Читать книгу Ich denke, aber ich bin mehr - Sharon Dirckx - Страница 15
WO SOLLEN WIR ANFANGEN?
ОглавлениеWo sollen wir anfangen, wenn wir der Frage nachgehen: »Bin ich mehr als mein Gehirn?« Als möglichst aussichtsreichen Einstieg in die Diskussion sollten wir uns die Möglichkeit offenhalten, dass diese Frage vielleicht nicht von den Neurowissenschaften allein beantwortet werden kann. Auf den ersten Blick mag diese Fragestellung naturwissenschaftlich erscheinen, vor allem weil sie von Naturwissenschaftlern aufgebracht wurde und sich um einen Teil unserer Anatomie dreht. In Wirklichkeit aber ist diese Frage philosophischer Natur und bezieht sich auf unsere menschliche Identität. Die Neurowissenschaften allein sind nicht in der Lage, solche Fragen zu beantworten. Sie beschreiben in allen Einzelheiten, was im Gehirn vor sich geht, und antworten auf Fragen wie »Was ist das Gehirn?« oder »Wie funktioniert das Gehirn?«. Doch mit der Frage »Was ist ein Mensch?« verhält es sich völlig anders. Sie weist über wissenschaftliche Methodik hinaus in die Philosophie, Ethik und auch in die Theologie, wie viele es vertreten würden.
Das menschliche Gedächtnis hat viele verschiedene Komponenten, und eine davon ist das Arbeitsgedächtnis – im Grunde so etwas wie der Notizblock im Kopf. Das Arbeitsgedächtnis ist der Teil des Gehirns, mit dem Sie sich daran zu erinnern versuchen, was Sie auf dem daheim vergessenen Einkaufszettel notiert hatten. Stellen Sie sich vor, ein Neurowissenschaftler, der sich mit dem menschlichen Arbeitsgedächtnis befasst, würde sich entschließen, nur noch Ergebnisse aus der fMRT zu berücksichtigen und alle anderen Disziplinen wie Physiologie, Anatomie und Pharmakologie zu ignorieren. Das wäre schlechte wissenschaftliche Praxis und würde uns nur zu einem sehr reduzierten Verständnis des Arbeitsgedächtnisses verhelfen. Ein guter Wissenschaftler nutzt alle Werkzeuge, die ihm zur Verfügung stehen, und bettet seine Ergebnisse in den Kontext anderer Disziplinen ein. Wenn wir versuchen, Fragen zur Identität des Menschen zu beantworten, und uns dabei allein auf die Neurowissenschaften stützen, greifen wir zu kurz. Wir müssen über die Neurowissenschaften hinausgehen, um Fragen der Identität zu beantworten. Neuronen und Gehirnchemie allein werden uns dabei nicht weiterhelfen und schränken unsere Sicht auf den Menschen ein. »Bin ich nur mein Gehirn?« ist nicht nur eine naturwissenschaftliche, sondern auch eine philosophische Frage, und deshalb werden wir im Folgenden auch philosophisches Terrain durchqueren, nicht nur das der Neurowissenschaften.
Im Kern macht es einen Naturwissenschaftler aus, offen für neue Ideen und unerwartete Ergebnisse zu sein. Zur Wissenschaft gehört es nach allgemeiner Auffassung, eine Hypothese aufzustellen, Daten zu sammeln und sie zu interpretieren. Die Hypothese ist die Theorie, welche Beobachtungen erwartet werden. Wenn die Daten zur Hypothese passen, sind wir vielleicht einer Entdeckung auf der Spur. Der nächste Schritt besteht in dem Versuch, die Ergebnisse zu reproduzieren. Wenn wir damit einige Male Erfolg haben, sieht es so aus, als könnte die Hypothese stimmen. Wenn die Daten jedoch nicht zur Hypothese passen, müssen wir offen für die Möglichkeit sein, dass die Hypothese falsch ist und revidiert werden muss.
Wissenschaftler stehen manchmal in der Versuchung, die Daten zu »manipulieren«, damit sie ihre Hypothese stützen. Andererseits machten die Naturwissenschaften manchmal einen gewaltigen Sprung nach vorne, weil bei einem Experiment unerwartete Ergebnisse auftraten und man den Mut hatte, seit Langem anerkannte Theorien zu revidieren, obwohl es von allen Seiten Kritik hagelte. Diese Offenheit ist von essenzieller Bedeutung, wenn man als Naturwissenschaftler Erfolg haben will. Ich möchte Sie in der auf den folgenden Seiten geführten thematischen Diskussion zu genau dieser Offenheit einladen.