Читать книгу Hillmoor Cross - Shannon Crowley - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеKatie lief in ihrer Wohnung auf und ab, hielt die kalten Hände an den Hals gepresst und überlegte fieberhaft. Dass Ben etwas mit Sebastians Verschwinden zu tun haben könnte, war das Letzte, woran sie gedacht hätte. Und doch konnte sie es nicht ausschließen, bei dem, was sie von ihm wusste. Ihr war schlecht. Nun kam sie nicht mehr umhin, die Polizei zu informieren. Sie blieb vor dem Telefon stehen. Ein Anruf, und die Dinge kämen ins Rollen. Die Beamten würden ruck, zuck!, hier sein und sie genauestens befragen. Bens Bewährung war hinüber, und wenn er wieder rauskam, würde er sie erschlagen, wenn sie nicht vorher irgendwohin verschwand, wo er sie nicht finden würde. Aber das war jetzt unwichtig. Wichtig war, dass sie Sebastian wiederfand. Katie streckte die Hand zum Hörer aus, hielt sie einige Sekunden darüber und ließ sie wieder sinken. Vielleicht steigerte sie sich in etwas hinein. Vielleicht hatte Ben die letzten Tage gesoffen, gepokert oder sie betrogen. Dann tat sie ihm bitter unrecht, löste eine Katastrophe aus, und in ein paar Tagen brachte Finn ihr den Jungen wohlbehalten wieder. Katie griff sich in die Haare und riss daran. Verdammt, wenn sie nur mit jemandem über ihr Dilemma hätte reden können! Aber außer Maya fiel ihr niemand ein. Nur wusste Maya nicht, dass Ben gesessen hatte und warum. Wenn sie ihr das jetzt erzählte, würde sie erst ihr Entsetzen kundtun – wegen Katies vermeintlicher Blauäugigkeit oder weil sie die Tatsachen verdrängt hatte –, und dann würde sie mit allem Nachdruck darauf bestehen, dass sie sich an die Polizei wandte. Oder es gar selbst tun. Und damit war Katie keineswegs geholfen.
Sie ging in den Flur, nahm ihre Jacke vom Haken und ihre Tasche und verließ die Wohnung. Aus dem Hinterhof holte sie aus einem hölzernen Verschlag, der den Mietern der Skyestreet 43 als Unterstand für Fahrräder und Kinderwagen diente, ihr Rad.
Sie brauchte gut zwanzig Minuten, bis sie vor dem grauen Betonkasten am anderen Ende von Hillmoor Cross stand, in dem Ben im Erdgeschoss rechts eine kleine Wohnung hatte. Die Haustür war wie immer unversperrt. Er selbst öffnete nach dem ersten Läuten, als habe er sie kommen sehen und hinter der Tür gewartet. Mit vor der Brust verschränkten Armen sah er sie finster an.
»Was ist? Soll ich dir doch helfen?«
Katie war noch völlig außer Atem, so fest hatte sie in die Pedale getreten.
»Wo ist er? Was hast du mit ihm gemacht?«, stieß sie keuchend hervor und gab Ben einen derben Stoß vor den Bauch. Bens Hände schnellten vor und packten sie an den Unterarmen. Mit einem Ruck zog er sie in seine Wohnung und gab der Tür mit dem Fuß einen Tritt, sodass sie ins Schloss krachte.
»Ich hab’s gewusst! Bist du bescheuert? Denkst du wirklich, ich hab was damit zu tun, dass der Krümel nicht nach Hause kommt?« Sein Gesicht war tiefrot vor Zorn, trotzdem hielt er die Stimme gesenkt. Katie versuchte vergeblich, sich aus seinem Griff zu befreien.
»Dann verrate mir, warum du nicht nach ihm gefragt hast wie sonst, als du vorhin über mich hergefallen bist?«, wütete sie. Ben ließ sie los und schubste sie grob von sich.
»Bin ich sein Kindermädchen oder was? Das hab ich jetzt oft genug gefragt. Irgendwann ist Schluss. Dachte, du wirst dich schon melden, wenn er in der Wohnung rumlungert.« Katie rieb ihre brennenden Unterarme, wovon das unangenehme Gefühl nicht besser wurde.
»Was hast du am 16. gemacht?«, fuhr sie ihn an. Wie groß und kräftig er war. Nie zuvor war ihr das so deutlich geworden wie in diesem Moment. Er füllte den schmalen Flur beinahe komplett aus. Sie hätte ein Problem gehabt, sich an ihm vorbeizuquetschen, obgleich sie eine kleine zierliche Person war.
»Was weiß ich? Jedenfalls hab ich dem Kleinen nix getan.«
Katie schwieg. Unverständlicherweise glaubte sie ihm. Ben machte einen Schritt auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»He, komm mal wieder runter, ja? Ich steh nicht auf Kinder, und schon überhaupt nicht auf kleine Jungs.«
Hilflos zuckte Katie die Schultern. Sie fühlte sich schwach und müde und hatte Angst. Bens Daumen massierte ihre Schulter.
»Ich muss zur Polizei«, murmelte sie. Er ließ die Hand sinken.
»Die kriegen raus, dass wir zusammen sind. Dann hab ich nix wie Ärger. Ich helf dir suchen. Wir finden den Knopf, wirst sehen.«
Katie schüttelte den Kopf.
»Ich hab schon viel zu lange gewartet.«
Ben rieb sich die Schläfen.
»Sweetie, ich versteh dich ja. Aber denk doch auch mal an mich. Selbst wenn du ihnen nix von uns erzählst – die Nachbarn quatschen bestimmt was aus. Du hast doch vorhin selber gesagt, du denkst, er ist bei seinem Vater.«
Katie zuckte wieder mit den Schultern.
»Ich weiß gar nicht mehr, was ich denken soll. Aber ich kann doch nicht einfach nichts machen«, klagte sie.
»Pass auf. Ich such alles ab, wo er sein könnte, okay? Ich fang gleich an.«
»Es ist doch schon fast dunkel. Das nützt doch jetzt nichts.« Sie dachte wieder an das Wäldchen. Oder hatte Sebastian im Bauzaun einen Durchschlupf gefunden und war auf der Baustelle herumgeklettert? Vielleicht gar auf das Baugerüst, und dann … Ein Schauer durchlief sie und schreckliche Bilder tauchten vor ihren Augen auf.
»Ich hab eine starke Taschenlampe. Die nehm ich mit. Und du fährst wieder heim und setzt dich ans Telefon. Sowie ich was weiß, ruf ich dich an, okay?«
Sie nickte schwach.
»Gut. Aber wenn du ihn nicht findest, sag ich der Polizei bescheid. Spätestens morgen.«
Ben drückte als Antwort ihre Schulter.
*
»Mister Almond? Hören Sie mich?«
Jake war es, als würde er aus einem tiefen dunklen Loch gezogen. Mühsam schlug er die Augen auf. Er erkannte den Arzt, der vor seinem Bett stand, und sah dahinter zwei Krankenschwestern. Allmählich kehrte seine Erinnerung zurück. Richtig, er war im Krankenhaus. Er hatte einen Unfall gehabt. Heißer Schreck durchfuhr ihn. Er hatte die Klinik verlassen wollen, um Martha zu befreien, und dann hatte der Doctor ihm ein Mittel gespritzt, woraufhin er eingeschlafen war. Wie lange hatte er geschlafen? Durch das hohe Fenster zu seiner linken Seite fiel Tageslicht.
»Welchen Tag haben wir heute?«, fragte er und wunderte sich, wie normal seine Stimme klang.
»Den 19. März«, erwiderte der Arzt, auf dessen Namensschild in Brusthöhe auf seinem weißen Kittel ›Dr. Gregor Mackenzie‹ stand.
Jake bekam hämmernde Kopfschmerzen.
»Welche Uhrzeit?«, presste er heraus.
»Neun Uhr morgens. Wie geht es Ihnen? Haben Sie Schmerzen?«
Neun Uhr morgens am 19. März. Jake versuchte nachzudenken. Das Unglück war am Tag vor dem St. Patrick’s Day geschehen. Der St. Patrick’s Day war am 17. März. Wie viele Tage waren das? Er konnte nicht denken. Er wusste nur, dass die Großmutter noch immer in ihrem Kellerverschlag festsaß, wenn sie sich nicht durch ein Wunder selbst hatte befreien können. Die Kopfschmerzen wurden schlimmer.
»Mister Almond? Haben Sie mich verstanden?«, wiederholte der Arzt. Jake bemerkte seinen forschenden Blick. Trotz der bohrenden Qual hinter seiner Stirn nickte er.
»Es geht mir gut.«
»Schön. Wenn es weiter aufwärtsgeht, werden wir Sie in zwei oder drei Tagen entlassen können. Schwester Megan bringt Ihnen gleich das Frühstück. Vorher sehe ich mir Ihr Bein an. Im Laufe des Vormittags möchte Sie jemand von der Polizei befragen, wegen des Unfalls. Der Constable war gestern schon mal hier. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?«
»Natürlich«, murmelte Jake. Wenn der Arzt nur aufhören würde zu schwafeln. Er würde gehen, sowie er allein war, notfalls heimlich.
»Dann sehe ich mir jetzt die Wunde an«, sagte Doctor Mackenzie. Jake schlug die Bettdecke zurück. Der Arzt entfernte den Verband.
»Sieht sehr gut aus. In drei Tagen werden wir die Fäden ziehen.«
Er machte einer der Krankenschwestern ein Zeichen.
»Bitte desinfizieren und einen neuen Verband anlegen.«
Zu Jake gewandt fuhr er fort:
»Sie haben bisher über die Infusion ein Antibiotikum bekommen, damit sich nichts entzündet. Ich denke, das genügt. Wir können die Infusion entfernen. Sollten Ihnen die Kopfschmerzen wegen der Gehirnerschütterung zusetzen, melden Sie sich bitte. Wir sehen uns morgen, wenn nichts weiter ist.«
Jake nickte stumm. Gleich würde er aufstehen, sich anziehen und gehen, und wenn er dazu aus dem Fenster klettern müsste. Der Arzt verabschiedete sich und verließ das Zimmer. Die Krankenschwester war noch immer mit Jakes Bein beschäftigt, als eine ihrer Kolleginnen auf einem Tablett das angekündigte Frühstück hereinbrachte. Sie stellte es auf den Server des Nachttisches. Jake glaubte auf glühenden Kohlen zu liegen. Endlich war die Schwester mit seinem Bein fertig. Sie richtete sich auf und lächelte.
»Lassen Sie sich Ihr Frühstück schmecken.«
Jake lächelte gequält zurück. Nachdem schließlich alle zur Tür draußen waren, richtete er sich auf. Augenblicklich schwoll der pulsierende Schmerz in seinem Schädel an. Er wollte die Zähne zusammenbeißen, doch davon wurde es nur schlimmer. Mit aller Vorsicht schob er die Beine über die Bettkante, wobei ihm der Schweiß aus sämtlichen Poren brach. Verflucht, er war zu schwach. Er konnte kaum sitzen. Es klopfte an der Zimmertür. Er hatte das Verlangen, das Tablett mit dem abgedeckten Teller durch den Raum zu schleudern. Ohne dass Jake ihn dazu aufgefordert hätte, betrat ein uniformierter Polizeibeamter den Raum.
»Mister Almond? Guten Morgen.« Er zog einen Ausweis aus der Brusttasche und hielt ihn Jake sekundenlang am ausgestreckten Arm entgegen.
»Wir hätten ein paar Fragen zum Unfallhergang.« In Jakes Kopf rauschte es. Vielleicht halfen ein Schluck Tee und ein halbes Brötchen gegen die Schwäche. Solange der Constable hier war, konnte er ohnehin nicht gehen.
»Mister Almond, Sie waren am Abend des 16. März gegen 19 Uhr auf der N 59 zwischen Galway und Clifden unterwegs und hatten einen Unfall. Offenbar waren Sie von der Straße abgekommen und sind mit Ihrem Fahrzeug über die Böschung gestürzt. Können Sie sich erinnern, wie es dazugekommen ist?«
Der Constable steckte seinen Ausweis ein und holte ein Notizbuch aus der Jackentasche. Jake griff nach seiner Teetasse. Seine Hand zitterte.
»Ehrlich gesagt, nein.« Er wusste es wirklich nicht mehr. Nur, dass er sehr schnell gefahren war.
»Denken Sie nach. Kam Ihnen vielleicht ein anderes Fahrzeug entgegen, das Sie zu einem Ausweichmanöver gezwungen hat?«
»Ich kann mich nicht erinnern. Ich glaube aber, nicht.«
Der Constable machte sich eine Notiz.
»Oder hat ein Tier die Fahrbahn gekreuzt? Ein Fuchs vielleicht?«
»So leid es mir tut, Constable, ich weiß es nicht mehr.« Der Tee tat ihm gut. Vielleicht noch ein paar Bissen von einem der beiden Brötchen, und er war kräftig genug, die Klinik zu verlassen.
»Wir haben keine Bremsspuren gefunden, zumindest nicht auf dem Straßenbelag. Auf dem abschüssigen Gelände, auf dem man Sie gefunden hat, konnten wir aufgrund der Bodenbeschaffenheit auch nicht feststellen, ob es Bremsversuche gab. Möchten Sie, dass Ihr Wagen auf einen technischen Defekt untersucht wird?«
Jake zog eine Grimasse.
»Wozu soll das gut sein?«
»Nun ja, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich schon wissen wollen, wie es zu dem Unfall gekommen ist. Es geht ja auch um rechtliche Fragen, und die Fahrzeugversicherung wird wissen wollen … «
Wieder klopfte es, diesmal zögerlich.
»Hören Sie, Constable, ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen. Ich kann es nicht versprechen, aber vielleicht fällt mir in den nächsten Tagen noch etwas ein. Dann könnte ich Sie anrufen. Herein!«
Der Constable steckte sein Notizbuch weg.
»Die Gehirnerschütterung, ich weiß schon. Ich hatte auch mal eine.«
Die Zimmertür öffnete sich. Eine dickliche Krankenschwester mit blassem runden Gesicht erschien im Türrahmen.
»Gute Besserung für Sie«, wünschte der Constable. »Ach, noch was: Ihr Wagen hat einen Totalschaden und steht bei Schrotthändler Callahan in Ennis. Sie müssen sich nach Ihrer Entlassung darum kümmern, was damit passieren soll.«
»In Ordnung«, brummte Jake. Der Constable verabschiedete sich mit einem Kopfnicken.
»Mister Almond, guten Morgen. Schwester Megan hat mir gesagt, dass Sie wach sind. Ich dachte, ich seh kurz vorbei. Ich bin Schwester Lacey. Ich hatte Dienst in der Nacht, als Sie eingeliefert wurden.« Sie zog die Lippen auseinander, als wollte sie lächeln. Jake fand, es sah unerträglich künstlich aus. Er wusste nichts auf ihr Geplapper zu sagen.
»Sie lagen auf der Überwachungsstation. Ich habe alle halbe Stunde nach Ihnen gesehen. Geht es Ihnen denn besser?«, fuhr sie fort. Auf ihren teigigen Wangen war rosige Farbe erschienen. Mit beiden Händen strich sie ihren weißen Kittel über den runden Hüften glatt.
»Ja, danke.« Er hatte ein ganzes Brötchen geschafft. Jetzt wollte er sich anziehen und gehen. Nicht überstürzt, obwohl jede Minute zählte. Doch er durfte nicht riskieren, aufzufallen und wieder aufgehalten zu werden. Das hätte schon gestern nicht passieren dürfen. Sein Magen krampfte sich zusammen. Was, wenn Martha nicht überlebt hatte? Im Grunde wusste er doch ganz genau, dass sie zumindest noch in ihrem Verschlag festsaß, sonst hätte sie längst alle Hebel in Bewegung gesetzt, um seinen Verbleib festzustellen. In ein paar Stunden waren es genau drei Tage, die sie ohne Wasser, ohne Nahrung und ohne ihre Medikamente hatte ausharren müssen. Er registrierte, dass sein Gehirn trotz der Schmerzen wieder besser funktionierte.
»Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
Er warf ihr einen schnellen Blick zu. Schwester Lacey stand aufrecht mitten im Krankenzimmer. Der weiße Kittel spannte über ihren Schultern. Wieder zog sie die Lippen auseinander.
»Ich wüsste nicht, was«, erwiderte Jake. »Der Arzt war da, ich habe Frühstück bekommen, nur die Kopfschmerzen wäre ich gern los. Aber das wird wohl noch dauern.«
»Ich kann veranlassen, dass Ihnen meine Kollegin ein Schmerzmittel bringt. Ich hatte Nachtdienst, aber auf einer anderen Station, und habe jetzt Feierabend. Eigentlich meinte ich, wenn Sie privat etwas brauchen. Seit Sie hier sind, hat sich kein Mensch um Sie gekümmert. Also, wenn ich Ihnen etwas besorgen kann …«
»Vielen Dank, das ist sehr nett, aber nicht nötig.« Sie sollte gehen! Die nächsten Stunden würden ihn so oder so reichlich Kraft kosten, die er nicht hatte. Allein die Vorstellung, wie er damit zurechtkommen sollte, falls Großmutter Martha nicht überlebt hatte, trieb ihn schier in den Wahnsinn.
»Ich dachte nur. Falls Ihnen doch noch etwas einfällt: Ich sehe ab und zu bei Ihnen vorbei. Ich mach das wirklich gern und es ist auch keine Mühe.«
»Danke.« Wenn sie nicht bald verschwand, würde er platzen.
»Erholen Sie sich gut. Schlafen Sie viel und machen Sie sich keine Sorgen. Es kommt alles wieder in Ordnung.«
»Schwester Lacey, Sie meinen es gut. Aber ich wäre jetzt einfach gern allein«, zwang Jake sich höflich zu sagen. Sie nickte.
»Das verstehe ich. Dann bis bald.«
Sowie sie zur Tür hinaus war, wagte Jake es, aufzustehen. Er spürte einen Stich in der Wunde im Oberschenkel, und bei den ersten Schritten wackelten seine Knie. Seine Kleidung, die er in dem schmalen Schrank neben dem Bett fand, war in katastrophalem Zustand, im Grunde nicht mehr zu gebrauchen. Zerrissen, dreckig und blutverschmiert. Größere blutige Stellen waren bretthart getrocknet. Trotzdem und mit Widerwillen zog er Unterwäsche, Hemd, Hose und Socken an. Er quälte sich in seine Schuhe und schlüpfte in die Jacke. Jake tastete über die Taschen. Handy, Geldbeutel und Schlüsselbund waren da. Er hatte ein Schwindelgefühl im Kopf und nach wie vor hämmernde Schmerzen. Zu Hause musste er unbedingt zwei Aspirin nehmen. Er ging zum Fenster und stellte fest, sich mindestens im zweiten Stock zu befinden. Keine Chance also, die Klinik auf diesem Weg zu verlassen. Er öffnete die Zimmertür, und in weniger als zwei Meter Entfernung stand Doctor Mackenzie mit einem Kollegen im Gespräch, den Blick unmittelbar in Jakes Richtung gehalten. Jake straffte die Schultern. Er war ein erwachsener freier Mann. Er musste nicht heimlich gehen. Er konnte auf eigenen Wunsch entlassen werden.
Eine halbe Stunde später waren die Formalitäten erledigt. Doctor Mackenzie war sehr ärgerlich gewesen. Er hatte veranlasst, dass Jake eine Erklärung unterzeichnete, freiwillig und auf eigene Verantwortung zu gehen. Während er notgedrungen auf das Papier gewartet hatte, hatte er von der Schwester noch eine Kopfschmerztablette erbeten und sich ein Taxi rufen lassen.
Das Taxi wartete vor dem Eingang der Klinik. Jake stieg hinten ein und wies dem Fahrer den Weg. Während der Mann den Mercedes durch die belebten Straßen von Galway lenkte, war es Jake, als träte er selbst seinen letzten Gang an.
*
Katie saß zusammengekrümmt auf der Kante ihres hellgrauen Sofas, das von unzähligen Mahlzeiten im Laufe der Jahre voller Flecken war, und biss sich die Finger wund. Es war neun Uhr morgens. Ben hockte ihr gegenüber auf einem runden Sitzpolster, das die gleiche Farbe hatte wie das Sofa, und rang hilflos die großen Hände.
»Sweetie, jetzt steiger dich mal nicht so rein. Ich hab echt alles abgesucht, Zentimeter für Zentimeter. Der ist nicht im Wald, nicht in dem alten Schuppen und nirgends auf der Baustelle. Ich bin rund um den Kindergarten und hab in jedes Gebüsch gesehen. Sogar bei dem alten Schrottplatz bin ich gewesen, wo wir letzten Sommer den Reifen für meinen Wagen geklaut haben. Aber nix! Der kann nur noch bei diesem Finn sein. Und ich sag dir, sobald der auftaucht, hau ich dem Alten eine rein, die sich gewaschen hat. Das ist doch wirklich keine Art nicht, einfach das Kind mitzunehmen.«
Katie wippte auf der Kante vor und zurück. In ihr saß eine dumpfe Furcht, die immer größer wurde. Wo war Sebastian, wenn er doch nicht bei Finn war und auch sonst nirgends? Es gab doch so viele schlechte Menschen auf der Welt, die anderen Böses wollten.
»Sag, was hältst du davon, wenn wir zu dem Kerl fahren, und ich möbel ihm gleich eine? Und dann nehmen wir den Kleinen mit heim. Ich kauf ihm ne Riesenportion Eis, da schwör ich drauf!«
Katie schüttelte den Kopf.
»Weißt nicht, wo der Typ wohnt?«, erkundigte sich Ben und ließ jetzt die Hände zwischen den Knien hängen.
»Doch. Aber ich war schon da, gestern. Er ist verreist.«
»Hm«, machte Ben. Sie hörte am Tonfall, dass sich seine bisher besorgte Miene verfinstert hatte.
»Ich hab geklingelt und wollte ihn zur Rede stellen. Dann ist eine alte Frau vorbeigekommen und hat gesagt, er kommt nicht vor dem 25. wieder.« Katie biss in ihren Daumen, bis es schmerzte.
»Ach so. Na dann ist er mit ihm weggefahren. Du wirst sehen, der ist in ein paar Tagen gesund und munter wieder da. Ihm ist nichts passiert, glaub mir.«
Katie richtete sich langsam auf. Ihr ganzer Körper brannte und schmerzte. Sie wollte Ben zu gern glauben, und doch nagten immer mehr Zweifel in ihr. Es passte einfach nicht zu Finn, sich so zu verhalten.
»Ich muss zur Polizei. Die müssen was tun. Die haben doch ganz andere Möglichkeiten als wir. Fahndung und so. Wenn Finn die Zeitung liest und sieht, dass ich mir das nicht gefallen lasse, wird er sich melden.«
Ben schüttelte den Kopf.
»Nee, da machste nur die Pferde scheu. Vielleicht kommt er dann gar nicht mehr zurück.«
»Der muss doch zurückkommen. Der hat doch seine Arbeit, die ihm so wichtig ist.« Ihr war kalt und sie war so müde. Trotzdem wusste sie, sie würde nicht schlafen können.
»Was macht er denn für ’ne Arbeit?«
Katie schnaubte. Inzwischen war ihr fast alles egal.
»Er ist Pfarrer und hat eine eigene Gemeinde.«
»Pfarrer? Ein Pfaffe?« Ben japste und schlug sich auf die Schenkel. »Meine Fresse, Sweetie. Du bist ja eine Nummer. Dass du eine ganz Heiße bist, hab ich ja schon immer gewusst, aber so was! Lässt es dir von ’nem Pfaffen besorgen und dann gleich mit Ergebnis. Na, wenn du das mal gleich gesagt hättest. Ist doch klar, dass der jetzt den Kopp unter der Decke hält. Wahrscheinlich weiß er nicht, wie er aus der Nummer wieder rauskommt, und deswegen hörst du keinen Pieps. Der ist ruiniert, wenn du den Mund aufmachst. Jetzt entspann dich mal. Der kommt gekrochen und bettelt, dass du ihn nicht anschwärzt. Das kannst dir bezahlen lassen, und da würd’ ich an deiner Stelle nicht drauf verzichten.«
Ein müdes Lächeln huschte über ihr Gesicht, und für einen Moment empfand sie ein warmes herzliches Gefühl für den schlichten massigen Mann, der sein Geld nur mit Gelegenheitsjobs verdiente, seit er aus dem Gefängnis raus war.
»Na komm, Kätzchen. Jetzt komm her zu mir.« Er schlug sich auf die Schenkel.
»Wir warten noch auf den 25., und dann ist alles wieder gut. Komm her.« Ben streckte die Hand aus. Katie ließ sich auf seinen Schoß ziehen und legte ihm den Kopf an den Hals. Vielleicht hatte er ja recht. Und bis zum 25. konnte sie jetzt auch noch warten, auch wenn ihr jede Minute eine Qual war. Wenn Basti wieder hier war, würde sie ihn in Zukunft jeden Tag zum Kindergarten begleiten, das schwor sie sich.