Читать книгу Hillmoor Cross - Shannon Crowley - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеDie einsame Sackgasse, die am Ende der Ortschaft Hillmoor Cross lag, mündete in einen sandigen Fußweg. Jake stand, angespannt von den Haarwurzeln bis zu den Zehenspitzen und nahezu verborgen hinter einer Tanne am Waldrand und beobachtete die schmale Gasse. Keine Menschenseele war an diesem kühlen, sonnigen Nachmittag des 16. März hier zu sehen, obgleich 500 Meter weiter hinter einer Biegung des Fußweges der Kindergarten lag, in dem heute die vorgezogene Feier zum St. Patrick’s Day stattfand. Wer zum Hort wollte, nahm die Hauptstraße, die vorne am Eingang vorbeiführte. Viele brachten ihre Kinder mit dem Auto und konnten unmittelbar vor der Tür halten. Bis auf den kleinen Jungen, auf den Jake wartete, nutzte niemand diesen verlassenen Weg zum Kindergarten, das wusste er mittlerweile. Schließlich hatte er sich in den letzten zwei Wochen oft genug hier herumgedrückt. Schräg gegenüber von Jakes Posten befand sich eine verlassene Baustelle, auf der der Rohbau eines Bürogebäudes stand, an dem seit geraumer Zeit jegliche Arbeiten ruhten.
Jake sah auf sein Handy. Fünf Minuten vor zwei Uhr. Um zwei Uhr fing die Feier im Kindergarten an. Er zerrte am Kragen seines grünen Poloshirts. Wo blieb der Junge? Was, wenn er gerade heute nicht hier entlangkam? Dann musste er sein Vorhaben um mindestens zwei Tage verschieben, denn morgen war der Kindergarten geschlossen. Jake durchlief ein Zittern. Das Kind musste einfach vorbeikommen – er hielt den Druck nicht länger aus. Im gleichen Moment sah er die kleine Gestalt den Gehweg entlangschlendern. Das Kind ließ die Finger über den eisernen Zaun seitlich des Bürgersteigs holpern, der die Baustelle gegen unbefugtes Betreten absicherte, und kam näher. Jake zog seine Kappe tiefer ins Gesicht, tastete nach seinem Bart und überquerte die Straße. Seine Knie zitterten und sein Herz pumpte so heftig, dass ihm die Luft knapp wurde.
»Hey«, stieß er hervor, als der Junge nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, und stellte sich ihm in den Weg. Seine Stimme klang heiser vor Erregung. Das Kind blieb stehen und sah ihn fragend an.
»Willst du in den Kindergarten?«, erkundigte er sich. Der Kleine nickte. Er trug eine verwaschene Stoffhose, die ihm zu groß war und für den Frühjahrstag zu dünn.
»Kannst du mir etwas helfen?«, fragte Jake weiter. Sein Herz schlug noch immer hart und schnell, und ihm rann der Schweiß über den Rücken.
»Was denn?« Das Kind betrachtete ihn mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen. Jake ging in die Knie.
»Pass auf. Ich muss auch in den Kindergarten.«
»Du?« Der Junge runzelte die Stirn. »Du bist doch viel zu groß und zu alt.« Er steckte seine schmutzigen kleinen Hände die Hosentaschen.
»Doch. Morgen ist doch St. Patrick’s Day, und ihr feiert heute schon, nicht wahr?«
Das Kind nickte.
»Die Laura sagt, morgen hat der Kindergarten zu. Deswegen feiern wir heute. Aber ich muss jetzt los, sonst verpass ich die Überraschung«, erklärte der Kleine wichtig.
Jake suchte eilig aus den Augenwinkeln die Umgebung ab. Die Straße lag noch immer völlig verlassen. Links erstreckte sich ein Waldstück, rechts war die bewusste Baustelle. Der Kindergarten befand sich etwa hundert Meter entfernt hinter einer Biegung der Straße. Jake saß das Beben in allen Gliedern. Es dauerte zu lange. Er musste zusehen, dass er mit dem Jungen hier wegkam.
»Nein, nein. Du verpasst nichts«, versicherte er eilig. »Ohne mich geht die Feier nicht los. Ich bin nämlich der Clown, der heute zu euch kommt, und du könntest mir etwas helfen.«
»Du bist ein Clown? Du siehst aber gar nicht so aus.« Misstrauisch runzelte der Junge die Stirn.
»Eben. Ich hab meinen Anzug im Auto vergessen. Kommst du mit und wir holen ihn? Danach gehen wir gemeinsam in den Kindergarten. Du darfst auch mein Assistent sein.«
»Dein was?« Das Kind schob die Hände tiefer in die Taschen.
»Du darfst mir helfen. Wie findest du das?« Jake richtete sich auf.
»Krieg ich was dafür?«
Für einen Moment war er verblüfft.
»Fünf Euro, einverstanden?«
»Gut.« Der Junge nickte. »Wo ist denn dein Auto?«
Jake zeigte mit einer unbestimmten Bewegung zum Waldrand.
»Dort hinten. Komm.«
Der Kleine trottete neben ihm her.
»Kannst du ein bisschen schneller laufen? Wir sind spät dran«, drängte Jake. Sie hatten die ersten Bäume erreicht. Er schob das Kind vor sich her in den Wald. Zwischen den Stämmen konnte man in etwa zwanzig Meter Entfernung die marode Scheune sehen, in der er den schlammfarbenen Range Rover abgestellt hatte. Das Dach hing an einer Stelle durch, als wollte es jeden Moment einbrechen, und an einer Seitenwand fehlten ein paar Bretter.
»Hier ist doch gar kein Auto.« Das Kind blieb stehen. »Und außerdem hast du einen Bart und ein Clown hat keinen Bart«, fuhr der Junge fort.
»Manchmal schon. Dort in der Scheune steht das Auto, und im Kofferraum liegt mein Kostüm.« Sie hatten den Schuppen erreicht. Jake zog eine der hölzernen Flügeltüren ein kleines Stück auf.
»Komm«, wiederholte er und machte dem Jungen ein Zeichen, der zögernd näher kam. Jake öffnete den Kofferraum und mit einer Hand die Plastikdose, in der der mit Betäubungsmittel getränkte Schwamm lag.
»Da ist aber gar kein Kostüm … « Blitzschnell drückte er dem Kind den Schwamm ins Gesicht. Der Junge sackte zusammen. Jake hob ihn hoch und legte ihn auf die Decke im Auto hinter dem Rücksitz. Er schlüpfte in dünne Einweghandschuhe, riss mehrere Stücke schwarzen Klebebands von einer Rolle und verschloss dem Kleinen den Mund. Hand- und Fußgelenke band er mit einer Paketschnur zusammen, schlug die Decke locker über den kleinen Körper und klappte den Kofferraum zu. Er nahm die Baseballkappe vom Kopf und wischte sich mit dem Ärmel den Haaransatz trocken. Er war schweißgebadet und sein Puls jagte. Gleich war es geschafft. In etwa zwanzig Minuten war er zu Hause und der Kleine gehörte ihm. Endlich. Vorsichtig spähte er aus der Scheune, ehe er die Türen weit öffnete.
*
Jake hatte Hillmoor Cross rasch hinter sich gelassen. Von der Seitenstraße aus, auf der er den Jungen angesprochen hatte, musste er lediglich zweimal abbiegen und war dann bereits unterwegs in Richtung Liscannor. Er mied die belebte Küstenstraße R 478, die zu den Cliffs of Moher führte, obgleich er auf diesem Weg schneller zu Hause gewesen wäre, und nahm stattdessen einen wenig befahrenen Umweg an Liscannor vorbei. Gelegentlich kam ihm dennoch ein Fahrzeug entgegen. Jake bemühte sich jedes Mal, den Kopf gesenkt zu halten, so gut dies gefahrlos möglich war, und fuhr konzentriert mit exakt der erlaubten Geschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern. Er versuchte, nicht an den Kleinen im Kofferraum zu denken, und konnte doch nicht anders. Seine Erektion plagte ihn derart, dass er fürchtete, ohne Zutun zum Höhepunkt zu kommen, was in diesem Fall bitteren Zorn in ihm ausgelöst hätte. Er wollte sich jenen unwiederbringlichen und lang ersehnten Moment, dieses allererste Erleben seiner geheimsten und mächtigsten Fantasien aufsparen, um sie in allen Facetten zu genießen, und nicht vorab eine schale Milderung des Drucks erfahren.
Jake umklammerte das Lenkrad. Er war gleich da, er musste nur noch einige Male abbiegen. Die Straße wurde schmaler. Seitlich erstreckten sich sanft geschwungene Wiesen, hier und da bewachsen mit niedrigen struppigen Sträuchern, an deren Zweigen bereits das erste zarte Grün schimmerte. Spätestens in zwei Wochen würden sich die jetzt noch geschlossenen Knospen öffnen und duftende gelbe Blüten hervorbrechen. Jake fuhr über einen Hügel und erblickte das niedrige Gebäude, das aus groben grauen Steinen gemauert war und geduckt in einer Senke lag. Zwei Anbauten, deren Dächer mit Stroh gedeckt waren, kauerten rechts vom Wohnhaus, weiter hinten glitzerte ein kleiner See in der Nachmittagssonne. Es gab keine benachbarten Häuser in Sichtweite. Rundum befanden sich ausschließlich Schafweiden und Kartoffeläcker, die zum Anwesen gehörten und die sein Urgroßvater einst bewirtschaftet hatte. Jake lenkte den Wagen zu dem Nebengebäude, das unmittelbar ans Haus angebaut war und früher als Scheune für Werkzeuge und landwirtschaftliche Geräte gedient hatte. Bereits geraume Zeit nutzte er es als Garage. Die Flügeltüren standen offen, seit er vor etwa anderthalb Stunden nach Hillmoor Cross aufgebrochen war. Er parkte, zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und stieg aus. Dass seine Knie vor Erregung zitterten, nahm er nur unterschwellig wahr. Seine volle Konzentration war bei dem Jungen und bei seinem Vorhaben. Sorgsam schloss er die Türen, nicht ohne zuvor noch einen im Grunde völlig überflüssigen Blick nach draußen geworfen zu haben. Martha würde erst in einigen Tagen wieder nach Hause kommen, und sonst erwartete er niemand. Überraschende Besucher verirrten sich nicht nach hier draußen, an den Rand von Connemara, und seine Freunde meldeten sich grundsätzlich vorher an, um sich nutzlose Wege zu ersparen. Jake zog eine schmale Tür auf, die sich an der linken Seitenwand befand und den Schuppen mit dem Haupthaus verband. Vom Eingang der Scheune aus wurde sie von einem massiven Holzbalken verborgen. Eine Treppe führte hinunter in einen Keller mit etlichen Räumen und Verschlägen, die früher zur Lagerung der Ernte gedient hatten.
Er ging zum Kofferraum seines Autos, öffnete ihn, schlug die Decke zurück und hob den Jungen heraus. Die Augen des Kindes waren geschlossen, sein Brustkorb hob und senkte sich in flachen Bewegungen. Schlaff hing der Kleine in Jakes Armen, aus seiner Nase drang beim jedem Atemzug ein leiser pfeifender Ton. Jake trug ihn in den Keller. Die Verbindungstür ließ er offen. Wenn es dunkel war, würde er den Jungen zurückbringen und am Waldrand aussetzen. Ohne Bart und Kappe konnte ihn der Kleine niemals wiedererkennen. Und mit den Handschuhen und dem Kondom war gesichert, dass Jake keine DNA hinterließ. Er legte das Kind auf den Boden, löste ihm die Fußfesseln, zog ihm die verwaschene Hose aus und die Unterhose. Er keuchte, als er das kleine Genital sah, und vor seinen Augen flimmerte es. Hektisch riss er den Reißverschluss seiner Jeans auf und befreite seine Erektion von den Stoffen. Die Kondome lagen in einer Metalldose auf einer Holzkiste in Griffweite. Er zog sich eines über und begann seine Fantasien in die Tat umzusetzen. Er benutzte den Jungen von vorne und von hinten, war wie besessen und im Rausch, und nahm nichts wahr als seine Gier und seine Triebe. Die vertrauten Schritte und das Rascheln eines unterfütterten Rockes registrierte er, ohne zu begreifen. Ein schriller Aufschrei hinter ihm drang schneidend und unerbittlich in sein von der Ekstase leer gefegtes Gehirn. Jake fuhr herum. Hinter ihm stand Martha! Mit weit aufgerissenen Augen krallte sie ihre Finger in die Wangen. Ihr Anblick traf ihn wie kochendes Wasser, glutheiß und unerträglich. Er sprang auf und schlug zu. Martha kippte nach hinten und prallte mit dem Kopf auf dem Boden auf. In Jakes Kehle stieg ein Schrei, den er in letzter Sekunde zurückhalten konnte. Martha! Verflucht – was machte Martha hier? Er zerrte seine Hose hoch und beugte sich über die alte Frau. Seine Großmutter atmete schwer, aber sie atmete. Er drehte ihren Kopf und erblickte einen kleinen Riss unter den dunklen, mit grauen Strähnen durchzogenen Haaren, aus dem Blut sickerte. Ihm war, als würde ihn eine Übermacht erwürgen. Er bebte am ganzen Körper, wusste sekundenlang nicht ein noch aus.
Der Junge! Was war mit dem Jungen? Er blickte zu dem halb nackten Kind. Die Betäubung wirkte noch, aber sicher nicht mehr lange. Er musste ihn von hier wegbringen. Aber was machte er mit Martha? In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Der Bart, die Kappe – vielleicht gab es eine allerwinzigste Chance, dass sie ihn nicht erkannt hatte? Es war alles so schnell gegangen. Sein Hals und sein Mund fühlten sich an wie mit Sandkörnern und Glassplittern gefüllt. Marthas Atem ging flacher. Jake tastete nach ihrem Puls, der jedoch überraschend kräftig schlug. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er den Drang, erleichtert aufzuschluchzen. Großmutter war zäh – nichts warf sie so leicht um. Er erkannte die Ironie in seinen Gedanken. Himmel, verdammt, er musste handeln, nicht warten, bis beide Opfer zu sich kamen. Jake richtete sich auf. Sein Blick fiel auf einen engen Kellerraum, der rechts von ihm lag. Es war der kleinste Winkel in den Tiefen des alten Gehöftes, mit nur einem schmalen, seit ewigen Zeiten bis gut zur Hälfte mit Brettern vernagelten Lichteinlass direkt unter der Kellerdecke. Von außen hielt dorniges Gestrüpp wilder Rosen das meiste Tageslicht ab. Jake packte Martha unter den Armen und zog sie in den Raum, der kaum Platz für zwei Personen bot. Er warf noch einen letzten Blick auf die alte Frau, ehe er die hölzerne Tür von außen schloss und den Metallriegel vorschob. Eine Stunde höchstens, dann war er wieder da. Bestimmt würde sie zwischenzeitlich wieder zu Bewusstsein kommen, schreien und zetern, wenn er nach Hause kam, und er konnte hinuntereilen, um sie zu befreien. Was er tun sollte, falls sie ihn doch erkannte hatte, war ihm im Moment noch schleierhaft. Jetzt musste er sich erst um den Jungen kümmern. Jake war schlecht.
Das Kind wurde genau in dem Augenblick unruhig, als er es zurück in den Kofferraum legte. Es bewegte sich, stieß gurgelnde jammervolle Laute aus, und seine Augenlider flattern. Jake nahm den Schwamm, der noch immer hinten im Wagen lag, und drückte ihn gründlich in das kleine Gesicht. Der Kopf des Jungen kippte wieder zur Seite. Ehe er losfuhr, nahm er Bart und Kappe ab und stopfte sie hinter einen Stapel mit Spinnweben überzogener Mauersteine.
*
Henry Miller stand in sicherem Abstand am Fenster seines schäbigen Zimmers im zweiten Stock, in dem er seit einem halben Jahr bei der verwitweten Ella Anderson zur Untermiete wohnte, und blickte hinunter auf die Northern Street. Gleich gegenüber dem Haus befand sich die Bushaltestelle. Es war drei Uhr am Nachmittag. Ella stand mit ihrem beigen Fellhütchen, der karierten Lodenjacke und der übergroßen braunen Handtasche erwartungsvoll am Straßenrand. Henry durchzuckte der finstere Gedanke, die Alte zu erschießen. Damit wären zwar seine Probleme nicht gelöst, aber es gäbe einen selbstgerechten Menschen weniger auf der Welt, der ihn schikanieren konnte.
Die Sache scheiterte schon daran, dass er keine Waffe hatte. Ella verließ die Wohnung jeden Tag pünktlich drei Minuten vor drei Uhr, um den Bus nach Clifden zu nehmen. Dort traf sie sich mit ihrer Freundin Holly Barclay in O’Connels Café auf ein Schwätzchen und etliche Irish Mists. Auf diese irische Likörspezialität freute sie sich jeden Tag aufs Neue. Wenn Ella zurückkam, hatte sie stets noch schlechtere Laune als sonst, und die ließ sie gerne an ihm aus. Erst recht jetzt, da er mit anderthalb Monatsmieten im Rückstand war. Um die Monatsmieten musste er sich unbedingt kümmern, sonst setzte ihn Ella vor Tür, und wenn es mitten in der Nacht war. Henry sah den Bus kommen. Ob Ella einstieg, erkannte er nicht, aber als der Bus weiterfuhr, wartete sie nicht mehr an der Haltestelle. Er seufzte tief und wandte dem Fenster den Rücken zu. Das Leben war zu ungerecht. Ella gehörte das gesamte Haus hier in Blackstone mit insgesamt fünf Parteien, die zur Miete wohnten. Ihr verstorbener Mann, William Anderson, hatte einen florierenden Juwelierladen in Clifden besessen, den sie nach seinem Tod verkauft hatte. Sie mochte wahrlich genug Geld haben, und doch knauserte und zeterte sie ohne Ende. Er dagegen besaß noch knapp zehn Euro für den Rest des Monats, und heute war erst der 16. März.
Die letzte Miete hatte er Ende Januar bezahlt. Wenn er nicht alten Frauen die Handtaschen klauen wollte, um zu überleben und einen Teil seiner Schulden zu begleichen, brauchte er dringend einen neuen Job. Bis vor drei Tagen hatte er für den einzigen Pizza-Express in Westport Waren ausgeliefert. Nach der letzten Zustellung hatte er sich, ehe er das Firmenfahrzeug zurückbrachte, in Elliots Pub eine große Portion Calconnen zum Abendessen gegönnt, den leckeren Kartoffelbrei mit Zwiebeln und Weißkohl den er so gerne aß, und wie es der Zufall wollte, Richard Shaw getroffen, einen Bekannten. Richard hatte ihn auf ein paar Guinness eingeladen, und Henry war nicht mehr ganz nüchtern gewesen, als er das Firmenauto zurückbrachte.
Wie es das Unglück wollte, war er auf der Rückfahrt in eine Polizeikontrolle geraten, weil eines der Bremslichter am Wagen nicht funktionierte. Mit den nachgewiesenen 0,9 Promille behielt der Police Inspector Henrys Führerschein gleich ein, und sein Chef, der alte Mac Ewan, hatte ihn noch am selben Abend fristlos entlassen. Seither war die Katastrophe perfekt: Sein Job war weg, der Führerschein auch, gegen ihn lief eine Anzeige wegen alkoholisierten Fahrens, und Ella drohte mit Rausschmiss. Am schlimmsten aber war, dass er Steven Luke, dem Halsabschneider, 500 Euro schuldete, die er gegen ihn beim Pokern verloren hatte. Luke kannte keinen Spaß, wenn es ums Geld ging, und Henry wusste: Wenn er die Summe nicht bald beibrachte, brauchte er sich um seine Zukunft nicht mehr zu sorgen. Dann hatte er nämlich gar keine mehr. Deswegen musste er nun etwas unternehmen, und es gab nur einen Menschen, der ihm helfen konnte. Nötigenfalls musste er ihm eben ein wenig Druck machen und ihn daran erinnern, dass er ihm noch etwas schuldete, und zwar genaugenommen 2.500 Euro. Leider hatte Henry keine Möglichkeit, diesen Betrag rechtmäßig einzufordern, da es sich um seinen Anteil bei einer Pferdewette handelte und er so dumm und gutgläubig gewesen war, sich seine Beteiligung nicht quittieren zu lassen.
Gewohnheitsgemäß lauschte er in den Flur, ehe er sein Zimmer verließ. Natürlich blieb alles still, Ella hatte ja eben den Bus genommen. Die Düsternis der Wohnung, die mit schweren Möbelstücken, dunklen Teppichen und dicken Vorhängen vor den Fenstern eingerichtet war, bedrückte ihn. Für sein Empfinden konnte man in diesen Räumen kaum atmen. Aber das Zimmer bei Ella war günstig, und Blackstone lag von Westport auch nicht weit entfernt. Als er noch Arbeit gehabt hatte, war das ein nicht zu unterschätzender Vorteil gewesen. Jeden Mittag, wenn seine Schicht anfing, war er mit dem Rad zu Mac Ewans Pizza-Express gefahren und spät abends wieder zurück.
Auf Strümpfen – die ausgetretenen braunen Lederschuhe in der Hand, um ja keinen Schmutz auf dem dicken Flor der Auslegeware im Flur zu hinterlassen – tappte Henry Richtung Treppe. Zwischen zwei Zimmertüren im Gang hing ein riesiger Spiegel mit protzigem goldlackierten Rahmen. Für einen Augenblick blieb er davor stehen. Er fand, er sah aus wie ein Landstreicher. Die alte Jacke und die billige Hose schlotterten um seinen Körper, und rasiert hatte er sich seit über einer Woche nicht mehr. Nun denn, es gab Wichtigeres.
Henry schob sein Rad durch den kalten dunklen Hausflur, wo er es, trotz Ellas heftigem Protest grundsätzlich abstellte.
»Ich kann es ja schlecht draußen auf dem Gehweg lassen, wo jedermann darüber stolpern oder es klauen kann«, hielt er dagegen, während Ella zeterte.
»Wer sollte das rostige alte Ding klauen wollen? Hier im Flur hat es jedenfalls nichts zu suchen«, regte sich seine Vermieterin auf.
»Was weiß ich? Gibt genug arme Schlucker auf der Welt. Und wenn ich das Rad los bin, kann ich nicht mehr zur Arbeit. Und die brauche ich, um Ihnen die Miete zu zahlen.«
Ella hatte weiter vor sich hin geschimpft, und Henry hatte weiter sein Rad im Flur abgestellt. Nun hob er es über die drei Stufen vor der Haustür auf den Gehweg hinunter. Vor ihm lagen etwa 15 Kilometer, die er in die Pedale treten musste. Ihm taten jetzt schon Bein- und Gesäßmuskeln weh, wenn er nur daran dachte.
*
Jake kam die Fahrt zurück nach Hillmoor Cross endlos vor. Die Sonne war hinter dicken grauen Wolken verschwunden. Es war kurz nach halb fünf Uhr und begann schon zu dämmern. Aus dem Kofferraum drang kein Laut; Jakes Hände schwitzten in den Einweghandschuhen, und in seiner Unterhose spürte er das abgerutschte Kondom, das er vorhin in der Eile an seinem Platz gelassen hatte. Aber das musste warten. Erst musste er den Jungen in der Nähe des Kindergartens loswerden. Am besten, er fuhr wieder in die Scheune und legte den Kleinen am Waldrand ab. So konnte er heimlaufen, sobald er wieder bei Bewusstsein war. Als Jake in die Seitenstraße einbog, kam ihm ein kleines rotes Auto in flottem Tempo entgegen. Hastig senkte er den Blick. Er spürte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren brach.
›Ruhig, ganz ruhig‹, redete er sich stumm zu. ›Kein Mensch merkt sich unter normalen Umständen das Kennzeichen eines entgegenkommenden Autos.‹ Er sah den Kleinwagen im Rückspiegel entschwinden.
Die Türen der Scheune standen, wie er erwartet hatte, noch immer offen. Falls der alte Schuppen überhaupt noch einen Besitzer hatte, so schien sich dieser für die Hütte nicht zu interessieren.
Jake stellte den Motor ab, verließ das Auto und spähte vorsichtig durch die Flügeltüren. Die Sicht war schlecht, es war zwischen den Bäumen schon recht dunkel, und nun war es auch kalt geworden. Er lauschte, doch alles war ruhig. Jake öffnete den Kofferraum und hob den Jungen heraus. Schlaff, aber schwerer als zuvor, hing der Kinderkörper in seinen Armen. Er machte ein paar Schritte zum Waldrand und hielt inne. Das genügte – nur nicht zu nahe an die Straße gehen. Vorsichtig legte er seine Last ab. Nach kurzem Zögern entfernte er die Paketschnur, die noch immer um die Hände des Kleinen geschlungen war. Das Klebeband über dem Mund konnte der Junge selbst entfernen. Jake richtete sich auf, stutzte und ging wieder in die Knie. Er beugte sich über das Kind und hielt sein Ohr nahe an dessen Gesicht. Nichts, kein Atemzug drang aus der Nase, das pfeifende Geräusch war verstummt. Eiseskälte fuhr ihm in alle Glieder. Hastig legte er die flache Hand auf den mageren Brustkorb, spürte dünne Rippenknochen durch den labbrigen Stoff des Pullovers und wartete. Nichts, kein Heben und Senken mehr. Jake war es, als spränge ihn wilde Hysterie von allen Seiten an, er packte und schüttelte das Kind. Nein! Es konnte nicht sein, dass der Junge tot war. Es konnte und durfte nicht sein!
Hastig riss er dem Kind das Klebeband vom Mund. Es heftete sich an den dünnen Plastikhandschuhen fest. Nahezu hysterisch und mithilfe seines Knies drückte er die klebrige Seite in den Waldboden, bis sich der Streifen lösen ließ. Dann beugte sich wieder über das Kind und hielt selbst die Luft an. Er wartete, bis er ein Stechen in der Brust spürte und meinte, bewusstlos zu werden. Kein Atemzug streifte leicht und warm seine Wange. Nichts. Das Kind war tot. Eisiges Grausen erfasste ihn. Am liebsten hätte er losgebrüllt und mit Fäusten auf den Waldboden geschlagen. Wieso, verdammt, war der Junge tot? Zu viel Betäubungsmittel? Ihm ging durch den Kopf, mit welcher Härte er den Schwamm beim zweiten Mal in das kleine Gesicht gedrückt hatte. Oder hatte er ihn dabei gar erstickt? Jake keuchte und fürchtete plötzlich, sich übergeben zu müssen. Mühsam atmete er durch. Er tastete nach dem Handgelenk des Jungen und suchte vergeblich nach dem Puls. Er war sicher, ihn trotz der Handschuhe spüren zu müssen, wäre er noch da gewesen. Auch an der Halsschlagader merkte er nichts mehr. Für Sekunden, die ihm endlos vorkamen, hockte er neben dem toten Kind auf dem kalten Waldboden. Schließlich rappelte er sich hoch. Hier konnte der Junge nicht liegen bleiben. Er musste ihn verschwinden lassen. Jake hob ihn erneut hoch, sammelte das Klebeband, an dessen Unterseite nun trockene Tannennadeln hingen, und die Paketschnur ein und legte den kleinen Körper mitsamt dem Fesselmaterial zurück in den Kofferraum.
Erneut startete er den Wagen und fuhr im Schritttempo und ohne Licht aus dem Wald. Sein Gehirn weigerte sich zu begreifen, und doch handelte er wie unter Zwang. Sein Ziel waren die Cliffs of Moher.
*
Henry Miller lehnte sein Fahrrad an den Gartenzaun aus kräftigen braunen Holzlatten, der das Grundstück um das alte Gehöft einfasste. Die Wolken, die aufgezogen waren, tauchten den Nachmittag in trübes Licht, als bräche die Dämmerung bald herein, obwohl es eigentlich noch zu früh war. Gelegentlich fegte ein Windstoß über das Land. Henry suchte das gedrungene Gebäude mit den Augen ab und runzelte die Stirn. Hinter keinem der kleinen Fenster brannte Licht. Klar, er hätte vorher anrufen können, um sich zu vergewissern, dass Jake zu Hause war. Aber zumindest mit Martha hatte er schon gerechnet, auch wenn diese nicht erfreut sein würde, ihn zu sehen. Er öffnete das Gartentürchen, ging zur Haustür und betätigte den altertümlichen gusseisernen Türklopfer. Vielleicht saß der alte Geizkragen ja beim Licht einer Petroleumlampe am Küchentisch. Die Küche ging nach hinten hinaus, die konnte er von hier aus nicht sehen.
Die Daumen in die Taschen seiner billigen Windjacke eingehängt, wartete Henry. Nichts rührte sich. Frustriert kickte er einen Kieselstein vom Fußweg. Es konnte doch nicht sein, dass er den weiten Weg von Blackstone bis in die Einöde am Rand von Connemara auf sich genommen hatte und nun niemanden antraf! Er setzte sich auf die Stufe vor der Haustür und beschloss, sich nicht von der Stelle zu rühren – und wenn er dabei schwarz würde. Etwas anderes blieb ihm ja ohnehin nicht übrig, dank Ella und Luke. Die steinerne Stufe war kalt, und die Kälte kroch ihm in die Glieder. Erste schwere Regentropfen platschten vom Himmel. Henry zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Hals hoch. Das war wieder typisch für ihn. Er stolperte einfach vorwärts und stand nun vor verschlossener Tür. Theoretisch konnte Jake längst woanders wohnen und Martha verstorben oder verreist sein, oder sie hätte gar das Haus verkauft haben können. Er hob den Kopf und suchte nach dem Türschild. Es war an der Hausmauer angebracht, rechts auf Höhe der Türklinke. Tatsächlich stand noch immer der Name ›Almond‘ drauf, sorgfältig mit Kugelschreiber geschrieben, leicht verblasst, in kantiger Schrift. Marthas Schrift. Ein Scheibchen aus Plexiglas sorgte dafür, dass die Witterung den Namenszug nicht vorzeitig unleserlich machte. Der Regen wurde stärker. Mist. Henry erhob sich. Der kalte Sitzplatz war auf die Dauer nichts für ihn. Er wollte eine Runde ums Haus gehen und in die Fenster spähen, nur aus Neugierde. Die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben, spazierte er um die beiden Nebengebäude und stand schließlich vor der überdachten Terrasse, deren Boden aus großen grauen Steinquadern bestand.
Zwei weiße Korbsessel mit bunten Kissen und ein runder Tisch mit eingestaubter Glasplatte schienen auf Besucher zu warten. Henry entschied sich, hier zu warten. Unter dem weiß lackierten Holzdach war es wenigstens trocken und auf einem Stuhl mit Kissen allemal bequemer als auf der Treppe. Er steuerte gerade einen der Sessel an, als ihm etwas einfiel. Er ging zur Terrassentür, griff nach dem runden Knauf, drückte ihn sacht nach oben, ehe er ihn drehte, und spürte einen Ruck. Die Tür ließ sich nach innen aufdrücken. Für einen Moment erfüllte ihn Triumph. Bis eben hatte er gar nicht mehr daran gedacht. Vor Jahren hatte Jake ihm diesen Weg ins Haus gezeigt, als er einmal seinen Schlüssel vergessen hatte und Martha nicht da war. Martha wusste offensichtlich bis heute nichts von dieser Schwachstelle, sonst hätte sie längst Gegenmaßnahmen ergriffen. Von der Terrasse aus gelangte man direkt ins Wohnzimmer. Henry lehnte die Tür an und setzte sich in einen der Sessel neben dem Kamin. Auf dem Sims darüber tickte leise eine Pendeluhr. Es war halb fünf. Über kurz oder lang würden bestimmt entweder Jake oder Martha nach Hause kommen, oder beide. Ein Grinsen zuckte über Henrys Gesicht, als er sich den Schrecken der beiden vorstellte, wenn sie ihn hier antrafen.
Er legte den Kopf zurück und rutschte tiefer in das Sitzmöbel. Müdigkeit wollte ihn übermannen, und für einen Moment schloss er die Augen. Er war schon fast eingeschlafen, als ein Geräusch in sein erschöpftes Bewusstsein drang. Jemand pochte an eine Wand, mehrfach hintereinander, zwischendurch brach das Klopfen ab, setzte aber kurz darauf wieder ein. Henry setzte sich aufrecht und lauschte. Ihm schien es, als käme das Geräusch aus den Tiefen des Hauses. Vorsichtig stemmte er sich aus dem Sessel hoch, schlich zur Wohnzimmertür und öffnete sie. Das Pochen hörte auf, dafür schabte jetzt etwas. Es kam aus dem Keller, da war er sicher. Henry näherte sich der Kellertreppe. Deutlich hörte er ein Stöhnen, qualvoll und hoffnungslos. Ihn fröstelte plötzlich. Mit leisen Schritten ging er die Treppe hinunter.