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ODYSSEE EINES ARRESTANTEN

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Ich liege im Lazarett des Außenlagers Rom-Ju. Vor einer Stunde hat mir ein kleiner, fröhlicher Feldscher freimütig erklärt, dass meine Tage wohl gezählt seien und ich es nicht mehr lange machen würde. Ich merke auch selbst, dass es schlecht um mich steht. Außenlager 3 hat mir den Rest gegeben.

Die kleine Nachtlampe brennt und beleuchtet die hölzernen Pritschen mit ihrem trüben Licht.

Es ist ein Uhr nachts. Hinter der Zeltwand rauscht leise die Taiga und singt uns allen die Totenmesse.

Vielleicht bringen sie mich morgen schon auf den Friedhof von Rom-Ju. Mein kurzes Leben – unsinnig und unnütz. Sterben mit zweiundzwanzig!

Mit schrecklicher Klarheit denke ich an den Beginn meiner Häftlingskarriere zurück.

Ljubjanka 2

Mein Herz schlug heftig, als ich in Begleitung zweier NKWD-­Leute vor dem Eingang der Ljubjanka 2 aus dem Auto stieg. Gleich würde ich an zwei statuengleichen Wachposten vorbei durch die Tür gehen, in jenes berüchtigte Gebäude, über das in jeder Moskauer Familie im Flüsterton alles Mögliche erzählt wurde.

Es war April, ein klarer, warmer Aprilmorgen. Langsam begann es hell zu werden. Die Durchsuchung hatte die ganze Nacht gedauert, und die Gesichter der beiden Beamten erschienen morgendlich unangenehm-bleich. Hier und da waren die ersten Passanten zu sehen. Zwei von ihnen, die gerade am Eingang vorbeigegangen waren, blieben für einen kurzen Moment stehen, als sie unser herankommendes Auto bemerkten, warfen einen erschrockenen, teilnahmsvollen Blick auf mich und eilten sogleich weiter: Es war nicht ratsam, sich lange vor Gebäuden wie der Ljubjanka 2 aufzuhalten.

Ljubjanka 2 war das ehemalige Gebäude der Versicherungsgesellschaft »Rossija«, das die Bolschewiki in ein ausgeklügeltes Gefängnis verwandelt hatten. Es steht mitten im Herzen Moskaus, direkt im Zentrum gegenüber der früheren Mauer von Kitai-Gorod. Den vergleichsweise angenehmen Empirestil, in dem das Haus erbaut worden war, hatte man durch die drei oberen Etagen sozialistischer Geschmacklosigkeit verhunzt, die, wenn ich nicht irre, schon unter Jagoda aufgestockt wurden. Ihm waren die Mauern der Besitztümer seines Vorgängers Menschinski wohl zu eng.

Dieser »staatliche Horror« also erwartete mich.

Eine schwere, bluttriefende Atmosphäre umgibt dieses Golgota. Nur aus den Augenwinkeln schauen die Menschen in seine Richtung, wagen es kaum, den verschüchterten Blick zu heben. Begegnet ihnen auf dem Platz einer der weit ausholend, frech voranschreitenden Tschekisten mit blutroten Kragenspiegeln und einer dicken Aktentasche voller »Rechtsfälle«, fragen sie sich: Vielleicht ist er es? Mein künftiger Peiniger, oder der meines Vaters, meines Bruders, meiner Mutter? Vielleicht ist er es, der den Abzug des Revolvers drücken und mit einem Genickschuss das Leben eines hilflos zur Mauer gewandten Menschen, eines meiner Lieben oder irgendwann einmal auch mein eigenes beenden wird?

Wir gehen durch die Vorhalle, durch immer neue Türen, steigen fünf, sechs Stufen hinab und betreten einen großen Raum ohne Fenster. Grelle, große matte Lampen. Hinter einer niedrigen, bis zur Gürtellinie reichenden Absperrung Tische voller Papiere und Akten. Unzählige Papiere und Akten auch in den Wandregalen, die fast bis zur Decke reichen. Uniformierte Tschekisten rascheln mit Papieren, blättern und suchen. Mit ausgebreiteten Armen steht ein wenig abseits der Absperrung ein völlig nackter Mann mit Hornbrille und bebender Unterlippe. Ich werde zu ihm geführt, man befiehlt mir, mich nicht zu rühren, und ich kann auf seinem Körper die für nervösen Schüttelfrost typische Gänsehaut sehen.

Ein Rotarmist, oder Popka, wie man in den Gefängnissen der gesamten Sowjetunion jene kleinen Henker nennt, die die Häftlinge durchsuchen, bewachen, eskortieren – tastet den Nackten unter den Achselhöhlen ab und fährt mit der Hand in seine Leisten­gegend.

»Haben Sie spitze Gegenstände bei sich?«

»Wie kann ein nackter Mann spitze Gegenstände bei sich haben?«, fragt die »Hornbrille« gereizt.

Man befiehlt mir, mich ebenfalls zu entkleiden. Die schwitzenden Hände fahren über meinen Körper auf der Suche nach spitzen Gegenständen, und auch ich bekomme, wie mein Leidensgenosse, eine Gänsehaut.

Dies ist die sogenannte Leibesvisitation.

Es gibt zwei Sorten von Bewachern. Die einen sind Rotarmisten, die ihren aktiven Wehrdienst in den Truppen des NKWD ableisten, Menschen, bei denen man spürt, dass sie diese Dinge notgedrungen tun und von denen man oft einen mitfühlenden Blick erhascht.

Die andere Sorte sind die Popkas – »kleine Ärsche« aus Berufung, gewissermaßen aus »Liebe zur Kunst«. Stumpfe, äußerst beschränkte Menschen ohne Beruf, denen die Arbeit in Gefängnissen und Lagern nicht nur einen guten Verdienst, sondern auch ein gewisses Vergnügen beschert. Zu dieser Sorte von Bütteln gehören wahrscheinlich auch die Ermittler. Zu dieser Kategorie gehörte auch der Popka, der mich untersuchte. Er führte die Leibesvisitation ausnehmend gründlich durch. Nicht eine Stelle meines Körpers blieb unabgetastet.

Die NKWD-Agenten, die mich verhaftet und hergebracht hatten, gingen fort, zufrieden, mich los zu sein. Der Popka warf mir meine Kleidung wieder zu, nicht ohne vorsorglich die Hosenschnallen und, warum auch immer, einige Knöpfe abgeschnitten und die Taschen entleert zu haben. Auch meinen Gürtel bekam ich nicht wieder. All diese Dinge werden den Menschen aus einem einzigen Grund weggenommen: um sie der Möglichkeit zu berauben, sich in der Zelle das Leben zu nehmen. Doch sind diese Mühen vergeblich: Wer wirklich vorhat, das verfluchte Leben zu beenden, nimmt einfach Anlauf und stößt mit voller Wucht und gesenktem Kopf gegen die Steinmauer des Gefängnishofs oder der Zelle. Ich wurde in einen angrenzenden Einzelraum geführt und an einen Tisch gesetzt. Man händigte mir einen Häftlingsfragebogen aus, wo ich außer den üblichen Fragen nach Namen, Geburtsjahr und so weiter alle meine Verwandten bis zur zehnten Generation beschreiben sollte. Die Frage nach meiner Zugehörigkeit zur Weißen Armee war für mich nicht zutreffend, da ich das Pech hatte, dass ich erst mit der Machtübernahe der Bolschewiki geboren wurde und zum Zeitpunkt meiner Verhaftung noch keine zwanzig Jahre alt war. Zweifelnd strich ich diesen Abschnitt durch. Die Buchstaben tanzten vor meinen Augen, nach der schlaflosen Nacht funktionierte mein Kopf schlecht.

Der Bogen ist ausgefüllt, ich unterschreibe. Ein neuer Popka führt mich die endlosen Korridore auf Parkettböden und Teppichläufern entlang. An den Übergängen von einem Korridor zum nächsten blitzen in den Ecken kleine rote Äuglein auf; wir treten wohl mit den Füßen auf irgendwelche unterm Teppich befindlichen Knöpfe, die Entgegenkommenden signalisieren, dass wir uns nähern. Kommt uns tatsächlich jemand entgegen, und ist ebenfalls ein Häftling dabei, packt die Begleitwache einen von uns sofort an der Schulter und dreht ihn mit dem Gesicht zur Wand. Eine Waffe tragen die Wachleute der Ljubjanka in der Regel nicht, zumindest nicht über der Kleidung.

Wir steigen ins Untergeschoss hinab. Ein kurzer Korridor mit links und rechts gelegenen Zellen, der sogenannte »Hundezwinger«. In der Mitte ein Diensthabender in weichen Filzpantoffeln, die er direkt über den Stiefeln trägt, um lautlos zu den Guck­löchern an den Türen schleichen und nachsehen zu können, wie sich die Häftlinge verhalten. Gleich links befindet sich eine Zelle mit Dusche. Ich entkleide mich erneut, um zu duschen.

Nass werde ich den Korridor entlanggeführt. Mit einer Hand halte ich die Hose fest, an der Gürtel und Knöpfe fehlen. Vor Zelle Nr. 4 bleiben wir stehen. Der Diensthabende steckt den leise klirrenden Schlüssel ins Schloss und fragt, mein Formular vor der Nase, im Flüsterton (in der Ljubjanka geschieht alles im Flüsterton – alles ist geheim! Überall ist es still, außer in den Unter­suchungsräumen und in den tiefsten Kellern):

»Name?«

Ich nenne meinen Namen. Der Schlüssel klickt, ich betrete die Zelle. Die Tür schlägt hinter mir zu. In der winzigen Zelle befinden sich drei am Fußboden festgeschraubte Eisenbetten. Ein Souterrainfenster mit dickem Gitter, das auf den Innenhof hinausgeht; von außen ist eine Blende angebracht, die nur den Blick auf ein Fetzchen vom Himmel frei lässt. Die auf den Betten liegenden Gestalten setzen sich sogleich auf. Einer, ein orientalischer Typ mit verbundenem Kopf, richtet den bohrenden Blick seiner fiebrigen Augen auf mich. Der andere, ein fülliger Mann von etwa fünfundvierzig bis fünfzig Jahren, mit einer seriös wirkenden Glatze, sieht mich blinzelnd an und erkundigt sich halblaut:

»Haben sie Sie schon verhört?«

»Noch nicht«, erwidere ich.

Ich geändert meinen kleinen Rucksack auf die freie Liege, setze mich und stütze den Kopf auf die Hände. Wenn ich nur wüsste, worin mein Verbrechen bestand!

Die beiden Häftlinge ließen mich, den Neuen »aus der Freiheit«, einen Augenblick zu mir kommen und stürzten sich dann begierig auf mich. Ich meinerseits erfuhr, dass es sich bei dem »Orientalen« um einen gewissen Kopylow handelte, Volkskommissar für Industrie auf der Krim, vormals Kommandeur einer Roten Division, die im Kaukasus agiert hatte. Auf seiner khakifarbenen Feldbluse waren von der früheren Erhabenheit nur noch drei Löcher für die von der Regierung verliehenen Orden geblieben. Auf meine Frage, wo denn die Orden jetzt seien, meinte Kopylow mit schiefem Grinsen, die habe man bei der Verhaftung abgeschraubt. Er saß seit einer Woche und wurde meines Wissens aller fünfzehn Punkte des berüchtigten Artikels 58 beschuldigt: sowohl des Vaterlandsverrats als auch der Spionage, der Unterminierung, der Sabotage …

Der Zweite war der Dichter Pjotr Parfjonow, Autor des bekannten Liedes »Durchs Gebirge, durch die Steppe«. Nach Parfjonows Verhaftung war die Autorenschaft auf geheimnisvolle Weise auf S. Alymow übergegangen, der sich in Freiheit befand und Loblieder auf den großen Stalin sang.

Dem Dichter wurde konterrevolutionäre und antisowjetische Agitation vorgeworfen.

»Wer hat Ihren Haftbefehl unterzeichnet?«

»Jagoda«, erwiderte ich.

»Dann sieht es schlecht für Sie aus«, tröstete mich Parfjonow.

Kopylow schob seinen Kopfverband zurecht und sagte mit heiserer Stimme:

»Ich warne Sie lieber rechtzeitig, junger Mann: Die Unter­suchung ist eine ernstzunehmende Sache. Vor allem halten Sie stand, unterschreiben Sie nicht jeden Blödsinn, den Ihnen der Untersuchungsrichter vorlegt, ziehen Sie niemand anderes mit rein. Halten Sie sich! Sehen Sie, was die mit mir gemacht haben?« Er zeigte auf seinen Kopf. Dann hob er seine Feldbluse an, und ich erblickte gleichmäßige blaue Striemen, die sich vom Bauch zur linken Brust zogen.

Auf dem Hof kommt im Stechschritt die Ablösung vorbei. Wider­hallend erklingt: »Wir dienen dem werktätigen Volk!« Wachwechsel.

Meine Zellengenossen können es beide nicht fassen, warum man mich, den Neuen, in eine Gemeinschaftszelle gesetzt hat. Vor dem ersten Verhör muss man in der Regel in eine Einzelzelle. Und tatsächlich, ihre Ankündigung, dass man mich doch noch in eine Einzelzelle bringen würde, bewahrheitete sich. Bald rührte sich etwas auf dem Korridor, und eine gereizte Stimme sagte:

»Wie kannst du denn … Sag bloß, du weißt das nicht …«

Der Popka kam herein und befahl mir, mich schleunigst fertig zu machen. Ich verabschiedete mich von Kopylow und Parfjonow und verließ die Zelle. Den Ersteren sollte ich nicht wiedersehen; erst acht Monate später, als ich in einer Zelle der Butyrka saß und mich durch Klopfzeichen mit einem Kameraden verständigte, erfuhr ich, dass Kopylow »zum Mond gefahren« war. Parfjonow begegnete ich im Gefängniskrankenhaus. Später erzählte man mir, dass man auch ihn erschossen habe.

Man führte mich in den Korridor und versetzte mich nach Einzelzelle Nr. 8. Kopylow rief ihnen nach: »Die Hochschule hat er schon absolviert! Ihr kommt ein wenig zu spät!«

Sie drohten ihm.

Die Zelle war klein, ohne Fenster. Irgendwo über mir glimmte trüb ein verstaubtes Lämpchen. Erschöpft zwängte ich mich in den Gang zwischen Wand und Eisenbett und fiel auf das Eisennetz.

Am Ende des Korridors hämmerte jemand verzweifelt gegen seine Tür und schrie: »Ich kann nicht mehr! Lasst mich raus, um Himmels willen, ich habe eine Frau und Kinder! Ich bin doch kein Verbrecher! Ich habe nichts getan, niemanden umgebracht, niemanden ausgeraubt!!«

Möglicherweise wurde seine Tür geöffnet, die Stimme erklang lauter: »Mein Ehrenwort, ich bin kein Verbrecher! Was macht ihr?! Au, meine Hand, meine Ha-and! Lasst sie …!« Offenbar hatte man ihm die Hände verdreht und den Mund gestopft.

Wieder herrschte Stille.

Ich war schrecklich müde. Aber (und auch das hat Methode in der Ljubjanka: den Menschen keinen Schlaf zu lassen) zehn Minuten später wurde ich wieder abgeholt.

Ich gehe zum ersten Verhör.

Ein Fahrstuhl. Fünfter Stock. Raum 517.

Wir haben April 1936. Zur gleichen Zeit werden im selben Gebäude die für einen grandiosen Prozess von staatstragender Bedeutung vorgesehenen Sinowjew und Kamenew und ihre vierzehn »Mittäter« verhört.

Das Verhör

Ein gut ausgestattetes, großes Arbeitszimmer. Gleich rechts neben der Tür ein weiches Ledersofa, links ein hoher Eichenschrank, der fast bis zur Decke reicht, direkt am Fenster zwei zusammengeschobene solide Schreibtische, die sich im glänzenden Parkett spiegeln; das vergitterte Fenster geht auf den Innerhof der Ljubjanka hinaus. Auf den Tischen Tintenfässer und massenweise »Beweisstücke« gegen mich: Handschriften, Fotos, Briefe, die man bei mir während der Durchsuchung konfisziert hat.

Am rechten Schreibtisch sitzt der Ermittler, ein gedrungener Mensch mittleren Alters in einer Uniform mit Schulterriemen. Er runzelt die dichten Brauen, während er meine »Beweisstücke« betrachtet. Nachdem er kurz zu mir aufgesehen hat, blättert er weiter in den Papieren. Auch der Assistent des Ermittlers, ein junger Bursche, der am zweiten Tisch sitzt, unterbricht seine Beschäftigung, die Reinigung eines brünierten Brownings, nicht.

Auf ein Zeichen des Ermittlers hin verließ der Popka den Raum und schloss hinter sich leise die Tür. Ich stand, die Hand auf der Lehne eines freien Sessels, und wartete. Gleich würde sich alles klären und natürlich würden sie mich nach Hause entlassen. Ich war doch kein Verbrecher, ich hatte ein reines Gewissen. Hier lag einfach ein ungeheuerliches Missverständnis vor.

Etwa zehn Minuten vergingen. Irgendwoher, vielleicht vom Ljubjanskaja-Platz, drangen dumpfes Autohupen und der mir nur zu gut bekannte vielstimmige Stadtlärm zu uns.

»Nehmen Sie die Hand vom Sessel«, verlangte der Ermittler mit leiser Stimme.

Gehorsam nahm ich sie herunter, obwohl ich mich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten konnte. Wollte er mich etwa nicht auffordern, mich zu setzen?

Der Ermittler warf seine Feder plötzlich hin, lehnte sich zurück und blickte mir lange unverwandt, prüfend in die Augen.

»Nu-un?«, sagte er dann gedehnt.

»Wem und welchen Umständen ich meine Verhaftung auch zu verdanken habe, Genosse Ermittler …«, sprach ich ihn an, wie ich es im Umgang mit Sowjetbürgern gewohnt war.

»Ich bin dir kein Genosse!«, brüllte er dazwischen, hieb mit der Faust auf den Tisch und fügte dann leiser hinzu: »Wofür hat man dich verhaftet? Immer dieselben Ausreden! Hier, unterschreib!«

Er gab mir ein Papier. Ich lese:

»Anklage wird erhoben wegen Verletzung des Artikels 58 Punkt 8, 10 und 11 des Strafgesetzbuches der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik.« Das bedeutete die Begehung terroristischer Handlungen gegen die Führer der Partei der Bolschewiki, konterrevolutionäre Tätigkeit und antisowjetische Agitation. Ein hübsches Sträußchen! Wenn das alles bestätigt würde, wäre mir der »Mond« sicher. Darunter stand: »Gelesen.« Nun gut, wenn nur das zu bestätigen ist, unterschreibe ich. Der Ermittler reißt mir das Blatt eilig aus der Hand und legt mir einen ganzen Stapel vollgeschriebener Blätter vor, die vor Fehlern nur so strotzten.

»Protokoll der Voruntersuchung in der Strafsache Nr. …«, stand auf dem Titelblatt. Seite eins begann folgendermaßen:

»Frage: Gestehen Sie, Mitglied einer konterrevolutionären terroristischen Studentenorganisation Moskaus zu sein?

Antwort: Ich gestehe. Zu unseren Zielen gehörte …«

Dann folgte in meinem Namen auf zwanzig oder dreißig Seiten eine Aufzählung aller geplanten Verbrechen.

»Nein, das kann ich nicht unterschreiben«, sagte ich und legte das »Protokoll« auf den Tisch.

»Warum?«, erkundigte er sich mit vorgespielter Verwunderung.

»Weil es nicht stimmt, ich bin in keiner solchen Organisation.«

Er sprang auf, beugte sich über den Tisch und brüllte mir, vor Erregung schäumend, ins Gesicht:

»Ne-ein?! Und, soll ich dir hundert Zeugen anführen? Ihr seid alle verhaftet, alle haben sie gestanden, sind alle hier, hie-er! Hier kann sich keiner rausreden! Wir kennen jeden eurer Schritte! Wo warst du am 5. Januar? In Makarows Wohnung! Worüber habt ihr gesprochen? Darüber, dass die sowjetische Studentenschaft die beste Plattform für die Konterrevolution darstellt … und dann, warst du nicht mit Freunden auf Sauftour im Metropol und hast die Gedichte des weißen Banditen Gumiljow rezitiert? Und bist nicht am 13. Februar mit dem Dichter Vira aus der Redaktion der ›Mursilka‹ gekommen und hast auf dem Roten Platz aufs Leninmausoleum gezeigt und einen antisowjetischen Witz erzählt? Na? So war’s doch? Wir wissen alles!«

Im ersten Augenblick brachte mich ihr Wissen um die Einzelheiten meines Lebens völlig aus der Fassung, doch dann wurde mir klar, dass er im Grunde nur reine Fakten wusste: wo ich hingegangen war, mit wem was ich getan hatte; die Inhalte meiner Gespräche hingegen waren entweder erfunden oder völlig entstellt.

Ein paar Fragen folgten, dann bot der Ermittler an:

»Setzen Sie sich doch. Möchten Sie rauchen? Nein? Schade. Soll ich was zum Essen bringen lassen?« Er streckte die Hand zu einem Knopf an der Wand aus. »Auch nicht? Schade. Nutzen Sie die Chance zu rauchen oder zu essen, es ist vielleicht Ihre letzte! Wenn Sie gestehen, sieht die Sache natürlich anders aus: zwei, drei Jährchen, die sitzen Sie ab und schon sind Sie wieder vollberechtigter Bürger der Sowjetunion. Wenn Sie aber … Im Übrigen wollen Sie sich doch nicht von Ihrem jungen Leben verabschieden …«

Ich genoss es, im Sessel zu sitzen – es war so bequem! Mir drehte sich ein wenig der Kopf, und bei aller Aufmerksamkeit verwirrten sich meine Gedanken.

»Soo-o.« Der Ermittler wühlte in meinen Fotos umher, sein Blick blieb für einen Moment am Gesicht einer Filmschauspielerin hängen, dann zeigte er mir ein anderes Bild.

»Erkennen Sie den?«

Der Mann, dessen Bild der Ermittler in der Hand hielt, war ein Ingenieur, ein hervorragender Kenner der Literatur und Freund der Jugend. Er pflegte zu unseren literarischen Abenden zu kommen, und manchmal fanden sie bei ihm in der Wohnung statt.

Der Ermittler teilte mir mit:

»Er ist der direkte Anführer eurer Organisation. Er ist Oberst, hat enge Beziehungen zu einem Feindesstaat. Sie sind sein Zuarbeiter bei sich in der Hochschule, Makarow in der Hochschule für Architektur, und Korin im Bergbauinstitut. Kontakt hatte er außerdem mit Woronski und Sosnowski, erbitterten Volksfeinden. Die Namen sind Ihnen hoffentlich bekannt?«

»Ich glaube nicht, dass er ein Konterrevolutionär ist.«

»Er glaubt es nicht! Ooh, was für eine falsche Schlange!«

Er hob sein Bein, trat mir geschickt gegen die Brust, und ich flog mitsamt dem Sessel um und stieß mir den Kopf am Fußboden. Mir drehte sich alles, die Decke verschwamm vor meinen Augen, doch ein paar Sekunden später erhob ich mich bereits langsam auf die Füße.

Schwankend stand ich da und versuchte das Geschehene zu begreifen.

»Wenn du nicht wie ein Mensch mit uns reden willst, können wir uns auch anders unterhalten«, drohte der Ermittler schwer atmend. »Wir werden mit dir nicht viel Federlesens machen, Gesindel. Vielleicht noch einen Prozess anstrengen? Wir knallen dich ab wie einen Hund.«

»Erledige ich«, sagte der Assistent dienstbeflissen, trat an mich heran und hielt mir die Mündung des Brownings an die Schläfe.

»Unterschreibst du?«

Meine Schläfe erstarrt unter dem kalten Stahl. Binnen eines Atemzugs laufen vor meinem inneren Auge Bilder meines fernen Zuhauses und meiner Lieben ab, kurze, unbedeutende Episoden aus meinem Leben. Einen Augenblick nur, und schon bin ich wieder in der schrecklichen Gegenwart. Gleich, jetzt gleich würde ich sterben. Vielleicht sollte ich unterschreiben? Oder doch gleich … ohne lange Qualen. Dann auf einmal ein Gedanke: Und wenn es nur Methode ist, ein Spiel? Sie können mich doch nicht einfach umbringen, ohne die erforderlichen Sanktionen! Außerdem brauchen sie mich noch, für das »Verfahren«.

»Naa-a?«, sagte der Assistent gedehnt.

»Halt! Nicht schießen!« Der Ermittler tat so, als wolle er seinen Kumpel zurückhalten.

Der Helfer stieß mit der Mündung des Revolvers gegen meine Schläfe und ging zur Seite. Der Ermittler lächelte genussvoll, tauchte seinen Federhalter in die Tinte und streckte ihn mir hin:

»Hier, unterschreib und geh schlafen. Essen lass ich dir kommen. Ruh dich aus. Hier … nimm!«

»Ich kann nicht«, presste ich mit Mühe heraus.

Ein heftiger Faustschlag ins Gesicht riss mich erneut von den Füßen. Ich wollte aufstehen, doch der Lederstiefel des Ermittlers drückte mich auf den Boden. Sie traten mich mit Füßen, bemüht, die empfindlichsten Stellen zu treffen. Ich krümmte mich, biss die Zähne zusammen und schützte mit den Armen meinen Kopf. Sie zerschlugen mir Nase und Mund, aus denen das salzige, klebrige Blut in Strömen floss … »Der Mensch – das klingt stolz.«

Leise erzittert der Fahrstuhl, der mich irgendwohin nach unten bringt.

Die Gegenüberstellung

Ich sitze auf meinem Eisenbett in der Einzelzelle; der Gefängnisarzt entfernt meinen Kopfverband. Beim letzten Verhör hat der Ermittler mir mit dem Revolvergriff den Kopf aufgeschlagen.

»Wie viele müssen Sie denn so am Tag verbinden?«, frage ich den Arzt.

Er schweigt beharrlich. Das macht mich wütend.

»Was hat das eigentlich für einen Sinn: verprügeln, dann kurieren, und nach zwei Tagen wieder verprügeln? Da können sie einen doch lieber gleich totschlagen …«

»Nicht reden«, sagt er leise, aber bestimmt.

Als der Verband ab ist, streut der Arzt ein Pulver auf die Wunde und teilt mir mit, ein Verband sei nicht mehr nötig. Ich protestiere, doch er nimmt die Binde und geht raus. Das Schloss klickt.

Ich falle auf die Eisenpritsche und schließe die Augen.

Ein ganzer Monat qualvoller, Körper und Seele zermürbender Verhöre liegt hinter mir. Zweimal verlor ich im Arbeitszimmer des Ermittlers das Bewusstsein, und man trug mich in die Zelle zurück. Auch in der Gummizelle war ich. So nennen sie den Karzer, in den sie ungehorsame Untersuchungshäftlinge eine Zeit lang einsperren. Wände und Fußboden dieser Zelle sind mit Gummi beschlagen. Kein Lichtstrahl, absolute Finsternis. Es ist stickig, kein Laut zu hören. Der Arrestant sitzt im Dunkeln und spürt um sich herum nur diesen klebrigen, wie blutverschmierten Gummi. Er kann noch so viel schreien, mit dem Kopf gegen die Wand schlagen – niemand reagiert. All das wirkt sich entsetzlich auf die Psyche aus; zwei Tage des Aufenthalts in dieser Zelle genügen, und der Häftling beginnt mit den Fäusten gegen die Gummitür zu schlagen und zu schreien, er sei bereit, jedes beliebige Protokoll zu unterschreiben, jede beliebige Selbstdiffamierung. Alles hier ist bedrückend und führt dazu, dass die Nerven bis zum Gehtnichtmehr angespannt sind: die Stille, die Dunkelheit, der ununterbrochene Kontakt mit dem klebrigen kalten Gummi des Fußbodens und der Wände; man hat das Gefühl, die gesamte Zelle sei voller Blut. Wenn man dann herauskommt, brennt das Licht unerträglich in den Augen, die nicht mehr daran gewöhnt sind, und man läuft, wenn man unter Aufsicht den Korridor entlanggeht, wie ein blindes Kätzchen gegen die Wände.

»Poch-poch. Poch-poch-poch-poch …«, klopfte es beharrlich aus der Nachbarzelle. Ich begann die Sprache der Gefängniswände schon ein wenig zu verstehen, konnte sie aber noch nicht nach dem Gehör aufnehmen und übermitteln. In den grauen Putz meiner Wand war das Klopfalphabet als Tabelle eingeritzt: je fünf Buchstaben horizontal und sechs vertikal. Das ist das Ljubjanker System. In der Butyrka ist es umgekehrt: sechs horizontal und fünf vertikal. Das Klopfen hatte mir mein Nachbar beigebracht, der in jeder verhörfreien Sekunde fünfmal entlang der Wand klopfte und, offenbar auf dem Bett stehend, sechsmal von der Decke bis zum Boden, bis ich begriff, wie es ging. Ich ritzte die Tabelle in meine Wand und begann Klopfzeichen mit ihm auszutauschen.

Ein Popka kam. Er befahl mir mitzukommen. Ich wunderte mich. Die Verhöre fanden sonst nachts statt, jetzt aber war Tag. Vielleicht sollte ich entlassen werden? Immer, selbst wenn die Lage noch so schlimm ist, blitzt bei einem Häftling im Stillen der Gedanke an die Freiheit auf, wenn er Schlüssel im Schloss vernimmt.

Aber nein. Schon war ich wieder im Untersuchungsraum. Der Ermittler saß am Schreibtisch und telefonierte:

»Sei mir nicht böse, Galotschka, ich schaffe es nicht zum Mittag … Wie? … Zum Abendessen? Zum Abendessen bin ich auf jeden Fall da. Versteh doch, hier ist eine Unmenge zu tun. Ja! Ruf Grigorjew an, es soll uns zum Sonntag zwei Karten fürs Bolschoi-Theater besorgen, für den ›Stillen Don‹, der hat Beziehungen, der besorgt sie. Bis dann, Galotschka!«

Der Ermittler legte den Hörer auf, lehnte sich im Sessel lässig zurück, sah mich an und hieß mich sitzen. Ich nahm Platz.

»Wie geht’s dem jungen Leben?«

»Geht so«, passte ich meinen Ton dem seinen an.

»Sehen Sie nur, draußen ist Frühling, Mai, Blumen, Mädchen. Sie aber sitzen und werden weiter sitzen, bis Sie gestehen.«

»Das ist unlogisch. Wenn ich irgendwas gestehe, sitze ich noch länger.«

»Unsinn! Das hier ist die Geheime Politische Abteilung des NKWD und nicht irgendeine Literaturkneipe. Hier geht alles nach Gesetz. Also, wie war Ihre Beziehung zu Dubow?«

»Gut.«

»Keine offenen persönlichen Rechnungen?«

»Nein.«

»So aufschreiben?«

»Können Sie.«

»Unterschreiben Sie!«

Ich unterschreibe.

»Jetzt nehmen wir eine Gegenüberstellung vor«, teilt mir der Ermittler lächelnd mit und drückt einen Knopf, der sich seitlich an seinem Schreibtisch befindet.

Aha, deshalb also wurde mir der Verband abgenommen.

Ich bin sehr aufgeregt, nehme meinen Herzschlag wahr. Gleich würde ich meinen Kommilitonen sehen, mit dem mich eine langjährige gute Freundschaft verbindet. Ich bin mir sicher, dass er nicht gegen mich aussagen wird, doch ein Treffen mit ihm unter solchen Umständen geht mir zu Herzen. Ungeduldig schaue ich auf die Tür.

In Begleitung eines Wachsoldaten betritt der bleiche Dubow den Raum; mit zitternden Händen knetet er seine Mütze und schaut den Ermittler erschrocken an, als würde er mich gar nicht sehen. Aufgrund des tadellos weißen Hemdkragens, der Krawatte und seines glattrasierten Gesichts begreife ich, dass er in Freiheit ist.

»Bürger Dubow«, sagte der Ermittler, »in Ihren Angaben haben Sie ihn (der Ermittler wies auf mich) letztens als Volksfeind beschrieben. Bestätigen Sie dies in seiner Anwesenheit.«

»Ja … ja«, stotterte Dubow verlegen.

»Was heißt hier ja, ja?«, unterbrach ihn der Ermittler wütend. »Berichten Sie ihm und mir ausführlich von seinen konterrevolutionären Aktivitäten!«

»Ja, ein Volksfeind«, fing Dubow an und verstummte. Sein tränenerfüllter Blick begegnete meinem, senkte sich schnell und erstarrte auf meiner nackten Schulter, die durch das zerrissene Hemd zu sehen war. Ich begriff, dass sich vor mir ein zuvor eingeübtes Theaterstück abspielte.

»In diesem Fall werde ich Sie daran erinnern«, sagte der Ermittler. »Hören Sie zu.«

Er begann eine umfangreiche Aufzählung meiner »Verbrechen« vorzulesen. Ein Großteil davon waren meine »Pläne, innerhalb der Moskauer Studentenschaft einen terroristischen Stoßtrupp gegen die Führer der kommunistischen Allunionspartei der Bolschewiki zu organisieren«. Diese Zeugenaussage endete ungefähr so: »In meiner Verantwortlichkeit eines ehrlichen sowjetischen Studenten erkläre ich, dass wir es mit einem ideologischen, heimtückischen und überzeugten Volksfeind zu tun haben.« Es folgte die Unterschrift.

Der Sprachstil, die stümperhaften Wendungen machten mir sofort klar, dass dies alles der Ermittler selbst formuliert hatte (Dubow war ein sehr intelligenter Mensch), und dass von Dubow nur die Unterschrift stammte. Ganz offensichtlich hatte man ihn vor ein Ultimatum gestellt: Entweder du unterschreibst oder du wirst selbst in der Ljubjanka sitzen. Dubow hatte natürlich Ersteres gewählt. Selbstverständlich musste er auch unterschreiben, das Ganze vertraulich zu behandeln.

Noch ein Detail: Auf den Seiten, die die Zeugenaussage meines Kameraden enthielten, befanden sich zwischen den Zeilen große Leerstellen. Diese Leerstellen würde der erfinderische Ermittler später mit selbst gebasteltem »Material« ausfüllen. Als Dubow das Dokument unterschrieb, konnte er das natürlich nicht wissen.

»Sehen Sie!«, sagte der Ermittler triumphierend. »Sogar Ihr bester Freund sagt Ihnen ins Gesicht, dass Sie ein Feind der Sowjetmacht sind. Sie aber wollen das nicht gestehen. Wie dumm von Ihnen! Dubow, unterschreiben Sie bitte Ihre Angaben. Und Sie, was sagen Sie zu Ihrer Rechtfertigung?«, wandte er sich wieder an mich.

Ich schwieg nachdenklich. Das hatten sie geschickt eingefädelt! Meine Rechtfertigung konnte ich nicht einmal mehr mit Rachegefühlen begründen: Ich hatte schließlich unterschrieben, dass ich mit Dubow keine Rechnung offen hätte. Und ich würde es auch nie fertigbringen, derart dreist zu lügen. Doch wie sonst konnte ich mich rechtfertigen?

»Ich werde vor Gericht die Wahrheit sagen. Sie haben ihm Angst eingejagt und ihn gezwungen, den ganzen Unsinn zu unterschreiben.«

Der Ermittler brach in Lachen aus und drückte den Klingelknopf.

»Ha! Und Sie denken, dass man Ihnen glauben wird? Sie sind ein sonderbarer Mensch …«

Ich sah Dubows gebeugter Gestalt nach, als dieser in Begleitung des Wachsoldaten den Raum verließ, und dachte an jenen fröhlichen, klugen, ehrlichen, wunderbaren Kameraden zurück, der er einmal gewesen war. Sollte ich ihn jetzt anklagen, weil er mein Leben zerstörte, um seines zu retten? Und würde es mir besser gehen, wenn zu den sieben oder acht Millionen politischen Gefangenen noch einer mehr hinzukäme? Tief in meinem Herzen rührte sich ein weiterer Gedanke, eine Hoffnung: Vielleicht würde er ja vor Gericht seine Aussagen zurücknehmen und den Richtern mutig erzählen, wie man ihn gezwungen hatte, diese schreckliche, üble Verleumdung zu unterschreiben.

Durch das Gitter des Fensters drang frühlingshafter, süßer Pappelduft in die Zelle.

Der Prozess

Gerichtssaal Nr. 4 des Moskauer Stadtgerichts.

Wir sitzen in der ersten Stuhlreihe. Direkt vor uns steht auf ­einem Podest ein großer Tisch, dahinter drei leere Armstühle; der mittlere ist höher und solider gebaut als die anderen, das ist der Richtersessel. Von der Wand blickt spöttisch, mit leicht zusammengekniffenen Augen Stalin auf uns herab.

Außer uns, den Angeklagten, befinden sich im Saal noch vier Wachsoldaten, die unbeweglich hinter uns stehen, sowie die Protokollantin, ein stupsnasiges, rotwangiges Mädchen, das links von uns an einem gesonderten Tischchen in irgendwelchen Papieren wühlt.

Aus dem Warteraum klingt Stimmengewirr. Dort sind unsere Angehörigen und auch einfach nur fremde Menschen, die alle auf unser Urteil warten. Die Fremden warten nicht aus purer Neugier, sondern um eine ungefähre Vorstellung davon zu bekommen, welches Schicksal ihre Brüder, Väter, Töchter erwartet, die noch in der Ljubjanka oder der Butyrka einsitzen und noch nicht an der Reihe sind, selbst vor dem »gerechtesten aller Gerichte, dem proletarischen Gericht« zu erscheinen.

Über uns richten wird bei geschlossenen Türen ein spezielles Kollegium, denn politische »Verbrecher« werden im Land der Sowjets unter Ausschluss der Öffentlichkeit verurteilt.

Das stupsnasige Mädchen erkundigte sich, ob wir mit der Anklageschrift bekanntgemacht worden seien. Als wir verneinten, reichte sie uns einen dicken Hefter: 352 Seiten!

Wir blätterten darin. Vernehmungsprotokolle, Protokolle der Zeugenaussagen, Fotos. Das war alles. Seltsam: es fehlten sämtliche an die Staatsanwälte gerichteten Beschwerden über die Misshandlungen der Ermittler, denen wir während der Verhöre ausgesetzt waren. Und wir hatten viele solcher Beschwerden eingereicht: an den Moskauer Staatsanwalt, an Generalstaatsanwalt Wyschinski, an den für die Kontrolle des NKWD zuständigen Staats­anwalt.

Auf unsere Frage, wo all diese Beschwerden geblieben seien, zuckte das Mädchen nur mit den Schultern und erwiderte nichts. Vielleicht würde das Gericht sich dazu äußern?

Ermüdendes, nervenaufreibendes Warten. Dann endlich öffnete sich rechts von uns eine Tür, und drei Männer kamen schnellen Schritts herein, zwei von ihnen in Zivil, einer in einer khakifarbenen Militärbluse und in Reithosen. Das waren die Richter: Iwanow, Pronin, Sedych. Den Vorsitz hatte Iwanow, der in der Militärbluse.

Zügig, wie Leute, die viel zu tun haben, nahmen sie ihre Plätze ein, und nach der offiziellen Gerichtseröffnung und dem Verlesen der Anklageschrift fragte uns der Vorsitzende Iwanow der Reihe nach, ob wir uns schuldig bekannten. Nachdem er von jedem von uns ein Nein vernommen hatte, lächelte er ironisch und wechselte Blicke mit den Beisitzern.

Er dachte einen Augenblick lang nach und fragte dann:

»Warum haben einige von Ihnen sich während der Untersuchung schuldig bekannt, leugnen jetzt aber ihr Verbrechen. Zum Beispiel Sie, Angeklagter Sharow …«

Mein Kamerad, der Student Sharow, erhob sich, und erkundigte sich, nachdem er um Erlaubnis gebeten hatte, wo denn die an die Staatsanwälte gerichteten Beschwerden abgeblieben seien.

»Haben Sie denn welche geschrieben?«, fragte Pronin schnell.

»Ja.«

»Wenn Sie welche geschrieben hätten, wären sie auch da«, entgegnete Iwanow und fügte hinzu: »Worum ging es denn darin?«

»Um unkorrekte Führung der Untersuchungen, man hat uns gequält, verhöhnt und gewaltsam gezwungen, die Protokolle zu unterschreiben.«

»Hat man Sie vielleicht auch geschlagen?«, fragte Iwanow mit spöttischem Lächeln.

»Nicht nur das! Man hat uns tage- und nächtelang gezwungen, auf der Stelle zu stehen, man ließ uns nicht schlafen, steckte uns die Mündung eines Brownings in den Mund, ließ uns im Karzer hungern, und …«

»Offenbar streben Sie an, dass ich Sie wegen Verleumdung des NKWD zur Verantwortung ziehe?«

Alles klar. Der NKWD und des Sonderkollegium des Moskauer Stadtgerichts waren vom selben üblen Schlag.

Anderthalb Stunden lang versuchten die Richter uns im Kreuzverhör die »konterrevolutionäre terroristische Organisation der Studentenschaft Moskaus« nachzuweisen, und als sie begriffen, dass sie mit »Terror« und »Organisation« nicht weiterkamen, warfen sie uns alle möglichen Nichtigkeiten vor: antisowjetische Witze, zweideutige Aussagen, die wir irgendwo getätigt hatten und die irgendjemand mitgehört hatte.

»Den Zeugen Dubow bitte«, befahl Iwanow dem Wachpersonal.

Die Zeugen waren unsere letzte Hoffnung. Sie alle waren Kommilitonen, einige von ihnen waren alte Freunde aus der Kinderzeit. Würden sie dem Gericht tatsächlich nicht erklären, dass alle Angaben den Köpfen der Untersuchungsrichter entsprungen waren, und dass von ihnen selbst nur die Unterschriften stammten? Würden sie tatsächlich nicht den Mut zur Wahrheit aufbieten?

Dubow kam herein und stellte sich schüchtern, möglichst weit von uns entfernt, vor den Richtertisch.

»Zeuge Dubow, ich erinnere Sie an Ihre Angaben, die Sie bei der Voruntersuchung gemacht haben.«

Iwanow suchte die entsprechenden Seiten heraus und las den in schlechtem Russisch abgefassten, von Dubow unterschriebenen Unsinn vor. Die meisten Anschuldigungen waren gegen mich und den Ingenieur Pawlow gerichtet, aus dem der Ermittler einen »Oberst der weißen Armee und den unmittelbaren Anführer der studentischen terroristischen Organisation« konstruiert hatte.

Nachdem die Verlesung beendet war, wandte er sich wieder an Dubow:

»Bei der persönlichen Gegenüberstellung haben Sie Ihre Angaben bestätigt. Was sagen Sie der Justiz?«

»Ich … bestätige alles.«

»Haben Sie etwas hinzuzufügen?«

»Nein.«

»Fragen an den Zeugen?«

Nein. Wir hatten keine Fragen.

Alle Zeugen traten so auf wie Dubow.

Uns wird das letzte Wort gewährt.

Was sollen wir sagen? Um Nachsicht bitten? Nein. Nein!

Wir verzichten auf das letzte Wort.

Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Wir warten auf das Urteil.

Die Türen öffnen sich weit, und alle, die es wünschen, dürfen der Urteilsverkündung beiwohnen. Ach, hätte man sie doch früher hereingelassen!

Der Saal füllt sich bis zum Bersten. Ich sehe die bleichen Gesichter meiner Familie: Sie geben mir Zeichen, aber ich kann sie nicht verstehen. Ich habe einen Kloß im Hals, wende mich ab und blicke auf Stalin. Er lächelt noch immer spöttisch.

Sie werden uns verurteilen, das ist gewiss. Die Frage ist, zu wie vielen Jahren.

Es herrscht eine Stille wie auf dem Friedhof. So wie man vor einem Toten nur flüstert, so auch im Gerichtssaal vor der Verurteilung.

Die Richter betreten den Saal. Alle erheben sich.

»Im Namen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik … Sonderkollegium … nach Prüfung der Anklage … geschlossener Gerichtsverhandlung … Anklage … Artikel … Punkt … aufgrund … … verurteilt zu … zwei Jahren Haft … vier Jahren Haft … fünf …«

Ein schlechtes Zeichen. Sie nennen zuerst die geringen Strafen, also die kurzen Haftstrafen, das heißt, am Ende kommt »Erschießen«. Von dieser Regel wissen wir seit den ersten Tagen unserer Haft.

»… Tod durch Erschießen.«

Eine Sekunde lang herrscht nach der Urteilsverlesung Stille im Saal, dann – Lärm, Schreie, Weinen … Ich wende mich um und blicke auf meine Mutter. Sie steht an die Wand gelehnt und hat die Augen geschlossen. Vater hält ihre Hände und sagt etwas. Seine Lippen sind aschgrau.

Das Wachpersonal stößt die Menge auseinander und führt uns ab nach unten, in die Zelle.

Ich suche mir zwischen den vielen Inschriften an der Wand eine möglichst saubere Stelle und ritze mit einem Nagel meinen Namen ein, daneben: »Fünf Jahre.« Dann übergebe ich den Nagel meinen Kameraden. Der Ingenieur Pawlow schreibt neben seinen Namen ruhig und schwungvoll: »Erschießung.«

Man trennt ihn von uns und führt ihn in die Todeszelle.

***

Das gelbe Licht der Petroleumlampe flackert leicht, seltsame Schatten kriechen über das Zeltdach. Ich liege mit offenen Augen da: zerschlagen, krank, innerlich leer, zwischen sterbenden Menschen, fern von meiner Familie, und denke an mein Leben zurück – daran, was für ein vergeudetes Leben es gewesen ist.

Taiga

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