Читать книгу Ich denke, aber ich bin mehr - Sharon Dirckx - Страница 11

1 BIN ICH WIRKLICH NUR MEIN GEHIRN?

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Ich werde niemals den Tag vergessen, an dem ich zusah, wie ein menschliches Gehirn aus einem Leichnam entfernt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war mir das Gehirn bereits vertraut, weil ich mich schon jahrelang damit befasst und auch mit bildgebenden Verfahren gearbeitet hatte. Trotzdem war dies eine völlig neue Erfahrung.

Eine Gruppe von uns stand in grünen Kitteln und blauen Plastikschuhen im Sezierraum einer medizinischen Fakultät. Die eisige, dienstliche Atmosphäre passte zur kalten Umgebungsluft. Der stechende Geruch des Formaldehyds, mit dem Leichen konserviert werden, stieg uns in die Nase. Auf dem Tisch vor uns lag der Leichnam einer älteren Frau.

Ich sah hier nicht zum ersten Mal eine Leiche, aber dieses Mal war etwas anders. Die Frau hatte ihren Körper der medizinischen Forschung zur Verfügung gestellt. Wir waren hier, um uns die Anatomie des menschlichen Gehirns anzuschauen, und der erste Schritt bestand darin, es aus dem Körper zu entfernen. Unser Anatomieprofessor, der den Kurs leitete, begann. Dabei floss zwar kein Blut, weil die Person schon vor einiger Zeit verstorben war. Doch es musste viel gesägt und auch rohe Gewalt eingesetzt werden, um den Schädel aufzuschneiden und das Gehirn freizulegen. Trotz der ungelenken Technik war es eine zutiefst läuternde und Ehrfurcht einflößende Erfahrung, und wir empfanden unaussprechlichen Respekt vor der namenlosen Frau, die ihren Körper der Wissenschaft vermacht hatte, damit andere etwas lernen konnten.

Einige Minuten später lag das Gehirn vor uns, eine Masse aus Wasser und Fettgewebe mit einem Gewicht von nur 1,5 Kilogramm. Ich schaltete in den Studenten-Modus um und dachte weniger an den Menschen und mehr an die Anatomie des Gehirns. Ja, man konnte nicht leugnen, dass da auf dem Tisch vor uns der Mittler der Gedanken, Gefühle, Sehnsüchte und Erlebnisse dieser namenlosen Frau lag.

* * *

Das Gehirn fühlt sich von der Konsistenz her etwa wie ein Pilz an. Glücklicherweise sitzen bei uns aber keine Pilze zwischen den Ohren. Ganz im Gegenteil. Dieses unglaubliche Organ macht nur 2 Prozent des Körpergewichts aus, verbraucht aber 20 Prozent der zugeführten Energie, obwohl es zu fast 75 Prozent aus Wasser besteht. Im menschlichen Gehirn finden sich etwa 86 Milliarden Gehirnzellen, sogenannte Neuronen. Jedes dieser Neuronen kann bis zu 1000 Impulse pro Sekunde an Zehntausende anderer Zellen senden, und das mit einer Geschwindigkeit von bis zu 430 Kilometern pro Stunde.2 Während Sie diese Worte lesen, erzeugt Ihr Gehirn genug Strom, um eine LED-Leuchte zu betreiben, und in jeder Minute fließt so viel Blut durch Ihren Kopf, dass Sie damit eine Weinflasche füllen können. Im Menschen ist das Gehirn höher entwickelt als in jedem anderen Geschöpf, obwohl der Preis für das größte Gehirn mit 7,5 Kilogramm an den Pottwal geht.

Jeder Gedanke, jede Erinnerung, jedes Gefühl und jede Entscheidung, die Sie treffen, werden durch dieses Ding gefiltert, das wir Gehirn nennen. Wenn man die Chemie und Physiologie unseres Gehirns verändert, hat das Auswirkungen auf unsere Fähigkeit zu denken. Wenn ich zum Beispiel nur ein wenig dehydriert bin, kann das meine Aufmerksamkeitsspanne, mein Gedächtnis und meine Fähigkeit, klar zu denken, dramatisch verschlechtern. Und viele von uns wissen, dass der morgendliche Koffeinschub wichtig ist, um unsere Denkprozesse zu Beginn eines neuen Tages in Gang zu setzen.

Wir wissen heute aber auch, dass Veränderungen in unserem Denken auch Auswirkungen auf das Gehirn selbst haben. Früher glaubten Wissenschaftler, dass das Gehirn sich nicht verändern lasse, doch heute weiß man, dass es unglaublich »plastisch« ist in dem Sinne, dass es sich laufend verändert und im Laufe eines Menschenlebens neue Verbindungen und Wege schafft. Veränderungen im Gehirn beeinflussen unser Denken. Aber unser Denken, unser Lebensstil und unsere Gewohnheiten prägen auch die Art und Weise, wie unser Gehirn wächst und sich entwickelt.

Ich denke, aber ich bin mehr

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