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AUF TRANSPORT

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Der tiefe Frachtraum eines Lastschiffs. Man hört das Plätschern der Wellen gegen die Bordwand. Im Frachtraum befinden sich dreitausend Menschen. Hier und da brennt eine Petroleumlampe der Marke »Fledermaus« und wirft ihr schwaches Licht auf die kreuz und quer liegenden schlafenden Häftlinge. Es ist stickig, dämmerig, der Gestank nimmt einem die Luft. Neben mir sitzt Vater Sergij auf einer ausgebreiteten Joppe und murmelt halblaut vor sich hin. Er murmelt schon lange, leise und ruhig, in der immer selben Stimmlage. Wir befinden uns auf einem Gefangenentransport per Schiff nach Ust-Vym.

Im Bereich nebenan, hinter den Balken, die das Deck stützen, spielen die Kriminellen Karten. Sie ereifern sich, schreien und fluchen unflätig. Einen von ihnen kann ich sehr gut sehen. Er sitzt, mit dem Gesicht zu mir, mit bloßem Oberkörper da, beugt sich über die Kiste, die als Tisch dient und auf der eine Kerze flackernd ihr schwaches Licht verbreitet. Auf dem linken Auge ist er blind, das Gesicht ist voller großer Pickel. Offenbar hat er kein Glück im Spiel, er regt sich auf und schiebt die schmierigen Karten nervös hin und her.

»Schuss – Einwender … Schuss – Einwender …«

»Schuss!«, ruft sein Spielpartner, der mit dem Rücken zu mir sitzt, leise. Ich kann nur seine breiten Schultern und sein krauses Haar sehen.

Der Einäugige springt auf und zieht hastig, unter dem brüllenden Gelächter der beim Spiel zuschauenden Kriminellen, seine Hose aus.

»Zwanzig Rubel! Okay?«, fragt der Einäugige seinen Mitspieler und reicht ihm die Hose.

»Okay.«

»He, Senjka, gib auf!«, empfiehlt ein älterer Gauner dem Einauge. »Du verlierst sowieso!«

Aber der einäugige Senjka hört nicht auf ihn. Er zieht seine rutschende Unterhose hoch, setzt sich wieder, und das Spiel geht weiter. Aber nicht lange. Fünf, sechs Minuten später erneut brüllendes Gelächter – die Hose scheint verloren.

»Die kriegt Senjka nicht wieder«, meint einer fröhlich.

»Wart’s ab«, kontert der einäugige Ganove mürrisch und blickt sich nach allen Seiten um.

»Ich setze ein neues Tschackett.«

»Zeig her!«

»Na das da!«, erwidert Senjka und weist mit der Hand in den Bereich gegenüber.

Ich recke mich und blicke in die Richtung, in die Senjkas Hand weist, kann aber kein Jackett sehen. In dem Abschnitt liegen dicht an dicht schlafende Häftlinge; es ist dunkel dort, nur neben einem der Balken brennt ein Kerzenstummel; dort sitzt ein alter Mann mit weißem Bart und trinkt heißes Wasser aus einer Blechtasse. Das Gesicht des Alten kommt mir erstaunlich bekannt vor, aber mir fällt nicht ein, wo ich ihm begegnet sein könnte.

»Schuss – Einwender … Schuss – Einwender …«

»Los, Senjka, her mit dem Jackett!«

»Gleich gibt’s was zum Lachen!«

Senjka erhebt sich und steigt über die Schlafenden hinweg zu dem Alten. Ich spüre, dass da etwas Ungutes läuft, und spitze Ohren und Augen. Auch Vater Sergij hört auf zu murmeln.

»Was möchten Sie?«, fragt der Alte und hebt verwundert den Blick auf Senjka.

»Zieh dein Tschackett aus, Alterchen«, sagt Senjka und beugt sich zu dem alten Mann runter.

»Wieso das?«

»Was heißt hier wieso?«, wundert sich Senjka seinerseits. »Ich hab’s beim Kartenspiel verloren.«

»Ich bitte Sie! Dies ist mein Jackett!«

Die Schlafenden ringsum werden wach, heben die Köpfe, lauschen.

»Zieh’s aus, sag ich dir, Alter!«

»Na hören Sie mal … Das geht so nicht!«

»Los, du Scheusal! … Kontra dreckiger!«

Senjka holt aus und schlägt dem Alten mit vollem Schwung ins Gesicht, stößt ihn auf den nassen Holzrost und fängt an, ihm das Jackett vom Leib zu reißen. Alle sehen zu und schweigen; keiner will sich in die Sache einmischen.

»Nein … aber nein, das geht doch nicht, man kann doch nicht …«, sagt Vater Sergij und packt mich an der Schulter.

»Hilft mir denn keiner?«, schreit der Alte.

Wie auf Kommando springen etwa zwanzig Politische auf.

»Los, Kameraden! Das lassen wir nicht zu! Auf die Gauner!«

Wir stürzen zum Ort des Geschehens. Auch die Kriminellen springen auf. Matt blitzen in einigen Händen die Klingen. Gleich würde ein blutiges Handgemenge beginnen – doch die Kriminellen sind ein feiges Volk.

Als sie sahen, dass die Politischen in der Überzahl waren, räumten sie das Feld, ließen die Messer verschwinden und verzogen sich auf ihre Plätze. Der einäugige Senjka ließ von dem Alten ab, schwenkte eine Rasierklinge und trollte sich in seinen Bereich.

Der alte Mann lag schwer atmend auf dem Rücken und hielt die Augen geschlossen. Aus einer Wunde unterhalb seines Auges floss Blut: Senjka hatte ihm auf der Wange doch noch einen Schnitt versetzt. Ich half ihm, sich zu setzen, lehnte ihn gegen den Balken; jemand brachte Wasser. Die Wunde war nicht sehr tief, die Blutung konnte schnell gestoppt werden, und der Alte kam langsam wieder zu sich.

»Sie?!«, rief er verblüfft und blickte mich genau an. »Erkennen Sie mich denn nicht? Na ja, kann sein, ich hab ja jetzt einen Bart … Sacharow. Entsinnen Sie sich?«

***

Ich entsann mich sofort. Es war im Herbst gewesen, in Moskau, in der Butyrka. Die Untersuchung meines Falls war abgeschlossen und ich wurde aus der Untersuchungszelle in eine Gemeinschaftszelle verlegt. In der Zelle waren hundertsieben Menschen, obwohl sie für fünfundzwanzig ausgelegt war. Wir schliefen auf Doppelstockpritschen oder darunter oder auf speziellen »Nachttafeln« zwischen den Pritschen.

Am selben Tag brachte man gemeinsam mit mir, genauer gesagt ein paar Minuten nach mir, drei weitere Männer in die Zelle. Und so waren wir hundertelf Mann. Uns, die letzten vier, wies der Zellen-­Starosta die Schlafplätze unter den Pritschen neben der Tür zu; es gab eine Art Warteliste für die Pritschenplätze.

Ich freundete mich bald mit meinen neuen Bekannten an. Sie erwiesen sich als sehr interessante Menschen, vor allem zwei von ihnen: Oberst Duruntscha und Wesselowski. Beide waren frühere russische Emigranten aus Harbin. Nach dem Verkauf der Ostchinesischen Eisenbahn durch die Sowjetunion gingen sie jedoch gemeinsam mit zahlreichen »Rückkehrern« wieder nach Russland – zu ihrem Unglück, wie sich später herausstellte. In der ersten Zeit schien alles sehr gut zu laufen. Sie ließen sich an unterschiedlichen Orten nieder. Der Oberst der zaristischen Armee Duruntscha erhielt eine sehr anständige Arbeit in Woronesch: als Direktor eines großen Kinos. Dort in Woronesch fand auch sein Freund Wesselowski seinen sicheren Hafen (wo genau, weiß ich nicht mehr). Sie machten neue Bekanntschaften. Wesselowski freundete sich mit dem Mathematiklehrer Nikolai Nikolajewitsch Sacharow an, und zu dritt begannen sie, sich die langen Winterabende beim Préférence-­Spiel zu verkürzen.

Dann aber kam das Jahr 1936. Die erste Verhaftungswelle überrollte das Land im Frühjahr und ergriff neben vielen anderen alle »Harbiner«, darunter natürlich auch Duruntscha und Wesselowski. Ihnen folgte als »guter Bekannter« auch Lehrer Sacharow. ­Duruntscha und Wesselowski wurde § 58 Punkt 1 (Vaterlandsverrat), Punkt 4 (Verbindung zur Weltbourgeoisie), Punkt 10 (anti­sowjetische Agitation), und Punkt 11 (konterrevolutionäre Organisation) zur Last gelegt, Sacharow Punkte 10 und 11.

Die Untersuchung dauerte sieben Monate. Wesselowski und Sacharow ertrugen die qualvollen Verhöre nicht und unterschrieben alles, was der Untersuchungsrichter ihnen vorlegte. Duruntscha unterschrieb nur einen Teil, trotz der schrecklichen Folterungen und Misshandlungen. In der Gemeinschaftszelle trafen sie sich alle drei erstmals wieder. Bis dahin hatten sie in Einzelhaft gesessen.

Wir freundeten uns an. Ich erzählte ihnen von mir, sie mir von sich; oft berichteten sie von ihrer Zeit als Emigranten in Harbin und sprachen davon in den wärmsten Tönen. Sie berichteten auch über ihre »Strafsache«. Im Grunde genommen existierte gar keine Strafsache, wie bei uns allen. Ihr ganzes Vergehen beschränkte sich darauf, dass sie Emigranten gewesen waren. Und bei Wesselowski außerdem darauf, dass er irgendwo in Singapur oder Saigon einen Sohn hatte, der nicht in die UdSSR zurückkehren wollte. Diesen Sohn wollte der NKWD Wesselowski ganz und gar nicht verzeihen.

Der von Wuchs kleine, füllige, schon leicht ergraute Oberst Duruntscha war ein aufgeschlossener und gesprächiger Mensch, Wesselowski eher willensschwach. Er ertrug seine Haft nur schwer, dachte oft an seinen Sohn, und zweimal hörte ich ihn nachts weinen. Der gutmütige Sacharow ertrug alle Unbilden stoisch und ergeben.

Bald wurden wir wieder getrennt. Man verurteilte mich. Ich erhielt die mir vom Schicksal zugedachten fünf Jahre Freiheitsentzug und wurde direkt vom Gerichtsaal des Moskauer Stadtgerichts zum Durchgangsgefängnis gebracht. Dieses befand sich auf dem Innenhof der Butyrka, in der früheren Häftlingskirche.

Ich sah meine Harbiner Freunde nicht wieder, doch ihr Schicksal interessierte mich natürlich. Ich hatte mich oft bei »durchlaufenden« Häftlingen erkundigt, doch nie konnte mir einer etwas über sie sagen.

***

»Nikolai Nikolajewitsch! Mein Gott! Nicht zu fassen! Ich werde diesen Halunken zermalmen!«

»Gar nichts werden Sie! Lassen Sie es gut sein!«, winkte Sacharow ab und drückte sein blutiges Handtuch gegen die Wange.

»Tiere sind das, keine Menschen!« sagte ein intelligent aussehender Häftling. »Man sollte es der Wache melden!«

»Untersteh dich, du Aas!«, schrie der Partner des einäugigen Senjka. »Wir schlachten dich ab wie eine Kuh, du kommst im Lager nicht mehr an!«

»Das wollen wir doch mal sehen!«

»Hört auf … Was legt ihr euch mit ihm an!«, bat Sacharow leise.

Vater Sergij trat zu uns. Ich machte ihn mit Sacharow bekannte.

»Kommen Sie mit in unseren Bereich«, schlug Vater Sergij vor. »Bei uns ist es ruhig, die Leute sind alle in Ordnung.«

»Ja, mir ist es gleich … Aber vielleicht ist es wirklich besser so.«

Ich nahm Sacharows kleines Bündel und wir gingen hinüber zu uns. Die vom Lärm aufgewachten Häftlinge legten sich wieder schlafen. Die Gauner blickten uns böse nach und tuschelten.

»Was für ein niederträchtiges Volk«, schüttelte Sacharow deprimiert den Kopf. »Wie kommt solch ein Abschaum nur auf unsere russische Erde? Lesen Sie doch nur mal die ›Aufzeichnungen aus dem Totenhaus‹ oder andere Gefängniserinnerungen aus der Zeit vor der Revolution, solche Niedertracht findet man da nicht … Wie viel haben Sie gekriegt? Wie viele Jahre?«, fragte er plötzlich.

»Fünf. Und Sie?«

»Zehn …«

Mir fielen seine »Mittäter« wieder ein.

»Und wo sind Duruntscha und Wesselowski? Nicht hier auf dem Boot?«

»Nein … Nicht hier.«

»Hat man sie auf einen anderen Transport geschickt? Wie viel haben die beiden bekommen?«

»Die haben keinen Transport erwischt. Die hat es anders erwischt«, entgegnete Sacharow finster. »Man hat sie erschossen.«

Vater Sergij bekreuzigte sich. Der Kerzenstummel zischte kurz und erlosch. Es wurde völlig dunkel. Die Kriminellen hörten auf zu tuscheln und stimmten leise ein Gaunerlied an:

»Von weit her, aus Kolyma, Kolyma,

geht an dich, meine Liebste, ein Gruß …«

Das Wasser schlägt gegen die Bordwand, als wolle es uns in den Schlaf wiegen. Es ist feucht und finster, und es stinkt. Schweres, vielstimmiges Schnarchen … Im Herzen aber Trauer und Kälte.

Taiga

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