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Ausdehnung und die Entstehung der Welt

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Dehnen wir jetzt den Kontext aus, innerhalb dessen das Prinzip der Ausdehnung funktioniert. In den Lehren von Ha‘Ari (Isaac Luria, 1534-1572), die bis heute als wichtigste und beste Interpretation der Kabbala gelten, wird der Prozess der Schöpfung als Prozess der Verengung oder des Zusammenziehens bezeichnet. Das unendliche göttliche Licht hat sich selbst mehr und mehr in Strukturen zusammengezogen, und so ist die Welt, wie wir sie kennen, entstanden: ein dichteres oder stärker zusammengezogenes göttliches Licht. Materie ist verdichteter oder zusammengezogener Geist.

Aus dieser erstaunlichen Weltsicht heraus kann das gesamte Universum als eine Ansammlung schmaler Kanäle wahrgenommen werden, durch die göttliche Energie fließt; als Formen, die ein kondensiertes göttliches Licht enthalten. Jede Form und jede Struktur ist nichts anderes als eingefangenes Licht, ein Licht, das begrenzt wurde, um eine Form oder Struktur sichtbar zu machen. Daher war die Verengung im göttlichen Schöpfungsprozess eine Notwendigkeit. Ohne diese könnte keine Schöpfung existieren.

Aber da der Prozess der Schöpfung eine stärker werdende Verengung bedeutet, zahlt das menschliche Bewusstsein dafür einen nicht eben kleinen Preis: Irgendwo weit hinten am Ende der Kette der Verengung begegnet der Mensch seiner erschreckenden Kleinheit und den zahlreichen Begrenzungen seines Bewusstseins, Verstands und Körpers. Gefangen in seinem engen Körper und den zahllosen Trivialitäten des Alltags empfindet er ein grundlegendes Leiden, das größtenteils unbewusst ist. Dieses Leiden ist das nagende und beunruhigende Wissen, dass er tief in seinem Inneren nichts anderes als gefangenes göttliches Licht ist. Das Wesen dieses Lichtes besteht in Grenzenlosigkeit, in einem unendlichen Raum – ganz so, wie es vor dem Prozess der Schöpfung und damit der Verengung war. Dieser Gedanke impliziert, dass der Mensch nur dann, wenn er im direkten Kontakt mit seinem unbegrenzten Wesen ist, essenzielles Glück erleben kann, zumindest so lange, wie er sich noch in der verengten Struktur des Körper-Psyche-Komplexes befindet.

Man kann sagen, dass dies der tiefste Beweggrund ist, der hinter der Sehnsucht des Menschen nach Freiheit steckt: der Drang, die Struktur, in der er gefangen ist, zu durchbrechen, denn im Unterschied zu anderen biologischen Kreaturen auf diesem Planeten kann er durch sein Bewusstsein sein eigenes höchstes Potenzial erkennen, seine eigene Fähigkeit nämlich, sich aus dieser Struktur zu befreien.

Aber wie kann der Mensch, wenn er sich in einer so verengten Struktur befindet, so weit wie die leuchtende Unendlichkeit sein? Im Laufe der Geschichte sind verschiedene Techniken entstanden, deren Ziel es ist, dem Menschen das befreiende Erlebnis eines ausgedehnten Zustands zu geben: Meditation, Mantra, Gebete und mehr. Jede Technik war in Wirklichkeit eine unbewusste Form der Ausdehnung – unbewusst, weil der Mensch sie nicht so genannt hat und nicht unbedingt wusste, was der eine und einzige Sinn seiner Praktiken war. Aufgrund seines mangelnden Bewusstseins wurde sein Verstand allzu häufig abgelenkt und von einer eingeschränkten Form der Spiritualität angezogen: mit einem Fokus auf Symbole, Ideen, Glaubensvorstellungen und Objekte, die er verehren kann. Der Mensch hat nicht erkannt, dass das Einzige, was er durch diese Praktiken zu erlangen sucht, die Ausdehnung seines Bewusstseins ist.

Tatsächlich besteht eine echte Spiritualität in der Ausdehnung des Bewusstseins. Und man kann sicher sagen, dass diese Ausdehnung die entgegengesetzte Bewegung zum Verengungsprozess der göttlichen Schöpfung ist: Wenn sich zuvor das göttliche Licht mehr und mehr zusammengezogen hat, bis es am Ende dieses Prozesses zu unserem kleinen, begrenzten Gehirn wurde, fangen wir nun an, uns aus unserem Gehirn heraus in Richtung Unendlichkeit auszudehnen. So gesehen liegen die Bedeutung und der Sinn des Lebens darin, uns über die Begrenzung hinaus auszudehnen, bis das Begrenzte zum Unbegrenzten wird. Damit ist nicht die Rückkehr zur ursprünglichen Quelle gemeint, wie es manche Lehren nahelegen – unser Ziel ist nicht, uns in einer Rückwärtsbewegung zusammenzuziehen, in einen vor-schöpferischen Zustand hinein. Tatsächlich ist die Absicht das genaue Gegenteil: Es geht darum, sich zu entwickeln, aus den Strukturen herauszuwachsen und sie zu durchbrechen, sodass das Universum selbst göttlich wird. Mit anderen Worten: Die Reise geht von der Ausdehnung zur Verengung und dann von der Verengung zur Ausdehnung. Die Ausdehnung bedeutet, dass die Schöpfung kontinuierlich durch den Menschen hindurch stattfindet.

Der Sinn der Reise unseres Lebens besteht nicht in der Rückkehr, aber auch nicht direkt in einer Vorwärtsbewegung. Entwicklung bedeutet Ausdehnung, ein Ausbreiten aus dem Zentrum, aus dem Innersten, dem Kern heraus, so wie sich der ganze Kosmos fortwährend entfaltet.

Durch den extrem einfachen Prozess der Ausdehnung können wir endlich direkt das tun, was der Mensch lange Zeit auf indirekte Weise versucht hat. Nun können wir ein ausgedehntes Bewusstsein innerhalb des Körpers sein, ohne in irgendeiner Weise religiöse Traditionen und Bräuche zu benötigen. Ein ausgedehntes Bewusstsein, das unserer natürlichen Größe entspricht, kann wissen, was richtig ist, es kann sich selbst eine Autorität sein und aus seiner eigenen Kraft heraus kreativ sein. Mehr noch, ein ausgedehntes Bewusstsein kann die Magie der Alchemie vollführen: Durch den Akt der Ausdehnung kann es alle Materie in Geist umwandeln, kann es das optimale, maximale und weiteste Potenzial jedes Elements im Universum hervorlocken. Es ist in der Lage, das gefangene göttliche Licht zu entfesseln und auszudehnen, bis es vollkommen verwirklicht ist.

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