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Kapitel 3

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Katie Ward fuhr zusammen, als habe sie der Stich eines Messers in den Bauch getroffen, als das Telefon klingelte. Sie riss den Hörer von dem altmodischen Festnetz-Apparat, das kein Display besaß.

»Finn? Verdammt noch mal …«, setzte sie an. Es war neun Uhr abends. Er hatte sich verteufelt viel Zeit gelassen, sich bei ihr zu melden.

»Finn? Welcher Finn? Ich bin es nur, Maya. Hast du schon wieder einen neuen Liebhaber? Ich wollte mich erkundigen, ob Sebastian wieder aufgetaucht ist. Ich hab heute Mittag schon mal bei dir angerufen. Im Kindergarten war er nämlich nicht, sagt Robin. Und Laura hat mich auch nach ihm gefragt.«

Mayas Redeschwall schwappte durch den Hörer. Katie war danach, den Apparat an die Wand zu klatschen. Mittags war sie kurz Zigaretten holen gewesen, da hatte sie den besagten Anruf offensichtlich verpasst.

»Was hast du Laura gesagt?«, fuhr sie Maya an, ohne auf ihre anderen Fragen einzugehen. Die unverfrorene Erzieherin hatte schon einmal ihre Nase in Katies Angelegenheit gesteckt, weil Sebastian einige Male mit ein paar blauen Flecken im Kindergarten erschienen war. Sie hatte ihr doch tatsächlich das Jugendamt auf den Hals gehetzt, dessen Mitarbeiter aber nach einem Gespräch mit Katie und einem weiteren mit Sebastian unverrichteter Dinge abgezogen waren. Gut, ihr war hier und da die Hand ausgerutscht. Aber den ganzen Tag mit so einem kleinen Monster alleine, da konnten einem schon mal die Nerven durchgehen. Es hatte ihr ja auch hinterher immer leidgetan, und nach der Sache mit dem Jugendamt war es nicht mehr vorgekommen.

»Dass ich von nichts weiß. Was ist denn nun mit Sebastian?«, bohrte Maya weiter.

»Nichts.«

»Wie: Nichts? Ist er wieder da? Wo war er denn?«

»Er ist nicht da. Ich nehme an, er ist bei seinem Vater.« Gluthitze durchjagte Katie. Von Sebastians Vater hatte sie Maya gegenüber noch nie gesprochen. Sie sprach überhaupt nie über Finn Brady, denn würde bekannt, wer der Vater ihres Kindes war, würde er seines Postens enthoben, und ihre Geldquelle versiegte.

»Bei seinem Vater? Ich dachte den gibt’s gar nicht.« Mayas ironischer Tonfall machte sie immer wütender. Außerdem wollte sie die Leitung freihaben, damit Finn durchkam, wenn er endlich anrief.

»Natürlich gibt’s den. Was dachtest du denn, wie ich zu dem Kind gekommen bin? Wir haben aber nur wenig Kontakt«, antwortete sie, klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter und nahm sich eine Zigarette.

»Und wer ist Finn? Bist du nicht mehr mit Ben zusammen?«

Katie schob den Glimmstängel zwischen die Lippen.

»Wie man es nimmt. Er lässt sich zurzeit selten blicken. Finn ist Sebastians Vater.« Das Feuerzeug schnappte auf, und die winzige Flamme, die erschien, verglomm sofort wieder. Sie brauchte mehrere Versuche, ehe die Zigarette endlich glühte. Katie nahm einen tiefen Zug.

»Hör zu, Maya, ich kann dir das jetzt nicht erklären. Ich bin sicher, Sebastian ist bei seinem Vater, und deswegen will ich die Leitung freihaben. Ich kenne Finn. Er ruft mit Sicherheit bald an. Er hat den Kleinen geholt, um mich zu schikanieren, aber das lass ich mir nicht bieten.«

»Du musst die Polizei verständigen. Du hast das Sorgerecht. Das ist Kindesentzug«, ereiferte sich Maya. Katie schnaubte.

»Bin ich bescheuert? Alleine dadurch, dass er es geschafft hat, den Kleinen mit zu sich zu nehmen, hab ich schlechte Karten. Mir ging es gestern Mittag nicht gut. Ich hab ihn alleine zum Kindergarten geschickt. Ist ja kein weiter Weg. Da muss er ihn abgefangen haben. Wenn Laura das spitzkriegt, hetzt sie mir wieder die Behörden auf den Hals und ich hab nix wie Ärger. Nein, nein. Ich regle das mit Finn unter vier Augen.«

»Und du bist sicher, dass er bei ihm ist? Ich meine, es kann ja auch was passiert sein.« Maya klang, als mache sie sich wirklich Sorgen. In Katies Bauch begann es unangenehm zu ziehen. Ein wenig hatte der Gedanke inzwischen auch in ihr genagt. Doch was, bitte schön, sollte auf den 800 Metern zwischen hier und dem Kindergarten passieren? Sebastian nahm immer den Fußweg von der Haustür aus, bog einmal links und einmal rechts ab und lief dann über die Sackgasse, die in einen sandigen Fußweg mündete, und kam direkt am Hintereingang des Kindergartens an. Der war verschlossen, aber er konnte um das Gebäude herumlaufen und stand dann sofort vor der Eingangstür. Selbst wenn er trödelte, dauerte es keine fünf Minuten, bis er dort war.

Katie sah das Wäldchen vor sich und die verlassene Baustelle, die den Weg säumten, den ihr Sohn genommen haben mochte. Das Ziehen in ihrem Bauch wurde stärker. Und wenn er Unfug gemacht hatte? In den Wald gelaufen war und sich verirrt hatte? Oder über den Zaun geklettert war, um die Baustelle zu erkunden?

»Ich muss Schluss machen Maya. Ich melde mich, sobald ich etwas Neues weiß«, beendete sie unvermittelt das Gespräch. Ehe Maya protestieren konnte, drückte sie auf die Gabel. Sie würde jetzt sofort Finn anrufen.

*

Um ihn herum war es dunkel. Monotone piepsende Geräusche drangen qualvoll in seine Ohren, und ein wahnsinnig pochender Schmerz in seinem Schädel zerrte ihn aus einem gnädigen Schlaf. Ein Brechreiz plagte ihn und sein Magen hob sich. Die Bewegung drohte seinen Kopf explodieren zu lassen.

»Mister Almond? Hallo? Hören Sie mich?« Es war ein Mann, der mit ihm sprach. Almond? War er das? Dieser Höllenschmerz im Hirn löschte alles aus.

»Mister Almond?« Und er hatte unglaublichen Durst. Ehe er nicht eine riesige Menge Wasser bekommen hatte, konnte er sowieso kein Wort sagen. Kühles klares Wasser, literweise.

»Lassen Sie mich bitte, Doctor«, hörte er eine Frauenstimme. Wo zum Teufel war er? Was war passiert?

»Jake? Können Sie die Augen öffnen?«, fragte die Frauenstimme. Sie klang ganz nahe, als hätte sich ihre Besitzerin zu ihm gebeugt. Eine warme Hand legte sich auf seine. Die Hand war groß und vermutlich dicklich. Er wunderte sich, dass er das wahrnahm, trotz aller Pein und des Durstes.

»Bitte Jake, versuchen Sie, mich anzusehen«, fuhr die Frauenstimme fort, zu ihm zu sprechen. Er blinzelte. Tatsächlich, es ging. Schemenhaft erkannte er eine Gestalt mit langen dunklen Haaren.

»Na wunderbar! Es geht doch.« Die dickliche Hand tätschelte seine. Er konnte nicht einmal die Augen bewegen, so weh tat alles, was sich oberhalb seines Halses befand.

»Danke, Schwester Lacey.« Nun sprach wieder der Mann. Er schob die Frau weg und beugte sich zu ihm. Er hatte graue Haare, die in einem buschigen Kranz einen kahlen Schädel umrahmten, und trug einen weißen Kittel. Um seinen Hals baumelte ein Stethoskop.

»Mister Almond? Ich bin Doktor Mackenzie. Sie hatten einen Unfall. Können Sie sich erinnern?«

Dieser fürchterliche Durst und diese mörderischen Schmerzen.

»Verstehen Sie mich?«

Jake versuchte ein Nicken und wurde mit einem Feuerwerk an Qualen in seinem Kopf bestraft.

»Wasser«, nuschelte er und wunderte sich, dass ein verständliches Wort aus seinem Mund gekommen war. Vielleicht war es auch nicht verständlich gewesen, ihm zumindest war es so vorgekommen.

»Möchten Sie etwas trinken?«, erkundigte sich die Frauenstimme. Welch ein Wunder, sie hatte ihn verstanden. Er hob die Hand und hoffte, dass sie es als ein Ja begriff. Ein weiteres Kopfnicken hätte er nicht überlebt. Jemand drückte eine Schnabeltasse gegen seine Lippen und Pfefferminztee rann über seine Zunge und die Kehle hinunter. Köstlich, so sehr er auch Kräutertee verabscheute. Ein Hustenreiz überkam ihn, schüttelte ihn, und ihm schoss das Wasser aus den Augen, derart höllisch prasselte der Schmerz. Der Arzt sagte etwas, doch sein gefoltertes Gehirn konnte die Worte nicht mehr verstehen. Er spürte, dass der Doktor sich an seiner Armbeuge zu schaffen machte, dann versank er in barmherzige schmerzfreie Dunkelheit.

Als Jake das nächste Mal erwachte, war der Schmerz zwar noch da, aber wie durch eine dicke Schicht Gummi von ihm abgetrennt. Er lag alleine in einem Raum, der ihm völlig fremd war. Durch ein hohes schmales Fenster zu seiner linken Seite sah er blauen Himmel. Neben seinem Bett stand ein Infusionsständer, an dem eine Flasche hing. Ein durchsichtiger Schlauch führte zu einer Kanüle, die in der Vene seines linken Armes steckte, und eine klare Flüssigkeit tropfte behäbig in seinen Körper. Er versuchte nachzudenken. So wie es aussah, lag er in einem Krankenhaus. Aber warum? Was war passiert? Welche Jahreszeit war es und welcher Wochentag? Welches Datum? Etwas beunruhigte ihn stark, aber er kam nicht dahinter, was es war. Etwas Schreckliches, etwas, was ihn furchtbar aufregte. Nur was? Über ihm baumelte ein Kästchen mit einem roten Knopf, den er als Schwesternruf erkannte. Er drückte darauf. Es schien endlos zu dauern, bis die Zimmertür aufging. Eine sehr junge Krankenschwester mit kurzen rot gefärbten Haaren kam herein.

»Mister Almond, wie schön – Sie sind wach! Wie geht es Ihnen?«, fragte sie und eilte zum Fenster. Mit einer raschen Bewegung brachte sie die Scheibe in Kippstellung, ehe sie an sein Bett kam. Kühle Luft strömte ins Zimmer.

»Was ist passiert? Wo bin ich?«

»Sie sind in der Uniklinik in Galway. Sie hatten einen Autounfall. Können Sie sich an gar nichts erinnern?«

»Nein«, murmelte er. Er hatte also einen Autounfall gehabt. Doch da war diese furchtbare Angst. Woher kam sie? Er war immerhin in Sicherheit und hatte überlebt. Aber vielleicht war ja noch jemand beteiligt gewesen, und vielleicht war er schuld an dem Unfall. Die Schwester tätschelte seine Hand. Blitzartig durchzuckte ihn eine Erinnerung. Er war schon einmal wach gewesen und vor Kopfschmerzen beinahe wahnsinnig geworden. Auch da hatte jemand seine Hand getätschelt.

»Wie lange bin ich schon hier?«, erkundigte er sich.

»Den zweiten Tag. Sie sollten nicht so viel sprechen. Es strengt Sie an. Ich sehe gleich nach dem Doctor. Der kann Ihnen mehr sagen.«

Als der Arzt mit dem buschigen grauen Haarkranz eine für Jake enorme Weile später bei ihm erschien, fiel ihm ein, dass er auch ihn schon gesehen hatte.

»Mister Almond, schön, dass Sie wieder bei Bewusstsein sind. Ich bin Doctor Mackenzie. Wie fühlen Sie sich?«

Mackenzie, richtig. Den Namen hatte er ihm bereits gesagt.

»Ich weiß es nicht. Ich habe Kopfschmerzen und kann mich an nichts erinnern«, erwiderte Jake. Der Doctor nickte.

»Sie haben eine Gehirnerschütterung. Sie brauchen vor allem Ruhe, den Rest regelt die Zeit. Wir haben Sie letzte Nacht von der Überwachungsstation auf die Innere verlegt. Sie hatten wahnsinniges Glück. Ihr Wagen ist völlig hinüber. Wenn Sie nicht von einem jungen Paar gefunden worden wären, das sich in der Nähe der Unfallstelle aufgehalten hatte, wären Sie möglicherweise verblutet.«

»Verblutet? Woran denn?« Jake suchte seinen Körper mit Blicken ab, so gut es ging. Unter der Bettdecke zeichneten sich sämtliche Gliedmaßen ab. Es fehlte also nichts.

»Sie haben eine Schnittverletzung am linken Bein. Ein Metallteil hat sich in Ihren Oberschenkel gebohrt und ist knapp einen Millimeter an der Arterie vorbei stecken geblieben. Eine falsche Bewegung und …« Er ließ den Satz offen.

»Wir mussten die Wunde nähen. Ansonsten haben Sie noch etliche Prellungen und Schürfwunden, nichts Dramatisches. Ein paar Tage müssen Sie noch hierbleiben.«

Jake nickte. Ein dumpfer Schmerz schwoll bei der Bewegung in seinem Kopf an. Er war so schrecklich unruhig. Am liebsten wäre er aus dem Bett gesprungen und losgerannt, obgleich er nicht wusste, wohin es ihn trieb.

»Sagen Sie, Mister Almond, gibt es jemanden, den wir verständigen sollen? Haben Sie Familie, eine Freundin, oder sind Sie verheiratet?«, fragte Doctor Mackenzie. Angehörige. Jake war es, als träfe ihn eine Riesenfaust, senkrecht und von oben. Hysterisches Entsetzen schoss ihm in alle Glieder. Großmutter Martha! Das war es, was in ihm tobte.

»Doctor, wie lange bin ich schon hier?«, stieß er hervor, obgleich er die Antwort der Krankenschwester noch im Ohr hatte. Fassungslosigkeit zog ihm die Kehle zu.

»Sie wurden in der Nacht vom 16. auf den 17. März eingeliefert. Heute haben wir den 18. Wen können wir denn nun für Sie benachrichtigen?«

Jake brach der Schweiß aus allen Poren. Ihm wurde übel und er befürchtete, sich auf die Bettdecke zu übergeben.

»Mister Almond? Alles in Ordnung?« Der Arzt griff nach seinem Handgelenk und fühlte den Puls.

»Ich muss nach Hause«, stieß er hervor. Sein Gesicht war mit einem nassen Film überzogen.

»Das wäre im Augenblick völlig unverantwortlich. Haben Sie Verwandte?«, fragte Doctor Mackenzie und legte Jake eine Manschette zum Blutdruckmessen um den Arm.

»Meine Großmutter.« Großmutter Martha, die er vor zwei Tagen niedergeschlagen und in einen Verschlag im Keller gesperrt hatte. Die er so rasch als möglich wieder hatte befreien wollen. Die bestimmt am Verhungern und Verdursten war, wenn sie nicht bereits wegen ihres Bluthochdrucks gestorben war. Schlaganfall oder Herzinfarkt, davor hatte sie sich stets gefürchtet und ihre Medikamente mit aller Genauigkeit genommen. Vor Angst und Verzweiflung war sie vielleicht schon durchgedreht.

»Wie können wir sie erreichen?«

Gar nicht, verdammt noch mal!

»Ich muss nach Hause, bitte.«

»Auf keinen Fall. Braucht Ihre Großmutter Hilfe? Ist sie auf Ihre Unterstützung angewiesen?«, fragte der Arzt und nahm Jake die Blutdruckmanschette wieder ab.

Ja! Ihr Leben hing von ihm ab, wenn es denn nicht schon zu spät war. Das Grauen schüttelte ihn. Doctor Mackenzie legte Jake fest die Hand auf die Schulter.

»Ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung. Wir kümmern uns um Ihre Großmutter. Ich schicke jemand zu Ihnen nach Hause …«

»Nein!«

Er wurde wahnsinnig. Die Schlinge zog sich immer fester um seinen Hals. Der Arzt nahm die Hand von Jakes Schulter.

»Nein?«, wiederholte er.

»Nein. Meine Großmutter ist nicht zu Hause. Sie ist in Dublin, eine Freundin besuchen. Hören Sie, sie hat Bluthochdruck und regt sich immer gleich so auf. Sie darf auf keinen Fall von meinem Unfall erfahren. Ich sag ihr das selber, sowie ich wieder fit bin.«

Er musste hier raus, notfalls ohne Zustimmung des Arztes. Doctor Mackenzie nickte.

»Gut. Das ist natürlich Ihre Entscheidung. Sonst gibt es niemand, der sich ein wenig um Sie kümmern kann?«

»Nein. Ich brauche auch niemand. Es geht mir ja schon wieder gut.«

»Überschätzen Sie sich nicht. Außer der Gehirnerschütterung wird Ihnen auch die Verletzung am Bein eine Weile zu schaffen machen.«

»Es geht mir gut. Ich will nach Hause«, beharrte er.

»Ja, sicher. Ich bin gleich wieder bei Ihnen«, sagte der Arzt. Jake umklammerte die Bettdecke, sowie der Mann zur Tür hinaus war. Zwei Tage. Wie sollte er weiterleben, wenn er Großmutter Martha auf dem Gewissen hatte? Dagegen schrumpfte die Sorge, wie er ihr gegenübertreten sollte, falls sie noch am Leben war, zu einem Nichts zusammen.

Er sah an sich hinunter. Er musste die Infusion loswerden und er brauchte seine Kleidung. Im Moment trug er einen dieser grässlichen weißen Leinenkittel, die überraschend eingelieferten Patienten meist verpasst wurden. Die Tür ging auf und Doctor Mackenzie betrat das Zimmer, gefolgt von der rothaarigen Schwester. Die Schwester hielt eine Pappschale in der Hand. Der Arzt stöpselte den Infusionsschlauch aus der Kanüle.

»Ich gebe Ihnen etwas, damit Sie rasch wieder auf die Beine kommen.«

Ehe Jake begriffen hatte, was er vorhatte, nahm der Mediziner eine Spritze aus der Pappschale, setzte den Konus an die Nadel, die in seinem Arm steckte, und drückte eine Flüssigkeit in seine Vene. Augenblicklich überfiel ihn schwere Müdigkeit, ohne jedoch das namenlose Entsetzen wegen der Großmutter zu mindern.

»Versuchen Sie zu schlafen. Sie sind hier in guten Händen und Sie sollten jede Aufregung vermeiden.«

Er kämpfte gegen den Schlaf an, der ihn überwältigen wollte, doch die Wirkung des Medikamentes war stärker. Ein verzweifeltes Schluchzen stieg in seine Kehle, gleichzeitig zog es ihm die Augen zu und es wurde erneut dunkel um ihn.

*

Katie Ward hatte den Bus nach Kinvarra genommen, einer kleinen Hafenstadt am südlichen Rand von Galway. Hier hatte Finn seit zwei Jahren als Pastor seine eigene Gemeinde. Nachdem sie ihn am Abend zuvor unzählige Male vergeblich versucht hatte zu erreichen und auch sein Handy ausgeschaltet war, hatte sie beschlossen, am anderen Tag mit dem ersten Bus zu ihm zu fahren. Es war eine Fahrt von anderthalb Stunden von Hillmoor Cross bis nach Kinvarra, weil die Linie unterwegs an unzähligen Ortschaften Station machte. Aber das musste sie auf sich nehmen, denn nun hatte sie genug von Finns Verhalten. Sie hatte ihn verkehrt eingeschätzt. Offensichtlich hatte er nicht die Absicht, sich bei ihr zu melden, und wenn er sich weigerte, ans Telefon zu gehen, würde sie eben persönlich bei ihm aufkreuzen. Sollten die Leute seiner kleinen ergebenen Gemeinde über ihr Erscheinen denken, was sie wollten. Sollte sich Finn später neugierigen Fragen stellen und ihnen eine Erklärung geben müssen, war es nicht ihre Schuld.

Finn Brady bewohnte das Pfarrhaus, gleich neben der Kirche. Von der Bushaltestelle aus waren es zu Fuß nur ein paar Minuten. Katie warf ihren bunten Flickenbeutel über die Schulter und marschierte energisch los.

Der kleine Vorgarten lag sauber und gepflegt in der diesigen Frühjahrssonne. Tulpen und Narzissen blühten in Büscheln auf dem kurzen Rasen, und neben der Haustür stand eine Bank für zwei Personen – Sitzfläche und Rückenlehne aus Holz, der Rest aus schwarzem Gusseisen. Obwohl es später Vormittag war, waren die dunkelroten, blickdichten Vorhänge hinter sämtlichen Fenstern zugezogen. Katie bekam ein flaues Gefühl im Bauch. Resolut drückte sie auf die Glocke neben der Haustür. Innen rührte sich nichts. Sie machte einen zweiten Versuch und hörte schlurfende Schritte den Gehweg entlang kommen, der direkt am Pfarrhausgarten vorbei führte. Eine magere alte Frau mit Kopftuch, die sich auf einen braunen Holzkrückstock stützte, blieb stehen.

»Wenn Sie zum Pfarrer wollen, der ist verreist.« Ihre Stimme klang überraschend kräftig.

»Verreist?« Katie glaubte, Sand auf der Zunge zu haben.

»Ja. Aber wenn es wichtig ist – es vertritt ihn Pfarrer Callahan. Der wohnt aber nicht hier, sondern in Redstone. Sie müssen …«

»Nein, nein«, unterbrach Katie die alte Frau. »Ich muss zu F… zu Pfarrer Brady. Wissen Sie, wo er hingefahren ist?«

»Nein.« Abwartend sah die alte Frau sie an.

»Wann kommt er denn wieder?« Ihr war heiß und kalt gleichzeitig. Dass er mit dem Jungen weggefahren war, hätte sie ihm niemals zugetraut.

»Das weiß ich nicht so genau. Aber am 25. ist er auf jeden Fall wieder hier. Da heiratet nämlich meine Enkeltochter, und Pfarrer Brady nimmt die Trauung vor.« Die alte Frau klang jetzt stolz und hielt sich etwas aufrechter. Am 25. wollte er also wieder hier sein. Hastig rechnete sie im Kopf nach. Das waren noch sieben Tage. Sieben Tage, in denen er mit dem Jungen Urlaub machte, ohne ihr Bescheid zu sagen. Dumm war Finn wirklich nicht. Wenn er mit Sebastian irgendwohin fuhr, wo ihn keiner kannte, konnte er ganz offiziell Vater und Sohn spielen.

»Was wollen Sie denn von ihm?«, fragte die Frau und musterte Katie neugierig. Katie wandte sich von der Haustür ab.

»Nichts. Vielen Dank.«

Sie wollte an ihr vorbei und überlegte, ob sie vom Gehweg runter und auf der Straße laufen sollte, weil ihr die Alte regungslos den Weg versperrte.

»Ach, sagen Sie«, setzte Katie an, als sie direkt vor ihr stand. »Wissen Sie, ob er alleine fortgefahren ist?«

Die Frau schürzte die Lippen.

»Hier spioniert keiner dem anderen nach. Aber ich denke schon. Mit wem hätte er denn fahren sollen?«

»Schon gut. Ich dachte nur.«

Katie schob sich an ihr vorbei. Sie spürte den Blick der Alten im Rücken. Wäre sie nicht so wütend gewesen, hätte sie den Moment genossen. Vermutlich dachte die Alte, Katie wollte sich Finn an den Hals werfen. Aber das war vorbei. Die eine Nacht vor fünf Jahren, in der sie den Priesteranwärter erst zum Alkohol und dann zur Zweisamkeit verführt hatte, hing seither in Form ihres gemeinsamen Sohnes tagtäglich wie Ballast an ihr.

Katie musste bis zum frühen Nachmittag warten, ehe ein Bus zurück nach Hillmoor Cross fuhr. Sie kaufte sich in einem Pub einen Milchkaffee und einen Schokoladendonut, und weil der Tag so frühlingshaft mild und sonnig war, lief sie anschließend Richtung Dungory Castle, einer Burg außerhalb von Kinvarra. Hier war sie als Kind einmal mit ihrem Vater gewesen, ehe ihn der Alkohol in seinen Sumpf gezogen hatte und ihn gleichgültig allem und jedem gegenüber machte, einschließlich seiner einzigen Tochter.

Katie brauchte länger, als sie gedacht hatte, bis sie bei dem alten Gemäuer war, das sich kantig und längst nicht so mächtig, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte, aus der einsamen Landschaft emporreckte. Die weitläufigen unebenen Wiesen, die sich seitlich und hinter der Burg erstreckten, waren von saftigem Grün; weiße und graue Steine und Felsbrocken lagen wie verstreut auf der Rasenfläche. Auf den flachen Ausläufern des Atlantiks vor Dungory Castle ließ sich gemächlich ein Schwanenpaar treiben. Katie hielt inne und blickte auf das in der Sonne glitzernde Wasser.

Ihre Wut drohte zu verrauchen, und damit gewann ein nagender, hässlicher Gedanke Oberhand: Und wenn Finn den Jungen doch nicht hatte? Wo war er dann? Dann konnte doch tatsächlich nur etwas passiert sein. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Vielleicht hatte Maya recht und sie hätte zur Polizei gehen sollen. Katie kramte in ihrer Tasche nach den Zigaretten. Dass Finns Handy ausgeschaltet war, sprach dafür, dass er Sebastian hatte. Ansonsten ließ er es immer an, damit er erreichbar war, was Katie völlig überzogen fand. Denn was sollte schon sein? Gut, vor einem Jahr hatte sie einmal nachts mit ihm in die Klinik fahren müssen. Er hatte sie fürchterlich genervt und lautstark mit einem Papierflieger gespielt, trotz etlicher Ermahnungen, leiser zu sein und nicht so herumzutoben. Bis ihr die Hand ausgerutscht war. Dass er mit dem Kopf an die Tischkante geflogen war, hatte sie wirklich nicht gewollt, und dass die klaffende Wunde an der Schläfe mit einem Pflaster nicht richtig versorgt war, hatte sie nach zwei Stunden einsehen müssen, zumal Sebastian wegen des vielen Blutes nicht aufhören wollte zu schreien. Katie inhalierte in tiefen Zügen, hustete, und schnippte die nur halb gerauchte Zigarette ins Wasser. Finn, der seinen Sohn sporadisch sehen wollte und sich ihm gegenüber immer als Bekannter seiner Mutter ausgab, war außer sich gewesen, als er die kaum verheilte Narbe am Kopf des Jungen sah. Dass das Ganze ein Unfall gewesen war, hatte er ihr auch nicht geglaubt und ihr mit Konsequenzen gedroht, falls sich so etwas wiederholte. Außerdem hatte er darauf bestanden, zukünftig sofort informiert zu werden, wenn der Kleine krank wurde oder sich auch nur das Knie aufschlug.

Katie wandte sich von Dungory Castle ab. Sie musste weiter versuchen, Finn zu erreichen. Er hatte den Jungen – alles andere war Panikmache.

Sie erreichte den Bus in letzter Sekunde, gerade als der Fahrer die Türen wieder schließen wollte.

Kurz nach vier Uhr nachmittags war sie zurück in Hillmoor Cross, eine weitere viertel Stunde später bog sie in die Skyestreet ein und sah am Straßenrand den rostigen VW Derby von Ben stehen. Durch das rückwärtige Fenster erkannte sie seinen massigen Kopf mit den kurz geschorenen Haaren. Ben öffnete die Fahrertür und stemmte seine geschätzten hundert Kilo aus dem Wagen. Seine Miene war betont gleichgültig.

»Hey, Kätzchen. Dachte, ich überrasch’ dich. Fast wäre ich wieder gefahren.« Er wollte ihr einen Kuss auf den Mund drücken. Hastig drehte Katie den Kopf zur Seite, sodass er nur ihre Wange traf.

»Was ist denn los, Sweetie? Freust dich ja gar nicht«, schmollte er.

»Du hast dich seit drei Tagen nicht blicken lassen. Jetzt kreuzt du auf und ich soll mich wegschmeißen vor Begeisterung? Was hast du getrieben?«, fuhr sie ihn an.

Ben zuckte mit den Schultern.

»Hab mal bisschen Zeit für mich gebraucht. Müssen wir das hier besprechen? Können wir nicht hochgehen?«

Katie stieß den Haustürschlüssel ins Schloss. Ben folgte ihr durch das düstere Treppenhaus, das bei Tag noch trostloser wirkte als nachts. Sie waren kaum in der Wohnung, als er die Tür zudrückte und Katie mit einem Arm umschlang. Er presste sie an sich, schob ihren Rücken gegen die Wand und fasste mit einer Hand unter ihr T-Shirt.

»Ich bin total heiß auf dich«, keuchte er. Katie stemmte ihre Hände gegen seine Brust.

»Lass das! Mir ist nicht danach.«

»Halt die Klappe!« Er drängte seine Zunge in ihren Mund, nestelte am Reißverschluss ihrer Jeans, und ihr Körper reagierte. Zwei Minuten später war es vorbei. Zornig richtete Katie ihre Wäsche.

»Arschloch!«, fuhr sie ihn an. Ben grinste.

»Reg dich ab. Es hat dir gefallen, ich kenn dich. Was bist du so schlecht gelaunt?« Katie suchte ihre Zigaretten aus der Flickentasche und ging vor ihm in die Küche. Sie öffnete das Fenster und klopfte eine Zigarette aus der Packung.

»Der Junge ist weg.«

Ben setzte sich an den runden Küchentisch, der unter dem Fenster stand.

»Und wo ist er?«

»Ja, Himmel! Das weiß ich doch nicht.«

Ben rieb mit den Fingerspitzen über die Schläfen.

»Soll ich dir suchen helfen?«, fragte er.

»Nein. Ich hab schon alles abgesucht.«

»Vielleicht ist er weggelaufen«, überlegte er.

»Vielleicht.« Katie drückte die eben angezündete Zigarette aus. Ihr wurde schlecht von dem Nikotin.

»Hattet ihr Stress?«, erkundigte sich Ben und streckte seine Beine unter dem Tisch aus.

»Nein. Zumindest nicht mehr als sonst.«

»Hm, hm. Na, zum Abendessen wird er schon wieder aufkreuzen. Der Hunger treibt die kleinen Ungeheuer dann schon heim.«

»Blödsinn!«, fuhr Katie hoch. Sie lehnte am Fensterrahmen und blickte auf die leere Straße hinunter. Die Mülltonne am Haus nebenan quoll über. Eine Katze kauerte davor, lag flach gedrückt am Boden, bewegte die Schwanzspitze und fixierte etwas, was sich unter der Tonne bewegte.

»Er ist seit zwei Tagen weg, verstehst du?« Ihr Magen knotete sich zusammen. Zwei Tage waren eine verdammt lange Zeit für einen Fünfjährigen. Ben stieß ein schnaubendes Geräusch aus.

»Seit zwei Tagen? Donnerwetter.« Er rieb sich die Nase. »Du hast nicht zufällig die Polizei angerufen?« Sie hörte die Furcht in seiner Stimme.

»Nein. Ich dachte erst, er ist bei Maya. Als er da nicht war, dachte ich …« Sie brach ab.

»Was?«, fragte er. Katie kniff die Augen zusammen und musterte ihn. Bens gleichgültige Miene machte sie rasend.

»Ich dachte, er ist entführt worden«, ergänzte sie.

»Entführt? Du hast doch gar keine Kohle. Das macht doch keinen Sinn.«

Katie schloss das Fenster. Ben zuckte mit dem Kopf zur Seite. Der Rahmen war knapp an seiner Schläfe vorbeigegangen.

»Entführt von seinem Erzeuger. Dem passen meine Erziehungsmethoden nicht. Wir haben immer mal Clinch deswegen.«

Ben beugte sich vor. In seinen Augen funkelte es gefährlich.

»Ich wusste gar nicht, dass du noch Kontakt mit anderen Typen hast. Von Bastis Vater hast du auch noch nie gesprochen. Ehrlich gesagt, das passt mir gar nicht.«

»Halt mir keine Vorträge. Er hat ein Recht, sein Kind ab und zu zu sehen.«

»Ich will nicht, dass meine Frau …«

»Seit wann bin ich ›deine‹ Frau?« Katie wurde laut. Ben sprang auf, der Stuhl schabte lautstark über den Fliesen­boden.

»Du kleine Schlampe! Du hast Geheimnisse vor mir. Ich sag dir, wenn ich rauskriege, dass du noch mit anderen herummachst, sind wir geschieden!«

Katie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Ich mach nicht herum! Jetzt hau ab und lass mich in Ruhe! Ich muss den Jungen wiederfinden.«

»Na dann viel Glück. Kannst dich ja melden, wenn du dich beruhigt hast.« Sekunden später krachte die Wohnungstür ins Schloss. Katie zuckte zusammen. Automatisch griff sie wieder nach den Zigaretten. Sie nahm eine aus der Packung und stellte sich, ohne sie anzuzünden, damit ans Fenster. Unten auf der Straße stieg Ben in seinen Wagen, ließ unüberhörbar den Motor an und brauste davon. Katie durchjagte ein eisiger Schreck. Ben hatte sie vorhin in die Wohnung gedrängt und sofort mit ihr geschlafen. Er hatte nicht zuvor nach Sebastians Anwesenheit gefragt, wie er es sonst tat, wenn er in ihren vier Wänden Sex wollte. Das konnte nur eines bedeuten: Er musste gewusst haben, dass der Junge nicht da war.

*

Lacey Stone beugte sich über den Patienten. Auf Anordnung von Doctor Mackenzie hatte ihre Kollegin, Schwester Heather, Jake Almond eben ein Mittel zur Sedierung nachgespritzt. Jetzt schlief er wieder ruhig. Lacey hatte, gegen jede Regel, rasch die Überwachungsstation verlassen, auf der sie Dienst hatte, um nach Jake zu sehen. Sie baute darauf, dass Heather den Mund halten und sie nicht bei den Kolleginnen verraten würde. Immerhin war Heather dankbar für jede Abwechslung während ihrer Nachtschicht.

»Die kommende Nacht müssen wir ihn in seinem eigenen Interesse auf jeden Fall ruhigstellen, vielleicht auch noch morgen. Er soll sehr aufgeregt gewesen sein und will unbedingt nach Hause. Mit der Gehirnerschütterung muss er liegen und sich schonen, ganz zu schweigen davon, dass die Verletzung am Oberschenkel besser abheilen kann, wenn er nicht auftritt«, hatte sie ihr redselig mitgeteilt, als Lacey ins Zimmer gekommen war, gerade als sie die Spritze gesetzt hatte.

»Hat der Doc was gesagt, wie lange Almond noch in der Klinik bleiben muss?«, erkundigte sich Lacey beiläufig. Heather zog die Spritze aus der Kanüle und schloss die Infusion wieder an.

»Ein paar Tage schon noch. Ich meine, wenn man sichergehen könnte, dass er zu Hause liegen bleibt und versorgt wird, könnte er bestimmt eher entlassen werden. Aber anscheinend hat er niemand, außer seiner Großmutter, und die ist verreist.«

Lacey hatte Heather das Bedauern angemerkt, als der Schwesternruf auf dem Flur brummte und sie ihr Schwätzchen nicht fortsetzen konnte.

Nun verließ auch Lacey den Raum und zog leise die Tür hinter sich zu. Heute war ihre letzte Nachtschicht für die nächsten zwei Wochen. Die kommenden zwei Tage hatte sie frei, dann eine Woche Spätschicht, danach eine Woche Frühschicht. Wie auch immer, sie würde jede Lücke nutzen, um nach Jake Almond zu sehen.

Hillmoor Cross

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