hast du etwas gesagt?“

Nun war ich es, der gespielt freundlich lächelte. „Ich bitte Sie um Verzeihung.“ Ich glaubte, so etwas wie ein Schmunzeln in Romans Gesicht zu erspähen.

Leana kehrte aus der Küche zurück, auf der einen Hand balancierte sie ein Tablett mit einem Glaskrug voll kristallklarem Wasser und einem Weinglas. Sie begab sich an die rechte Seite von Ernestine und stellte das Glas auf dem Tisch ab. Dann schenkte sie elegant ein, die andere Hand auf dem Rücken, ohne dabei auch nur den winzigsten Tropfen zu verschütten.

„Manieren hat sie zumindest“, sagte Ernestine zu dem Metzger und einmal mehr fragte ich mich, was für ein Leben Leana wohl vor dem Waisenhaus geführt hatte.

„Bring das weg und komm dann wieder“, befahl Ernestine in herrischem Ton und Leana schwebte wieder davon. Dann erhob sie sich und mit ihr Roman. Also stand ich auch auf.

„Junge“, sagte sie zu mir, „das Mädchen werde ich behalten. Es tut mir leid, aber für dich habe ich bedauerlicherweise keine Verwendung.“ Als ob ich der dreizehnte, überflüssige Samtstuhl zu ihrem Tisch wäre.

Wie ich es mir schon gedacht hatte. Dennoch war ich erleichtert, Leana versorgt zu wissen, geschützt vor Kälte und Hunger. Dann machte es jetzt wohl auch nichts mehr, den Vorhang der Höflichkeiten fallen zu lassen. „Ich kann Ihnen also nicht das Wasser reichen? Nun, Sie mir auch nicht.“

Empört riss Ernestine den Mund auf, um etwas ebenso Unhöfliches heraussprudeln zu lassen, doch da legte ihr Roman beruhigend die Hand auf die Schulter.

„Was erlaubt der sich eigentlich?“

Der Metzger schmunzelte wieder kaum merklich. „Er hat doch nur einen Scherz gemacht. Du kannst es ihm nicht verdenken, er ist aus dem Ring und weiß es nicht besser.“

Ich nickte mit gespielt reuevoller Miene. „Ich wollte Sie wirklich nicht kränken.“ Zu dick aufgetragen?

Leana kam zurück und stellte sich eingeschüchtert vor die Dame des Hauses.

„Ich habe gute Neuigkeiten für dich, mein Kind. Du darfst dir das Gesicht waschen und dann in der Küche putzen. Tilda wird dir alles zeigen.“ Mit diesen Worten rauschte sie aus dem Raum.

Leana sah ihr fragend nach. Sie wartete darauf, zu hören, dass ich ebenfalls bleiben durfte.

Roman fasste ihr Zögern falsch auf und raunte ihr erklärend zu: „Du bist eingestellt, Mädchen.“

Leanas Augen wanderten zu mir hinüber. Ich schüttelte entschuldigend den Kopf. Panik kehrte in ihren Blick zurück. „Du verlässt mich?“ Ihre Stimme zitterte leicht.

„Ich komme dich besuchen.“

„Lass mich hier bitte nicht allein! Wenn du gehst, gehe ich auch.“

Ich packte sie bei den Schultern. „Sei nicht dumm, Leana. Du wirst es hier gut haben. Besser jedenfalls als da draußen.“ Ich deutete aus dem Fenster.

Jetzt stiegen ihr Tränen in die Augen. „Und was ist mit dir?“

Ich lächelte. „Mach dir um mich keine Sorgen. Ich hab da schon eine Idee.“

Ein Hoffnungsschimmer zwischen dem Tränenschleier. „Wirklich? Was für eine?“

Ich grinste sie an. „Eine brillante. Ich erzähle dir alles, wenn ich dich besuchen komme.“

„Wann?“

„Ganz bald. Und jetzt gib mir eine Umarmung.“ Ich breitete die Arme aus. Sie schmiegte sich an mich und ich ließ einen Teil der gestohlenen Münzen in ihre Jackentasche gleiten: elf Silbermünzen. Immerhin war es auch ihr Verdienst gewesen. Sie bemerkte das zusätzliche Gewicht in ihrer Tasche, wollte protestieren, wurde sich jedoch Romans Anwesenheit bewusst und schwieg daher, als ich mich sanft von ihr löste.

„Bis bald“, sagte ich und ließ Leana stehen, diese kleine Person in diesem viel zu großen Haus.

Kalt ist die Welt

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