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DIE PASSANTIN
ОглавлениеIch hoffe, dass das Leben mit lebendigem Klang aufhört, plötzlich, ohne Stöhnen und elendes Gejammer.
Leskow
Zu Beginn des Frühjahrs wurde ich von der Außenstelle Roptscha in den Norden, an die Petschora geschickt. In Ust-Koshwa teilte mich die dortige Lagerleitung als Feldlaborant einer geologischen Expedition zu.
Als ich das Labor übernahm und die Analysenberichte durchstöberte, kamen ein paar Seiten aus dem Tagebuch des vertragsbeschäftigten Laboranten Michailow zutage, meines Vorgängers, der bei dem Versuch, einen der Bohrarbeiter zu retten, im Fluss ertrunken war. Die Seiten waren auf den 2. und 3. Februar 1940 datiert. Der Leiter der Expedition erzählte mir, dass Michailow kurz vor seinem Tod irgendwelche Papiere, offenbar ein Tagebuch, verbrannt habe. Zuerst dachte ich, die beiden Seiten vom 2. und 3. Februar seien zufällig übersehen worden, kam dann aber zu dem Schluss, dass Michailow sie bewusst nicht verbrannt hatte: Auf einer Ecke des ersten Blatts stand, mit Bleistift geschrieben, in der Handschrift des umgekommenen Laboranten: »Auf keinen Fall vernichten.« Der Tagebucheintrag für jene zwei Tage lautete folgendermaßen:
2. Februar
Der Schneesturm wütet schon den dritten Tag. Unsere winzigen Segeltuchzelte sind unter den gewaltigen Schneewehen kaum noch zu finden. In einem wohnt der Leiter unserer geologischen Expedition, Ingenieur Petrow, im zweiten hat man das kleine Feldlabor eingerichtet, hier sind auch die zwei Gesteinssammler und ich untergebracht. Im dritten wohnen die Arbeiter.
Es ist Abend. Das Eisenöfchen glüht rot. Laut knistern die Kiefernscheite, und die Glaskolben und -zylinder auf meinem Tisch glänzen trübe. Auf dem Zeltdach hört man den trockenen Schnee rascheln. Die 7-linige Petroleumlampe mit dem zerschlagenen Glas brennt schwach. Das Glas hat der Gesteinssammler Golowin einmal zerschlagen, während einer Alkoholpsychose.
Ich bin heute Abend allein. Der Expeditionsleiter, die Gesteinssammler und die Arbeiter sind seit drei Tagen unterwegs, um am Berg Ubys Schotterlagerstätten zu erkunden. Sie sollten gestern schon zurück sein, doch offenbar hat der Schneesturm sie aufgehalten.
Neben dem Arbeiterzelt war der Koch Iwan, ein Mordwine von der Wolga, damit beschäftigt, Holz zu spalten. Bei jedem Axthieb ächzte er und stieß saftige Flüche aus.
Ich drehte den Lampendocht weiter heraus, setzte mich näher an den glühenden Ofen, ließ die gekreuzten Arme auf die Knie sinken und verfiel in Nachdenken. Hell pfiff der Wind in den Baumzweigen über den Zelten, schlüpfte in das Blechrohr und schlug als schwarzer, teeriger Rauch aus dem Ofen. Durch die Öffnung zwischen der Zeltplane und dem Rohr wehte eine Handvoll Schneeflocken herein, überzog mich als silbriger Staub und verzischte auf dem glühenden Blech des Rohrs.
Iwan schlug die vollgeschneite Plane am Eingang zurück, betrat mit einem Armvoll Brennholz das Zelt, warf es auf den Boden und klopfte sich den Schnee ab.
»So ein Wetterchen aber auch, gottverdammich …«
»Tee aufgesetzt?«, erkundigte ich mich.
»Hab ich. Kocht gleich«, erwiderte er träge und verließ das Zelt, steckte aber im nächsten Moment den Kopf wieder herein und teilte mir erschrocken mit:
»Da schreit jemand in der Taiga …«
Eilig verließ ich hinter ihm das Zelt. Inmitten der weißen Pracht stand wie eine schwarze Mauer der Wald. Zwischen den schnell dahinschwebenden Wolken schimmerte die grüne Mondscheibe und tauchte gleichgültig immer wieder in das struppige Gewölk ein. Der Schneesturm wirbelte. Wir lauschten.
»U-u-u-u-a-a-ah!«, erklang aus der Taiga ein schwer definierbares Rufen. Es war eine Frau, die da schrie, und offenbar aus ziemlicher Nähe.
»A-a-a-ah …!«
Ich lief schnell zum Zelt, setzte meine Schapka auf, zog mir die Wattejacke über und schob eine kleine Axt hinter meinen Gurt. Iwan zerrte zwei Paar Skier aus einem Schneehaufen, warf mir ein Paar hin, zog die Riemen der Bindung über seine Filzstiefel und meinte stockend:
»Sie schreit nicht weit von hier … am Fluss.«
Wir fanden sie etwa dreihundert Meter von unserem Lager entfernt, am Ufer der Koshwa, eines kleinen Zuflusses der kalten Petschora. Sie saß, an einen Baumstamm gelehnt, im Schnee. Ihr Kopf war in ein warmes Tuch gehüllt, unter dem große Augen mit taunassen Wimpern seltsam glänzten. Neben ihr lag ein prall gefüllter Reisesack.
»Ich bin vom Weg abgekommen …«, sagte sie mit tiefer, etwas heiserer Stimme. »Wer sind Sie?«
»Geologen, Prospektoren«, erwiderte ich. »Stehen Sie auf, sonst erfrieren Sie noch.«
Die Frau erhob sich.
»Meine Skier habe ich unterwegs stehen gelassen. So ein Schneesturm. Ist es weit bis zu euch?«
»Nein, ganz in der Nähe. Kommen Sie, wärmen Sie sich auf. Woher kommen Sie?«
Sie druckste, schwieg einen Augenblick, sagte dann leise:
»Aus Ust-Uchta. Ich bringe die Post, na und bin vom Weg abgekommen, bin fast erfroren. Ohne die Skier wird es schwierig …«
»Sie können meine haben«, bot ich ihr an. »Erst einmal aber müssen Sie trocken werden und abwarten, bis der Schneesturm vorbei ist.«
In meinem Zelt ließ sie sich kraftlos auf eine Pritsche sinken und streckte die frierenden Hände an den Ofen.
»Helfen Sie mir bitte beim Ausziehen … Meine Finger sind völlig erstarrt.«
Ich löste ihr Tuch, nahm ihr die Jacke ab und zog ihr die vereisten, hartgefrorenen Filzstiefel von den kleinen bloßen Füßen. Sie zog die Beine auf die Pritsche, umfing die Knie mit den Armen und begann, das Kinn darauf gestützt, unverwandt ins Feuer zu starren. Das krause schwarze Haar fiel ihr ungeordnet über die Schultern und warf seinen Schatten auf die glatte weiße Stirn. Auf ihren markanten, ein wenig aufgeworfenen Lippen lag ein unbestimmtes Lächeln, und auf den dichten Wimpern über den großen dunklen Augen glänzten Tropfen geschmolzenen Schnees, vielleicht auch Tränen. Die kurzen Ärmel der wollenen Bluse gaben den Blick auf ihre hübschen molligen Arme frei.
»Wie heißen Sie?«
»Irina. Und Sie?«
Ich stellte mich vor und bot ihr ein wenig von unserem Sprit an.
»Sehr gerne. Mir ist furchtbar kalt.«
Ich goss ein wenig leicht verdünnten Sprit in ein Messglas. Sie trank es aus, begann zu husten und sich zu schütteln. Wir lachten.
»Stark?«
»Ganz schön«, meinte sie und zeigte beim Lächeln ihre blitzenden weißen Zähne.
In der Nähe des Zelts flog mit lautem Flattern ein Vogel auf. Erschrocken zuckte Irina zusammen und sah mich an.
»Was war das?«
»Ein Auerhahn.«
»Nachts habe ich in der Taiga schreckliche Angst. Ohne Sie wäre ich wohl erfroren.«
Iwan kam mit dem kochenden Teekessel herein. In kleinen Schlucken tranken wir das heiße Wasser, das mit getrockneten Blättern der schwarzen Johannisbeere aufgegossen war, lauschten dem Tosen des Schneesturms und führten ein ruhiges Gespräch. Allmählich wurden wir fröhlicher. Iwan sang lustige mordwinische Lieder und trank ganz nebenbei meinen gesamten Vorrat an Sprit aus. Sein gutmütiges, pockennarbiges Gesicht fing an zu glänzen wie eine mit Eigelb bestrichene rosa Semmel. Irgendwann geriet er so in Fahrt, dass er anfing, uns umwerfend komische mordwinische Tänze vorzuführen, wobei er geschickt zwischen Pritsche, Tisch und Ofen manövrierte. Für eine volle Stunde vergaßen wir den Schneesturm und tauchten in eine gänzlich neue Welt ein. Wie wenig der Mensch doch braucht, um fast glücklich zu sein!
Dann verließ Iwan uns. Ich beschloss, Irina mein Zelt zu überlassen und im Zelt der Arbeiter zu übernachten. Wie immer, wenn Menschen für lange Zeit von der Außenwelt isoliert sind, befällt sie nach stürmischen Ausbrüchen der Fröhlichkeit schwerer Katzenjammer. Nach Iwans Weggang saßen wir etwa zehn Minuten schweigend, mit hängenden Köpfen da, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.
»Und morgen?«, fragte sie plötzlich.
Ich hob den Kopf: Der Sinn der seltsamen Frage war mir nicht klar. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und antwortete selbst:
»Morgen nehme ich meinen Rucksack und gehe im Frost durch die Taiga, hin zu … hin zu …«
Sie warf sich auf den Strohsack, den ich als Kopfkissen benutzte, und begann laut zu schluchzen.
»Was ist denn? Nicht doch, bitte, nicht …«
Ihre fülligen Schultern bebten vom Weinen. Ein Windstoß riss eine Zeltbahn los, warf einen Haufen Schnee ins Zelt und zerrte an der losen Plane. Ich ging hin und befestigte die Plane wieder. Irina erhob sich ein wenig und sah mich mit tränennassen Augen an.
»Sagen Sie doch: Wozu haben Sie mich heute in der Taiga gefunden? Wozu haben Sie mich gerettet? Ich hätte lieber erfrieren sollen … Lieber ein schnelles Ende … Warum haben Sie mich gerettet?«
»Warum? Darum, weil Sie geschrien haben«, erwiderte ich, versuchte die Ruhe zu bewahren und begann meine Pfeife zu stopfen.
Sie lächelte auf irgendwie kindliche Weise und wischte sich mit einem Tuch die Tränen ab.
»Das stimmt«, seufzte sie niedergeschlagen. »Wer will schon sterben? Auch ich will nicht sterben … Ganz und gar nicht …«
Sie verstummte nachdenklich.
Ich trat an den Ofen, hielt die Hand vor das glühend heiße Rohr und fragte leise, ohne Irina anzusehen: »Sagen Sie, warum belügen Sie mich?«
Sie änderte nicht einmal ihre Haltung, blickte mich nicht an, als habe sie diese Frage erwartet. Einen Moment lang dachte sie nach und sagte dann in ruhigem Ton:
»Weil ich Ihnen die Wahrheit nicht sagen kann …«
»Warum nicht? Aber was rede ich … verzeihen Sie … wie dumm von mir«, besann ich mich, als mir klar wurde, wie anmaßend meine Frage war. Ich spürte, dass ich mich irgendwie erklären musste, und fügte hinzu: »Wissen Sie, warum ich frage … Ich habe in Moskau gewohnt. Meine Kindheit und den größten Teil meines bewussten Lebens habe ich dort verbracht. Ich bin Ingenieur. Obwohl ich es aus gewissen Gründen vorziehe, als einfacher Laborant zu arbeiten. Aus denselben Gründen, aus denen ich die gottverlassene Taiga der Hauptstadt vorziehe. Und jetzt sind Sie da, und ich erkenne einen Menschen aus meinen Kreisen. Dieselbe Art zu reden, derselbe Moskauer Dialekt, dieselben Umgangsformen eines Intelligenzlers. Ich habe bemerkt, wie Sie Ihr Haar mit dieser schnellen, präzisen Bewegung richten, wie Sie sich bei Tisch verhalten. Kurz, Ihre Tarnung als Postzustellerin in der Taiga ist ungeschickt und wenig überzeugend. Und Sie müssen mir recht geben: Es ist doch ganz natürlich, dass ich mir die Frage stelle: Wer ist sie, diese Taiga-Postfrau mit dem Moskauer Dialekt? Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit, aber …«
»Sie haben nichts Unangemessenes getan«, unterbrach sie mich. »Die Taiga befreit die Menschen von vielem, offenbar auch von der Höflichkeit.«
Ich schwieg.
»Und dann vergessen die Männer zum Beispiel auch, dass es auf der Welt Rasiermesser gibt.«
»Sie spielen auf meinen Bart an?«
»Nein … so allgemein.«
»Wissen Sie, der Bart schützt mich vor dem Frost.«
»Und auch vor etwas anderem …«
Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf und ließ ihre Zahnreihen blitzen.
Ich schwieg erneut.
»Zum Beispiel ist es unmöglich, sich in Sie zu verlieben«, ließ sie nicht locker.
Oje, meine Neugier kommt mir teuer zu stehen, dachte ich und schickte mich in Gedanken zum Teufel.
»Nun schauen Sie sich doch mal an, wie Sie aussehen! Wie ein Waldschrat: lange Haare, roter Bart …«
»Nicht rot, kastanienfarben …«, versuchte ich zu scherzen.
»Kastanienfarben, kastanienfarben«, äffte sie mich nach. »Wenn ich sage: rot, dann ist er rot! Und, was interessiert Sie noch? Wollen Sie vielleicht wissen, wie alt ich bin?«
»Wozu? Sie glauben doch wohl nicht, dass ich anfange, mich zu rasieren?«
»Ist das jetzt eine Retourkutsche für meine ehrliche Meinung über Ihr Aussehen? Ich hätte sie für geistreicher gehalten … Aber trotzdem: Was glauben Sie denn, wer ich bin?«
»Ich werde darauf nicht antworten. Es ist Ihnen offenbar unangenehm, und ich möchte Ihnen Peinlichkeiten ersparen.«
»Aber ich bestehe darauf … und bitte Sie. Wer bin ich wohl?«
»Eine Passantin …«, sagte ich ruhig und zündete meine erkaltete Pfeife wieder an.
»Mehr nicht?«
»Mehr nicht. Wenigstens für mich.«
»Eine Passantin …«, wiederholte sie spöttisch und blickte mir mit Hass und Verachtung in die Augen.
»Eine Passantin …«
»… die die Aufnahmeprüfung an einer Schauspielschule nicht bestehen würde«, fügte ich hinzu.
Sie sprang auf, in den dunklen Augen das Funkeln eines gehetzten Tiers.
»Ja!«, schrie sie. »Ich lüge! Hören Sie? Ich lüge! Ich bin keine Postfrau und war nie eine! Ich bin Ingenieur, genau wie Sie, nur mit dem Unterschied, dass ich … dass ich …« Sie hielt zurück, was ihr auf der Zunge lag, biss sich nervös auf die blutrote, aufgeworfene Lippe und fiel schwer atmend zurück auf die Pritsche.
»Im Übrigen«, fügte sie nach einer Weile hinzu, »geht es Sie auch gar nichts an, welcher Unterschied zwischen uns besteht. Für Sie bin ich ja nur eine … eine Passantin.«
Etwa fünf Minuten schwiegen wir. Ich ärgerte mich über mich selbst; sie tat mir leid. Ich erhob mich und beschloss, hinüber ins andere Zelt zu gehen. Außerdem begann auch das Licht der Lampe zu verglimmen – das Petroleum war verbraucht. Doch Irina kam mir zuvor.
»Ich würde gern schlafen.«
»Das ist auch das Beste«, sagte ich. »Legen Sie sich hier auf meine Pritsche. Hier haben Sie eine Decke, legen Sie Ihre Jacke noch darüber. Um den Ofen kümmere ich mich. Gute Nacht.«
Ich trat hinaus. Der Schneesturm fegte noch immer umher und rüttelte an den trockenen Fichten und Lärchen. Der Mond hatte sich versteckt, vom Fluss her war das abgehackte, nervenaufreibende Bellen eines Fuchses zu hören. Im Arbeiterzelt schnarchte Iwan trotz der entsetzlichen Kälte – der Ofen war ausgegangen. Ich blies in die Glut, legte Holz auf, und als das Feuer wieder fröhlich loderte, holte ich mir ein Buch und setzte mich an den Ofen, um zu lesen. Nach etwa zwei Seiten sah ich ein, dass ich den Sinn des Gelesenen nicht erfasste, legte das Buch beiseite und begann zu beobachten, wie sich die Birkenrinde im Feuer zusammenrollte. Träge hing ich irgendwelchen müßigen Gedanken nach: dachte mal an das eine, mal an das andere zurück. Wie lange ich so saß und nachdachte – ich weiß es nicht. Ich war wohl eingenickt und wachte von der Kälte wieder auf. Der Ofen war ganz ausgegangen. Mir fiel mein Gast wieder ein. Sicher war auch dort das Feuer längst erloschen.
Ich ging ins Freie. Der Schneesturm hatte sich gelegt, und am grünlich-blauen Himmel, der von grellen Sternen übersät war, hing stählern die Mondscheibe.
Vorsichtig schlug ich die Zeltplane zurück, trat ein und hockte mich vor den erloschenen Ofen. Ich fachte das Feuer wieder an und legte Birkenrinde auf. Sie krümmte sich, begann zu qualmen, loderte als knisternd-heiße Flamme auf und beschien das Zelt. Ich richtete mich auf und warf einen Blick zur Pritsche.
Irina lag auf dem Rücken unter der Decke und sah mich mit gerunzelter Stirn und irgendwie allzu angespannt an.
»Kommen Sie zu mir …«, sagte sie leise.
Ich ging hin und setzte mich zu ihr auf die Pritsche. Sie versenkte ihre Finger in meinem Bart und lächelte einfach, sanft, so wie Genesende lächeln.
»Was für ein lustiger lockiger Bart. Wie alt ist er?«
»Ein Jahr.«
»Und Sie?«, fragte sie, ließ die Hand sinken und knöpfte ohne Eile einen Knopf an meiner Feldbluse zu.
»Dreißig.«
»Haben Sie eine Frau?«
»Nein. Ich habe ein Mädchen geliebt, wir waren verlobt, aber dann … hat sie meinen Freund geheiratet.«
»Wie dumm von ihr!«, lachte sie. »Dabei sind Sie doch im Prinzip ein netter Kerl …«
Ich verspürte eine leichte Kälte in der Herzgegend und rückte unwillkürlich näher an sie heran, doch sie wehrte ab.
»Sagen Sie«, meinte sie irgendwie nachdenklich, »Sie haben doch bestimmt schon mal darüber nachgedacht, was den Menschen wirklich froh macht im Leben? Was meinen Sie«?
»Ich weiß nicht«, druckste ich. »Wahrscheinlich trägt vieles dazu bei: Wenn man die Arbeit mag, die Familie, Liebe …«
»O nein«, unterbrach sie mich seufzend. »Das ist es alles nicht. Wissen Sie, was das Wichtigste ist?«
»Nun?«
Sie stützte ihren Krauskopf auf die Faust, kniff die Augen leicht zusammen und sagte kurz und knapp:
»Die Freiheit.«
Wieder erklang in der Taiga das traurige Bellen des Fuchses. Die Birkenrinde war fast verbrannt, im Zelt wurde es dunkler und wellenförmig erleuchtete ein seltsamer rötlicher Widerschein die Zeltwände.
»Oh, wie sehr sie die braucht, Ihre … zufällige Passantin«, sagte Irina leise, mit gerunzelter Stirn, und plötzlich knirschte sie mit den Zähnen und umfasste ungestüm meine Schultern. Ich beugte mich zu ihr, küsste ihre warmen Lippen und spürte, wie mein Herz immer schneller schlug.
3. Februar
Ich weiß nicht, ob ich je wieder zu meinem Tagebuch zurückkehren werde. Wahrscheinlich nicht. Es hat keinen Sinn zu schreiben, es ist vergebens, warum soll ich noch etwas aufschreiben … ich habe den ganzen Albtraum durchlebt, der uns umgibt wie die Toten das Leichentuch. Ich habe den Preis der Freiheit erfahren.
Meinen gestrigen Eintrag ins Tagebuch habe ich um vier Uhr nachts geschrieben, nachdem ich Irina erregt, verstört, mit Freude, aber auch Unruhe im Herzen zurückgelassen hatte und wieder in mein Zelt gegangen war. Ich ahnte nicht, welch schreckliche Wahrheit sich mir zwei, drei Stunden später eröffnen würde.
Dies hier also ist mein letzter Eintrag, ohne langes Nachdenken und ohne jeden Kommentar:
Ich weiß noch, dass ich einschlief, eng an Irinas warmen Körper geschmiegt. Ich fühlte mich wohlig, kindlich-froh und einfach nur gut. Ich träumte von etwas Hellem, Gutem.
Als ich hingegen aufwachte, spürte ich vor allem Leere. Es war dunkel. Ich tastete mit der Hand und begriff: Da war niemand bei mir. Ich zuckte zusammen: Wo war sie denn?
Und am Fluss bellte, weinte die ganze Zeit der Fuchs.
Wie widerwärtig sein Geheul war!
Beim ersten Klang der geliebten Stimme war ich bei ihr.
»Warum schläfst du nicht?«
Sie saß in der Ecke am Ofen, in ihrer Lieblingshaltung: Ihre Hände umfassten die Knie, auf die sie den Kopf stützte. Ich legte ihr die Jacke um, küsste ihr Haar, ihre Stirn, die Augen …
»Hast du geweint?«
Sie presste sich mit der Wange an mich und sagte leise:
»Weißt du, mir ist so gut …«
Nach einem Augenblick des Schweigens fügte sie hinzu:
»Ich möchte dir etwas erzählen, davon, was der Mensch vor dem Tod empfindet …«
»Ach, lass doch!« Ich verzog das Gesicht. »Wirklich, das geht zu weit! Erzähl mir lieber von dir, schließlich weiß ich überhaupt nichts über dich!«
»Morgen! Versprochen! Vor dem Tod spürt der Mensch nur das süße Beben seines Herzens, in banger Erwartung des großen Mysteriums. Weiter nichts. Und Kälte. Komm, wir fachen das Feuer an.«
Innerhalb einer Minute hatte ich den Ofen eingeheizt. Ob es die Wärme war, oder das Licht – uns wurde es wieder leichter ums Herz. Irina erhob sich, dehnte sich und meinte auf ganz alltägliche Art:
»Lass uns noch ein bisschen schlafen.«
Plötzlich aber blickte sie mich erschrocken an und ergriff meine Hand:
»Hörst du das? Was ist das?«
Ich spitzte die Ohren, konnte aber nichts hören.
»Hörst du es?«
»Nein.«
Sie lächelte betreten.
»Mir kam es so vor. Ich bin so schreckhaft heute … Wann kommen eure Leute zurück?«
»Vielleicht morgen.«
»Früh?«
»Sie werden wohl kaum nachts unterwegs sein. Obwohl unser Chef seine Eigenheiten hat, bei dem muss man mit allem rechnen. Warum fragst du?«
»Ich denke, du solltest in dem anderen Zelt schlafen«, meinte sie mit gesenktem Blick.
»Was?«, rief ich erstaunt, nahm mich aber gleich wieder zusammen. »Entschuldige, ich verstehe nicht – warum?«
»Geh!«, befahl sie.
Ich umarmte und küsste sie, wie einen Nahestehenden, den man in ein paar Stunden wiedersieht – flüchtig und leicht.
Ich ging und setzte mich an mein Tagebuch. Die Nacht war tiefschwarz. Müde hörte ich mit dem Schreiben auf, ohne fertig geworden zu sein, legte den Kopf auf die Arme und begann, glückselig lächelnd, mir nach und nach alle Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen. Dann verschwamm alles.
Ich konnte die schweren Augen nur mit Mühe öffnen, hob den Kopf und sah mich um. Im Zelt war es trübe – die Morgendämmerung brach erst an. Draußen waren leise Stimmen und das Winseln von Hunden zu hören. Die Unseren sind zurück, dachte ich und warf mit einem Ruck die Zeltplane zurück, um hinauszugehen. Etwa dreißig Schritte entfernt erblickte ich vier uniformierte Männer mit Gewehren in den Händen, die sich auf Skiern dem Lager näherten. Ihre Hunde zerrten an den Leinen. Im selben Moment fiel ganz in der Nähe, fast neben mir, ein ohrenbetäubender Schuss.
Ohne mir schon klar darüber zu sein, was passiert war, nur meinem Instinkt folgend, stürzte ich zu Irinas Zelt, registrierte aber nebenbei, dass die vier Ankömmlinge wie auf Kommando in den Schnee fielen. Innen konnte ich zunächst nichts erkennen: Im Zelt schwebte ein fahler, bitterer Dunst. In der schreienden Stille war nur das Tröpfeln des Wassers zu hören, das auf dem Tisch aus einem umgeworfenen Glaskolben floss.
Mit dem Rücken gegen ihren aufgeschnallten Rucksack gelehnt, ließ Irina, halb auf der Pritsche sitzend, auf schreckliche, unnatürliche Weise den Kopf auf die Brust hängen. Das wirre schwarze Haar verdeckte ihr Gesicht. Die aufgeknöpfte Joppe gab den Blick auf die mir wohlbekannte blaue Wollbluse frei, die mit seltsamen dunklen Flecken bedeckt war. Die kleine Hand mit halb gekrümmten Fingern war zur Seite geworfen. An einem Fuß trug sie einen Filzstiefel. Der andere Stiefel lag auf der Erde neben ihrem angewinkelten, herabgerutschten nackten rechten Bein; mattweiß hob es sich kläglich und hilflos von der schwarzen Decke ab. Der große Zeh steckte im Abzugsbügel meines Jagdgewehrs, das mit dem Lauf auf den Rand des Labortisches gefallen war.
Mit angehaltenem Atem schob ich behutsam die krausen Haarsträhnen von ihrer Stirn.
Da war kein Gesicht. Nur etwas Entsetzliches, Unförmiges.
Ich weiß noch, dass ich vom Tisch ein Blatt Papier nahm, auf dem etwas mit Bleistift geschrieben stand, dass ich dieses zarte Blatt an meine Lippen führte und die Buchstaben küsste – die Spuren ihres Lebens. Wie im Traum nahm ich wahr, dass jemand hereinkam, hörte Iwans verstörte Stimme und eine andere, tiefe, ruhige, die Iwan erklärte:
»Aus dem Straflager entflohen … eine Politische …«
An dieser Stelle brach Michailows Tagebucheintrag ab. An die letzte Seite war ein Zettel angeheftet. Zuoberst stand in Druckbuchstaben: »Bodenanalyse Nr. 1937«, darunter, mit einem Bleistift, in der gleichmäßigen Schrift einer Frau, mit korrekt gesetzten Satzzeichen, Folgendes:
»Liebster, ich habe nur noch eine halbe Minute. Hunde und Suchtrupp sind ganz nahe. Das Wichtigste im Leben ist die Freiheit.«
Lange bewahrte ich diesen Zettel auf. Manchmal holte ich ihn hervor, las ihn immer wieder, und er rief keinerlei Empfindungen mehr in mir hervor. Bald schon hatte ich sowohl Irina als auch Michailow als auch den Zettel ganz vergessen.
Das Leben in der Taiga war farblos und langweilig. Im Winter, wenn nachts die Schneestürme tosten, spielten wir Karten und tranken Sprit. Im Chor sangen wir mit vom Frost heiseren Stimmen unser Lieblingslied über die Taiga.
»Wo der Schnee fliegt auf stürmischen Schwingen,
liegt im Norden, im fernen, ein Grab.
Frost und Taiga das Totenlied singen,
nur der Mond beugt sich bleich noch herab.«
Kalt ist es. Ach, wie kalt ist es auf dieser Erde!