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DER PIANIST

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An diesem Tag war es besonders heiß. Über dem aufgewühlten braunen Lehmboden flirrte die brütende Hitze. Mückenschwärme tanzten als Wolken über unseren Köpfen.

Ich arbeite an einer Pfahlramme. Der auf die Schnelle aus feuchtem Holz zusammengezimmerte Göpel steht auf dem Grund einer tiefen Schlucht, am Ufer des kleinen, aber kalten und schnellen Flüsschens Vuly-Sju-Iol. Von frühmorgens bis spätabends stemmen wir, neun abgerissene, hungrige Häftlinge, uns mit der Brust gegen die Schwengel der Rammwinde und gehen im Kreis, um den schweren eisernen Rammbär nach oben zu ziehen.

Die Rammwinde knarrt, das stählerne Seil spannt sich wie eine Saite, und wenn der Rammbär laut krachend auf den Rammpfahl fällt, wischen wir uns den Schweiß von der Stirn und versuchen auf jede erdenkliche Weise, das erneute Hochstemmen des herzlosen eisernen Ungetüms, das uns bis zur völligen Erschöpfung zermürbt, hinauszuzögern.

Der Zehnerleiter, ein kleines, pockennarbiges Männchen, sitzt auf einem Holzkloben, weist mit seiner Messlatte aus Kiefernholz auf die Sonne und mahnt immer wieder:

»Macht zu, Jungs, macht zu … Seht zu, dass ihr die Hälfte der Norm bis Mittag schafft!«

»Machen wir, machen wir, Golubtschik«, erwidert im selben Tonfall Jefimytsch, mein Nachbar am Schwengel, ein gekrümmter, schwindsüchtiger, ständig schwer hustender Alter, der, weil ihm die Brust wehtut, die vertrocknete Schulter auf den glattgescheuerten glänzenden Schwengel legt. »Wir geben alles, was wir können, Zehnerleiterchen, vielleicht geben wir dir bald auch unser bisschen Leben.«

Zehnerleiter Golubew kneift die scharfen Augen zusammen, sieht ihn an und sagt langsam:

»Du bist verdammt geschwätzig geworden, Jefimytsch, was brauch ich dein Leben, Freundchen, ich bin selbst nur Häftling.«

»Warum zum Teufel treibst du uns dann so an«, sagt daraufhin wütend Mitjka-Pan, ein alter Langfinger und Wiederholungstäter, und wendet ihm sein bleiches Gesicht zu. »Du hast kein Gewissen, du pockengesichtiger Deibel.«

Golubew lacht leise.

»Weswegen sitzt du, Pan?«, fragt er und gibt die Antwort gleich selbst. »Diebstahl! Und ich? Hab ich einen umgebracht? Oder beklaut? Oder hab ich mich gegen die Sowjetmacht gewendet, wie Jefimytsch da oder Serjoschka, oder Wsjewolod? Nehee, ich hab keine Gesetzesverbrechen nich gemacht … Wenn du’s genau wissen willst, Buchhalter war ich, im Kolchos, und da haben sie mich reingerissen … Hat einer fünf Fuhren Roggen aus dem Kolchosspeicher geklaut, und ich hatte die Verantwortung.«

»Du lügst doch, du Hund!« Mitjka-Pan spuckt aus. »Die hast du selbst stibitzt und die Schuld auf andre geschoben.«

Mitjka-Pan hat als Einziger von uns keine Angst vor dem Vorarbeiter. Und er ist auch der Einzige, über den sich der Zehnerleiter nicht bei der Lagerleitung beschwert, weil er nämlich Angst vor Mitjka hat. Mitjka weiß das und schmeißt die Arbeit öfter mal hin, packt sich gleich neben der Rammwinde in die Sonne, um zu schlafen. Golubew umkreist ihn und schreit rum, dass er ihn in die Isolationszelle bringt, Mitjka aber schließt die Augen, lächelt selig und verspricht gleichgültig:

»Ich brech dir gleich alle Rippen, pockengesichtiger Satan, wenn du nicht verschwindest und mich schlafen lässt.«

Am besten verstand ich mich mit Wsjewolod Fjodorowitsch. Er war Pianist von Beruf. Schon vor der Haft hatte ich Konzerte von ihm besucht, im Moskauer Konservatorium. Damals waren wir aber noch nicht persönlich miteinander bekannt. Er war ein kluger und begabter Mensch, siebenunddreißig Jahre alt, hochgewachsen, bedächtig in seinen Bewegungen, ein wenig linkisch. Mit einer großen runden Brille, durch die gütige, kluge Augen blickten, strahlte er Warmherzigkeit und Anstand aus. Er war sehr schweigsam und leistete gefügig und fleißig jede Art von Arbeit. Man hatte ihn zu drei Jahren verurteilt, zweieinhalb davon hatte er bereits »abgesessen«. Wofür er verurteilt worden war, wusste Wsjewolod, wie die meisten Politischen, selbst nicht.

In Moskau lebte noch seine alte Mutter. Er schrieb ihr Briefe und lebte nur für ein Ziel: zu ihr zurückzukehren und wieder als Pianist zu arbeiten. Letzteres wurde jedoch durch einen Umstand erschwert: Die körperliche Arbeit hatte seine Hände so grob und schwielig werden lassen, dass er sie, wie er selbst sagte, kaum noch bewegen konnte. Das bedrückte ihn außerordentlich und ließ ihn nächtelang kein Auge zumachen.

Wenn wir uns abends nach der Arbeit entkräftet auf die schmutzigen, verlausten Pritschen fallen ließen, zeigte er mir seine verkrümmten, rauen Finger und fragte nervös:

»Was meinen Sie, Serjosha, ob die noch wieder werden?«

Ich gab mir alle Mühe, ihm glaubhaft zu versichern, dass er, ja, natürlich wieder spielen würde, doch im tiefsten Innern zweifelte ich daran. Und wie zum Trotz musste er während der ganzen drei Jahre im Konzentrationslager die schwersten Arbeiten verrichten: Mal stand er mit dem Spaten in der Hand bis zu den Knien im fauligen Sumpfwasser, mal schob er die schwere, mit Erde beladene Schubkarre oder schleppte sieben Meter lange Balken aus dem Wasser.

Es gibt Menschen, die sind so wendig und gerissen, die reißen sich die ganze Haftzeit über kein Bein aus, wie es so schön heißt. Die sehen zu, dass sie eine Arbeit als Friseur kriegen, oder als Koch, Depotwärter, Verwalter … Andere hingegen schieben jahraus, jahrein die schwere Karre. Das sind ehrliche, bescheidene, dem Schicksal ergebene russische Menschen, die für nichts und wieder nichts ins Lager geraten sind. Solch ein Mensch war auch Wsjewolod Fjodorowitsch.

Ein Stoß ließ die Winde erbeben. Der Rammenführer Kolja, mit fünfzehn noch ein richtiger Junge, zog an dem Fallseil und zählte laut die Anzahl der Aufschläge. Die Sonne stieg immer höher, ihre heißen Strahlen brannten auf unseren kahlrasierten Köpfen. Am linken und rechten Flussufer, fünfzig Meter von uns entfernt, waren Erdarbeiter dabei, Zufahrten für eine künftige Brücke aufzuschütten. Ich blickte nach oben und sah, wie vor dem Hintergrund des blauen Himmels auf den Erdkegeln Menschen mit Schubkarren auftauchten, einer nach dem anderen, armschwingend die Karren umkippten und sie leer wieder hinunterschoben. Sie erinnerten an große Vögel, die an den Rand eines Abgrundes geflogen kamen und erschrocken zurückflatterten.

Ein wenig abseits saß im dichten Schatten wilder Johannisbeersträucher der Wachsoldat auf einem Baumstumpf. Den Kopf auf der Brust, gestützt auf das Gewehr, das er nicht aus den Händen ließ, schlief er friedlich. Er war morgens schon betrunken gewesen, und jetzt, gegen Mittag, war er völlig hinüber.

»He, Gruppenleiterchen!«, rief Mitjka-Pan Golubew zu.

»Was-willst-du-denn?«, fragte der faul und schnitzte weiter Muster in seine Messlatte.

»Was, wenn ich mal eben zu dem Wachkerl da geh, ihm die Flinte aus der Hand reiße und zack mit’m Lauf eins übern Schädel, und dann dir ’ne Kugel in’n Kopf und tschüss, ab in die ­Taiga …?«

»Kommst trotzdem nicht weit!«, erwiderte Golubew leise.

»Wieso?«

»Na weil hier Hunderte von Kilometern nur Taiga is, und Sümpfe und Mücken. Die nächsten Dörfer sind erst an der Wytschegda. Bevor du da hingekrochen kommst, bist du vor Hunger verreckt oder im Moor ersoffen.«

»Ich hab doch die Flinte. Kann Vögel schießen«, träumte Mitjka-Pan laut.

»Erstens hast du nur fünf Patronen, mehr kriegen die Wachmänner nicht. Zweitens kannst du überhaupt nicht schießen und wirst sie gleich am ersten Tag alle abfeuern. Nee, nee, du kommst hier nicht weg, Mitjka.«

»Teufel aber auch«, empörte sich Mitjka-Pan. »Die weiß schon, die Sowjetmacht, wo sie die Lagerchen für unsereins baut: nur Sumpf und Dickicht.«

»Was hast denn du gedacht? Du weißt doch, da sind Menschen … Kch-ch-che … Menschen …« Der Husten ließ den alten Jefimytsch nicht zu Ende reden.

Ich blickte zu Wsjewolod Fjodorowitsch. Er hielt den Kopf tief gesenkt, drückte mit Brust und Händen kräftig gegen den Schwengel und lächelte, die in der Sonne blitzende Brille auf der Nase, vor sich hin.

Rums! Der eiserne Rammbär fiel hinab.

Und wieder wickelte sich das Seil auf, wieder riss Kolja am Fallseil …

Rums!

Rums!

Rums!

Die Stöße kehrten als vielstimmiges Echo aus der Taiga zurück. Die Ramme arbeitete sich immer weiter in den Boden.

»Die Sterbegehilfin kommt!«, rief der kleine Rammenführer freudig. »Pa-ause, Jungs!«

»Pa-ause!«, flog der Ruf die Trasse entlang.

Am Ufer tauchte hinter den Kiefern eine kleine Prozession auf. Voran marschierte eine füllige Frau, hinter ihr gingen drei Männer mit Sperrholzkisten auf den Köpfen. Sie brachten das Mittagessen. Die »Sterbegehilfin« hatte diesen Spitznamen, weil sie eine Zeit lang als Sanitäterin beim Feldscher des Lagers gearbeitet hatte. Wegen eines Vergehens (sie hatte die Baldriantropfen aus dem Notfallkoffer ausgetrunken) wurde sie zuerst in die Wäscherei versetzt, dann hatte man Erbarmen mit ihr und beauftragte sie, den arbeitenden Häftlingen das Mittagessen auszutragen. Sie war eine junge und außergewöhnlich kraftvolle Frau.

Jeder von uns erhielt ein Stück stinkenden Dorsch und ein kleines Stück Brot.

»Gib uns doch noch ein Stück, Hexe!«, bat Mitjka-Pan.

»Das Cheflein hat noch was!«, entgegnete sie im Basston und kommandierte, an die Träger gewandt: »Los, weiter!«

Wir setzten uns ins Gras und begannen hungrig, Fisch und Brot zu verschlingen.

Wsjewolod Fjodorowitsch öffnete und schloss seine Hand.

»Hören Sie«, sagte ich. »Warum gehen Sie nicht zum Lagerleiter und bitten darum, dass man Ihnen eine andere Arbeit zuweist?«

Wsjewolod Fjodorowitsch lächelte traurig.

»Hab ich ja versucht.«

»Und?«

»Hat nichts gebracht.«

»Versuchen Sie’s doch einfach noch mal! Beharren Sie drauf!«

Er zuckte die Schultern.

»Es nützt ja doch nichts!«

»Was sind Sie nur für einer! Man muss drum kämpfen, sonst wird es natürlich nichts.«

Mitjka-Pan sah uns von der Seite an:

»Du solltest wirklich hingehen, Wsjewolod. Die Arbeit hier geht über deine Kräfte, ich sehe das. Hier gehst du kaputt, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die Hände sind doch das Wichtigste für einen Musiker. Ich hatte einen Kumpel, der konnte Bajan spielen, wie nix! Dann haben sie ihn bei Waldarbeiten eingesetzt, und er hatte keine Lust zu der Arbeit, hat sich selbst an der linken Hand drei Finger abgehackt. Wie er dann wieder spielen wollte, ging’s nicht, war nichts zu machen.«

Wir mussten lachen.

»Ich bin zwar ein Dieb«, fuhr Mitjka-Pan fort, »aber so ’ne Willkür kann ich nicht ausstehen. Jefimytsch zum Beispiel, der sollte auch von der Arbeit an der Ramme befreit werden … Nicht wahr, Jefimytsch?«

»Der Herr wird uns alle befreien«, sagte der Alte leise.

»Mitjka, Sie sind zwar ein Dieb, aber ein guter Mensch, besser als andere, die keine Diebe sind«, meinte Wsjewolod Fjodorowitsch. »Nur sollten Sie nicht dauernd mit dem Zehnerleiter streiten.«

»Den mach ich irgendwann einen Kopf kürzer«, versprach Mitjka-­Pan. »Hörst du, Zehnerleiterchen?«

»Ich höre dich«, erwiderte Golubew, während er seinen Dorsch vertilgte. »Pass nur auf, dass ich dich nicht zuerst zu fassen kriege … Los, Jungs, weiter geht’s!«

»Oh, du Blutsauger!«, rief Mitjka-Pan. »Gönn doch den Leuten wenigstens eine Atempause.«

Er sprang auf. Sein bis zum Gürtel zerrissenes Hemd entblößte eine kräftige tätowierte Brust und einen Bauch voller Narben, die von Messerstichen stammten. Die blauen Augen im bleichen Gesicht blitzten voller Wut und Hass. Eine Sekunde noch, und Mitjka-­Pan würde wahr machen, was er seit langem schon angedroht hatte; plötzlich aber wandte er sich auf dem Hacken um, ging als Erster zum Göpel und ergriff den Schwengel. Ich sah, wie seine Kaumuskeln sich spannten und bebten.

Am Abend konnte ich Wsjewolod Fjodorowitsch überreden, mit mir gemeinsam zum Leiter unseres Teillagers zu gehen.

Der Kommandant wollte uns zuerst partout nicht aus der »Zone« herauslassen, winkte dann aber doch ab und befahl einem Wachmann, uns zu begleiten.

Sulimow, der Lagerleiter, wohnte in einem kleinen Häuschen ein wenig abseits des Lagers, das von einem Stacheldrahtzaum umgeben war. Wir standen etwa fünfzehn Minuten im Eingangsbereich und warteten darauf, dass er uns empfing.

Dann traten wir ein.

Sulimow lag ausgestreckt auf einer Liege und gab seinem riesigen Schäferhund Zuckerstückchen. Der Kragen seiner Feldbluse mit den blutroten Kragenspiegeln war geöffnet, den Riemen hatte er abgelegt und die oberen Knöpfe seiner blauen Reithose geöffnet.

»Nun, was wollen Sie?«, fragte er, ohne uns anzublicken, und beschäftigte sich weiter mit seinem Hund.

Wir drucksten unentschlossen.

»Nun?«, fragte er erneut.

»Wissen Sie … verzeihen Sie …«, begann Wsjewolod Fjodorowitsch schüchtern.

»Nun?«

»Wir … ich bin, im Grunde genommen, aufgrund einer persönlichen Angelegenheit …«

»Nun?«

»Ich bin Pianist …«

»Ein bekannter Moskauer Pianist«, warf ich ein. Sulimow hob eine Augenbraue und warf mir einen schrägen Blick zu.

»Sie reden später … Nu-un?«

»Verstehen Sie, Bürger Lagerleiter«, fuhr Wsjewolod Fjodorowitsch fort. »Ich verrichte seit zwei Jahren ausschließlich körperliche Arbeit. Meine Hände … sehen Sie doch, was aus denen geworden ist.« Er streckte beide Hände nach vorn. »Wenn die Hände nicht mehr zu gebrauchen sind, dann … dann kann ich nicht mehr spielen, dann hab ich keinen Broterwerb, wenn ich aus dem Lager entlassen werde, ich kann nur das, etwas anderes kann ich nicht …«

»Nun, und … Runter mit dir!«, schnauzte Sulimow den Schäferhund an, der mit den Vorderpfoten auf den Rand der Liege gesprungen war. »So was aber auch, vergisst sich vor lauter Freude! Und, weiter?«

»Ich möchte Sie sehr bitten, mir eine andere Arbeit zu geben.«

»So, so«, sagte Sulimow scharf. »Und Sie, was wollen Sie?«

»Ich bin nur mitgekommen«, erwiderte ich. »Ich möchte nur bestätigen, dass die Arbeit an der Rammwinde tatsächlich zu schwer ist für ihn.«

»Und die Schubkarre wollen Sie beide nicht schieben?«, fragte Sulimow lächelnd. »Nach welchem Artikel sind Sie verurteilt?«

»Achtundfünfzig, Punkt zehn«, antwortete Wsjewolod Fjodorowitsch.

»Ah, ja … Nein, eine andere Arbeit habe ich für Sie nicht … Wie gesagt, die Karre kann ich Ihnen anbieten. Nicht gut genug?«

Wir schwiegen.

»Abführen!«, befahl Sulimow dem Wachmann.

Als Mitjka-Pan von unserem Misserfolg erfuhr, meinte er, am besten sei es, abzuhauen, wenn es im Lager nicht mehr auszuhalten sei. Er bot an, mit ihm gemeinsam zu fliehen. Wir lehnten ab.

Am folgenden Tag standen wir wieder an der Winde. Jefimytsch musste immer häufiger husten und sich für kurze Zeit neben der Ramme hinsetzen.

»Zeit für den Sarg, Jefimytsch, Zeit für den Sarg«, tröstete Golubew ihn.

»Weiß ich selbst, dass es an der Zeit ist«, bestätigte der Alte. »Nur will mich der Herr wohl noch nicht zu sich holen, ich weiß auch nicht warum.«

»Die Zeit zum Sterben kommt schon noch.« Der Gruppenleiter schnitzte weiter an seinem Stock. »Ich bin jetzt schon das achte Jahr hier, solche wie dich hab ich viele gesehen, die haben alle nach und nach den Löffel abgegeben.«

»Und wie viele davon hast du auf dem Gewissen, Golub?«, erkundigte sich Mitjka-Pan.

»Wer weiß«, entgegnete Golubew spöttisch.

Bis zum Mittag hatten wir drei Rammpfähle eingebracht. Nach dem Essen stiegen wir alle zum Fluss hinab und schleppten neue Pfähle zur Ramme hoch. Es hatte in der Nacht zuvor geregnet und das Wetter blieb den ganzen Tag über düster. Der nasse Boden wollte nicht trocknen.

Alle neun, einschließlich Kolja, schleppten wir einen schweren Balken hinauf. Vier neue Pfähle lagen schon oben. Mit einer solchen Last hochzusteigen, war sehr anstrengend. Wir alle spannten unsere letzten Kräfte an. Mitjka-Pan gab das Kommando.

»Gut … Gut so, Jungs! Ein bisschen noch … Jefimytsch, nicht aufgeben. Oder besser: Geh unterm Balken weg beiseite, zum Teufel, ist egal, schaffst ja eh nicht viel. Wsjewolod, die andere Schulter, sonst reißt’s dir die Birne ab, wenn wir ihn hinschmeißen … Iwan, tricks nicht rum, hoch die Schulter! Wir schleppen alle, also streng dich an! Ein gesunder Kerl, aber will sich auf unsre Kosten ausruhn, guck dir Jefimytsch an, der kratzt bald ab, aber schleppt mit. Vorsichtig, zum Teufel … Und abwerfen! Eins! Zwei! Drei!«

Der Balken flog von den Schultern.

Wsjewolod rutschte auf dem feuchten Lehm aus und stürzte mit weit ausgestrecktem Arm. Seine rechte Hand landete auf einem der Pfähle. Der Balken krachte herab und quetschte Wsjewolods Finger.

»Oh-och!«, stöhnte er auf. Es wurde still. Alle waren schockiert.

»Was guckt ihr so!«, brüllte Mitjka-Pan. »Hoch mit dem Balken!«

Wir ergriffen den Balken und hoben ihn etwas an. Ich zog Wsjewolods Hand heraus. Vier Finger waren zerschmettert. Unter den Nägeln trat langsam das Blut heraus. Die Hand schwoll zusehends und wurde blau. Wsjewolod lag schweigend, ohne den Kopf zu heben, auf der Seite. Seine Brille war heruntergefallen, und es war seltsam, sein Profil ohne Brille zu sehen.

»Serjosha!«, rief er leise. Ich beugte mich zu ihm.

»Es ist vorbei, ja? Ist die Hand ab?«

Ich schwieg.

Der Wachmann kam heran.

»Man sollte ihn … na … zum Feldscher schicken«, schlug er leise, schnaufend, vor und schob sein Käppi auf den Hinterkopf.

Auf der Aufschüttung ließen Häftlinge ihre Karren stehen und kamen herbeigerannt.

Wsjewolod Fjodorowitsch setzte sich auf. Er lächelte seltsam, ergriff mit der linken Hand die rechte und legte die verstümmelte Hand auf seine Knie.

»Spielen wirste wohl nicht mehr können«, meinte Mitjka-Pan betrübt.

Wsjewolod Fjodorowitsch sah mir in die Augen. Ich werde diesen schrecklichen, verwunderten Blick nie vergessen.

»Kannst du gehen?«, fragte der Wachmann. Wir stützten Wsjewolod Fjodorowitsch, und er erhob sich schwankend.

»Warum nicht?«, fragte er.

In Begleitung des zweiten Wachsoldaten und des Jungen Kolja ging er auf unsicheren Beinen zum Lager.

Ich blickte seiner gebeugten, hochgewachsenen Gestalt nach und dachte daran, dass es am besten wäre, oben auf die Rammwinde zu steigen und sich kopfüber hinabzuwerfen, um nicht mehr all dies endlose menschliche Leid auf der geduldigen russischen Erde mit anzusehen.

Im Herbst, an einem feuchten, nebligen Morgen, erschlug ­Mitjka-Pan mit einer Axt den Gruppenführer Golubew und floh in die Taiga.

Taiga

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