Читать книгу Taiga - Sergej Maximow - Страница 7

DER ERZIEHER

Оглавление

Mittags begann es zu regnen. Die Fichten wurden dunkel und ließen traurig die zotteligen Zweige hängen; wie Tränen rollten einzelne helle Tropfen von ihnen herab. Graue Wolkenfetzen jagten ungeordnet am Himmel dahin und suchten sich an den Wipfeln der schlanken Fichten festzuhalten.

Kaum war die gesteppte Jacke des Gruppenleiters Rubljow in den Wacholderbüschen verschwunden, ließen wir wie auf Kommando die verhassten Schubkarren stehen und drängten uns im nächsten Moment um das noch glimmende Feuer. Der bewaffnete Wachsoldat sah uns mit zusammengekniffenen Augen zu und ging weiter seiner Lieblingsbeschäftigung nach – dem Jonglieren mit drei Steinchen. Seine Aufgabe war es, aufzupassen, dass die Häftlinge nicht wegliefen; ob sie arbeiteten oder nicht, ging ihn nichts an. Antreiber gab es im Lager auch ohne ihn zur Genüge: die Leiter der Außenlager, deren Helfer, Bauführer, Gruppenführer, Vorarbeiter, Kommandanten, Erzieher.

Wir streckten die vor Kälte steifen Hände ans Feuer, doch hielt der Moment der Glückseligkeit nicht lange an.

»Achtung! Grischka Filon!«, kommandierte der siebzehnjährige Taschendieb Som.

Aus dem Wald sprang ein kleiner, dünnbeiniger Mensch mit rötlich angelaufener Lederjacke in die Kiesgrube und schrie schon von weitem in dünnem Tenor:

»Ruhen wir uns aus, Bürger Häftlinge? Und wer macht die Arbeit? Der Heilige Geist?«

Grischka Filon war der Lagererzieher. Einst schwerer Junge und Mokruschnik, hatte er jetzt im Außenlager den Bereich Kultur und Erziehung unter sich.

Eine erstaunliche Erfindung, diese Erzieher!

Grischka Filon war Häftling, genau wie wir, doch hatten ihn fünfzehn Jahre in Gefängnissen und Lagern, mit kurzen Zwischenspielen in der Freiheit, gelehrt, wie man sich im Lager ganz schnell ein warmes Plätzchen sichert, daher auch sein Spitzname Filon, Nichtstuer. Die Arbeit des Erziehers ist eine der leichtesten im System der sowjetischen Zwangsarbeit. Ein Erzieher genießt viele Vorteile: Er arbeitet nicht körperlich, bekommt bestes Essen, ihm gebühren Ehre und Schmiergelder, und er hat bessere Chancen auf vorzeitige Entlassung. Diese »äußerst verantwortungsvolle« Stelle wurde nur mit »sozial nahestehenden Elementen« besetzt, wie die Tschekisten die Kriminellen nennen, auf keinen Fall aber (Gott behüte!) mit Politischen. Obwohl, einen Nachteil hatte dieser Posten: Wer einmal Erzieher war, wird in der Verbrecherwelt für vogelfrei erklärt, er gilt als Verräter, und eines schönen Tages wird er vielleicht umgebracht. Grischka Filon wusste das und machte sich bei den »Ganoven« lieb Kind.

Er war fünfunddreißig Jahre alt. Klein, mager, mit farblosen ­Augen, deren Blick unstet umherirrte, und weißem Speichel in den Mundwinkeln, wirkte er abstoßend. Nach dem Vorbild der Lagerleitung trug er hässliche grüne Reithosen, Chromlederstiefel, Feldbluse, Lederjacke sowie eine Mütze à la Genosse Stalin. Von seinen fünf Jahren hatte er drei schon abgesessen.

Über seinen letzten »Fall« sprach er oft und gern. Der »Fall« bestand aus folgender Begebenheit: Er hatte nachts in einer dunklen Gasse einer Frau aufgelauert, und da diese sich weigerte, ihm freiwillig und ohne Lärm ihren Pelzmantel zu überlassen, schnitt er ihr mit einem Rasiermesser die Nase ab und nahm ihr den Mantel dann doch weg …

Grischka Filon kam schnell zu uns heran, ergriff eine Schaufel und warf das Feuer kurzerhand auseinander.

»Aufwärmen wollt ihr euch?«, redete er, während er mit der Schaufel hantierte. »Aufwärmen? An die Schubkarre mit euch, da wird euch schon warm werden!«

»Aber Bürger Erzieher! Wir haben uns doch gerade erst kurz hingesetzt!«, kam es erregt von Nikolai Iwanowitsch Suschkow, einem Professor der Archäologie, der seinerzeit in Moskau mit äußerst interessanten Veröffentlichungen über Ausgrabungen in Buchara viel Aufsehen erregt hatte. Schwach, sehr krank, schob er gefügig drei Jahre lang die Schubkarre. Verurteilt hatten sie ihn aufgrund von »Nichtanzeige« – er hatte seinen Bruder nicht denunziert, einen der Sabotage angeklagten Ingenieur.

Grischka Filon warf das letzte brennende Scheit weit weg, stützte sich dann auf die Schaufel, ließ die fahlen Augen über uns schweifen und ergriff das Wort, bemüht, seiner Stimme einen belehrenden Ton zu verleihen:

»Ihr, Bürger, befindet euch sozusagen in einem Arbeitsbesserungslager des NKWD … äh … Das ist sozusagen keine zaristische Zwangsarbeit, sondern – äh – erzieherische. Die Sowjetregierung mit dem Genossen Stalin an der Spitze – äh – bestraft Verbrecher nicht, sondern erzieht sie um … Ihr seid sozusagen Volksfeinde, man vertraut euch nicht … und deshalb muss man euch umerziehen. Umschmieden, sozusagen …«

»Ich bin kein Volksfeind, ich bin Dieb«, rief Som dazwischen: »Schmeiß mich nicht in einen Topf mit den anderen, Filon!«

»Ich halte die Rede ja nicht dir, sondern den Politischen … Denkt dran, Bürger Häftlinge, nur durch Arbeit und Umerziehung könnt ihr in die Reihen der vollberechtigten Sowjetbürger zurückkehren … Und deshalb karrt so viel Erde wie möglich … Die Karr-Norm müsst ihr nicht nur erfüllen, ihr müsst sie übererfüllen!«

So bedrückend es auch war, der Rede des Erziehers zuzuhören – viele von uns fingen doch an zu grinsen.

»Was feixt ihr so?«, brüllte Filon. »Hier wird gearbeitet und nicht gelacht! Ich war selbst ein großer Ganove und Bandit, aber hier bin ich zum Menschen geworden … Die Norm müsst ihr erfüllen, die Norm!«

»Eure Normen, Bürger Erzieher, sind nicht zu schaffen.« Der Professor wiegte den Kopf.

»Was heißt – nicht zu schaffen? Natürlich, wenn du unserm Land nicht helfen willst, schaffst du auch die Norm nicht … Ich warne dich, Alter: Erfüllst du die Norm nicht, kommst du ins, sozusagen, Strafteillager. Kubik, Kubik, Kubik ist angesagt!«

Die Rede des Erziehers zog sich hin, und mit ihr auch die Ruhe­pause. Wir begannen sinnlose Fragen zu stellen, um den erneuten Kontakt mit unserer gemeinsamen Freundin, der Schubkarre, hinauszuzögern. Filon aber besann sich bald und schrie drohend:

»Jetzt reicht’s aber: Wie lange wollt ihr euch noch drücken? He, Alter, hoch mit dir! An die Arbeit!«

Ohne Eile begaben sich die Häftlinge an die Abbaustellen.

Som erhob sich und fing an zu singen:

»Karre, ach Karre, hab keine Angst …

bleib du nur ruhig, ich rühr dich nicht an …«

Er stieß die Schaufel mit Wucht in die blaue Tonerde.

»Knallt es im Sprengloch, knallt’s Ammonal,

zum Teufel, was will ich am Weißmeerkanal?«

Die täglichen zwölf Stunden harter körperlicher Arbeit zehrten an unseren Kräften, Rücken und Arme schmerzten unerträglich, die schwieligen Hände bluteten, die Schubkarren kippten immer wieder um, Hunger quälte uns.

Am Rand der Grube stand, als scharf konturierte Silhouette vor den zerrissenen Wolken, der kleine Mann mit den hässlichen Reithosen, die Hände in den Taschen der Lederjacke, sabberte an einer billigen Papirossa, und kraft eines paradoxen Gesetzes verkörperte dieses winzige Stück Niedertracht, das aus allen der Menschheit eigenen Schändlichkeiten zusammengeknetet war, jene Kraft, die Hunderttausende Menschen zwang, einen zusätzlichen Kubik­meter Erde zu erbeuten in der nebulösen Hoffnung auf »vorzeitige Entlassung« und baldige Rückkehr zu den Lieben, die irgendwo geduldig auf ihren Märtyrer warteten, und die sie zwang, ihre letzten Kräfte zu verausgaben, Blut zu spucken und die schwere Karre weiter, weiter, weiter zu schieben.

Am nächsten Tag weckte uns die eiserne Pufferplatte, die vor der Wache hing, früher als sonst. Es war noch ganz dunkel. Der monotone, kalte Klang erinnerte an Totenglocken.

Die gesamte Insassenschaft des Außenlagers, tausendzweihundert Mann, hatte brigadeweise vor den Zelten und Baracken anzutreten. Etwas lag in der Luft. Vor der Wache drängte sich die Lagerleitung.

Der Leiter des Außenlagers Gorjew konnte sich, sturzbesoffen, kaum auf den Beinen halten; nach dem Gelage vom Vortag war er offenbar noch nicht ausgenüchtert. Zwei kräftige Kerle mit blutig roten Kragenspiegeln an den Uniformmänteln stützten ihn behutsam.

»Ruhe!«, brüllte einer von ihnen. »Der Leiter des Außenlagers will ein paar Worte sagen!«

Gorjew machte eine schlappe Handbewegung, grinste dümmlich und gab mühsam ein »Bürg… brk… bürg… brk« von sich.

Da schnellte der flinke Grischka Filon aus dem Gefolge, sprang auf einen Baumstumpf und brüllte aus vollem Hals:

»Bürger Häftlinge! Heute ham wir einen Sondereinsatz … Is das klar? Heute müssen wir sozusagen, koste es, was es wolle, im Abschnitt fünfundachtzig den Zugang zur Brücke aufschütten und … sozusagen … den Zuch durchlassen. Dieser Auftrag für den heutigen Tach kommt von unserm Leiter aller Arbeits- und Erziehungslager des Ucht-Petschora-Bereiches, dem Genossen Jakow Moros. Ich meine, Genossen … äh … Bürger Häftlinge … die Partei, der Genosse Stalin und der Genosse Moros rufen uns auf, eine große Tat zu vollbringen! Das is was andres, als ein Schloss zu knacken oder einem Madamchen die Tasche zu klaun, sondern wir lassen sozusagen durch Arbeit und Umerziehung einen Zuch durch. Hurrah!«

»Hurrah!«, riefen die Männer mit den himbeerfarbenen Kragenspiegeln.

»Hurra!«, klang scheppernd eine einzelne Stimme aus der Menge der Häftlinge. Ein gebeugter Alter rief das, wankend vor Schwäche. Er wusste offensichtlich nicht mehr, was er tat.

Die in aller Eile errichtete Brücke über den Fluss Lun-Wosch war fertig. Rechts und links von ihr erhoben sich zwei lange, noch nicht vollständig aufgeschüttete Erdkegel.

Über die gesamte Länge der Brücke prangte ein grelles Spruchband: »Arbeit ist in der UdSSR eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhms, eine Sache der Tapferkeit und des Heldentums! (Stalin).«

Geschäftig teilten die Gruppenführer die Brigaden der Erdarbeiter ein; die Arbeit begann. Der Aushubbereich unserer Brigade befand sich an einem Hang, etwa hundert Meter vom linken Erdkegel entfernt. Ein Teil der Brigade arbeitete in einer großen Höhle am Rand der Abbaustelle.

Grischka Filon rannte umher, trieb uns mit schäumendem Mund an:

»Legt einen Zahn zu, Bürger! Der Genosse Moros kommt persönlich zur Brückeneinweihung … Es heißt, sie verkürzen allen die Haftstrafen … entlassen uns vorzeitig … Ein Orchester kommt auch noch.«

»Kukuschka«, die kleine Werksbahn, durchdrang die Taiga mit schrillen Pfiffen und brachte Schwellen und Gleise heran. Meter um Meter wurde die Strecke verlegt.

Verbissen schaufelte Professor Suschkow Sand auf die Karre, hob sie mit seinen schwachen Armen an, schob sie, hin und her schwankend, den glitschigen Pfad hinauf zur Aufschüttung. Ich sah, dass er am Ende seiner Kraft war.

»Lassen Sie das, arbeiten Sie langsam«, riet ich ihm.

»Aber wer weiß, vielleicht lassen sie uns ja wirklich früher raus«, entgegnete er, stoßweise atmend.

Bald darauf kam eine Blaskapelle. Die Musiker nahmen eilig auf einer Grasfläche unter Kiefern Platz und spielten einen schnellen Foxtrott:

»Mein süßes Mägdelein,

das ist so hübsch und fein …«

Ein Häftling rollte mitsamt seiner Schubkarre von der Aufschüttung und brach sich den Hals.

Professor Suschkow belud seine Karre, wollte sie anheben, ächzte und sackte plötzlich, sich den Bauch haltend, auf den Boden. Ich lief zu ihm, um ihm aufzuhelfen.

»Nicht!«, stöhnte er. »Das tut weh!«

Ein Feldscher kam, untersuchte den Professor und meinte gleichgültig zu den Sanitätern:

»Ein Bruch. Bringt ihn zum Lager.«

Die Menschen aber keuchten hintereinander die schmalen Steige hinauf, rollten hinab, stiegen wieder hinauf, griffen wieder zu Schaufel und Karre.

Dann kam Genosse Moros. Dick, mit einer guten Papirossa im Mund, ging er von Grube zu Grube, stieß die Spitze seines glänzenden Chromlederstiefels gegen das Erdreich und sagte zu den Häftlingen:

»Nun, wie ist der Boden?«

oder:

»Ziemlich klein, deine Karre, Freundchen.«

oder:

»Denkt dran, nur durch ehrliche, selbstlose Arbeit könnt ihr euch von den Schandflecken des Verbrechens reinwaschen.«

In solchen Momenten ähnelte er Grischka Filon in erstaunlicher Weise; sogar sein Mund schien sich, wie bei Grischka, mit Speichel zu füllen.

Nach der kurzen Mittagspause weigerten sich an die hundert Mann aufzustehen. Die Wachsoldaten schrien umher, schossen in die Luft, aber vergeblich. Sie zwangen eine Gruppe von etwa zwanzig Mann irgendwie auf die Beine und trieben sie zum Karzer des Außen­lagers. Ich konnte sehen, wie sie, den Blicken der Obrigkeit kaum entschwunden, ihren Fäusten und Gewehrkolben freien Lauf ließen.

»Mein süßes Mägdelein,

das ist so hübsch und fein …«

Som kam für einen Augenblick aus der Höhle, zwinkerte mir zu, zeigte auf die Menschen, die da verprügelt wurden, und meinte fröhlich:

»Umerziehung!«

Die Aufschüttung wuchs sichtlich an. Das Orchester spielte ohne Unterbrechung. Mit eingefallenen Augen blickten die Häftlinge wütend zu den Musikern und schimpften:

»Hoffentlich hören die Hunde bald auf zu spielen! Ist doch auch so schon kaum zu ertragen!«

Mit schrecklichem Getöse stürzte die Höhle ein und begrub acht Mann, darunter auch Som. Ich schaffte es gerade noch, einem riesigen Erdklumpen zu entkommen, der auf mich zurollte.

»Mein süßes Mägdelein,

das ist so hübsch und fein …«

Genosse Moros gestattete, eine halbe Brigade für die Bergung der Leichen abzustellen.

Von der Brücke aber schrie in roten Lettern laut das Spruchband: »Arbeit ist in der UdSSR eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhms, eine Sache der Tapferkeit und des Heldentums! (Stalin).«

Der Zug überquerte die Brücke erst am Abend.

***

Drei Tage wälzte ich mich krank auf meiner Pritsche.

Grischka Filon kam und brachte mir einen Brief von meinem Vater aus Moskau. Er drehte den Umschlag lange in den Händen, zog den Brief dann heraus, gab ihn mir und steckte den Umschlag in seine Jackentasche.

»Gib mir den Umschlag auch«, bat ich.

»Geht nicht. Irgendwie suspekt, muss ich prüfen …« Er ging weg.

Bald darauf wurde Grischka Filon aufgrund »vorbildlicher Arbeit« vorzeitig entlassen. Er war, glaube ich, der Einzige, der für den Bau der Lun-Wosch-Brücke eine solche Auszeichnung erhielt.

Ein halbes Jahr später. Der Skorbut hatte mir die Beine gekrümmt, ich kam knapp aus der Baracke hinaus. Schon lange hatte ich keine Nachricht von Zuhause mehr erhalten, und als mir der neue Erzieher – Woizechowski, vordem ein großer Hochstapler – einen zweiten Brief aushändigte, weinte ich fast vor Freude. In dem Brief schrieb mein Vater unter anderem:

»Gestern war ein Freudentag: Wir hatten Besuch von Deinem früheren Erzieher Semjon Michailowitsch Ogurzow. Wir haben Tee getrunken, und er hat uns viel von Dir erzählt. Dann sagte er, dass er morgen wieder ins Lager fährt, als Vertragsbeschäftigter. Wir baten ihn, ob er nicht so liebenswürdig sein und etwas für Dich mitnehmen könne. Er war gern bereit und meinte, dass Du etwas Anständiges zum Anziehen brauchst. (Warum hast Du uns das nicht geschrieben?) Wir haben ihm zwei große Koffer für Dich mitgegeben, mit Kleidung und Lebensmitteln. Hast Du sie erhalten?«

Ich begriff sofort, wozu Grischka Filon den Briefumschlag an sich genommen hatte.

Die Koffer hatte ich natürlich nicht bekommen, und würde sie auch nie erhalten. Es ging auch gar nicht um die Koffer. Schließlich war Semjon Michailowitsch Ogurzow einmal der Erzieher Grischka Filon gewesen und wusste ganz genau, was Häftlinge eines sowjetischen Konzentrationslagers brauchen. Vor allem brauchen sie Umerziehung – alles andere ist zweitrangig.

Dafür war Grischka Filon auch Erzieher, um das zu wissen!

Taiga

Подняться наверх