Читать книгу Weil sie eine schlechte Mutter ist ... - Sheila Catz - Страница 10
Оглавление2. Generation:
Betty beim Hausarzt
»Betty, wie lange sind Sie jetzt schon hier im Dorf?« »Zwei Jahre, Herr Doktor.«
»Haben Sie noch mehr abgenommen?«
»Ja, aber ich habe wirklich keinen Hunger und ich kann so schlecht schlafen.«
»Betty, wie kommen Sie mit Ihrer neuen Familie zurecht?«
»Ach, ich habe doch meine kleine Tochter, ich stille noch, und die anderen, na ja - ich versuche nicht hinzuhören, wenn sie … wenn sie - wieder unfreundlich sind.«
»Ihr Mann ist noch in Gefangenschaft?«
Betty hielt den Atem an, als könnte ihn allein der Gedanke, das er nicht wieder käme, in der Ferne töten.
»Sie haben doch genug zu essen, ich meine die Familie ist doch gut versorgt mit Metzgerei, Landwirtschaft, Gasthof, Wald, Fischteichen?«
»Ja, meine Schwiegermutter sorgt sich um mich, sie meint, ich darf nicht noch mehr abnehmen.«
»Sie ist gut zu mir.« Soweit die anderen Hexen das zulassen, dachte sie und holte wieder tief Luft. Ihr fielen die Gehässigkeiten ein, die sie gestern wieder mit anhören musste, auch der Schwiegermutter gegenüber, die ihr klein und wehrlos vorkam.
»Also zu essen haben Sie, die Kleine ist gesund, warum schlafen Sie so schlecht?«
»Ich denke an meinen Mann, er ist seit einem Jahr in russischer Gefangenschaft, der Krieg ist doch zu Ende, alle anderen Männer im Dorf sind daheim, und er kommt nicht.«
Jetzt konnte sie das Weinen nicht mehr aufhalten, das harte Schluchzen erschreckte sie selbst. »Ich wäre doch nie von der Stadt hierher gegangen, hätte ich gewusst, dass ich hier so lange allein bin.«
»Brauchen Sie wieder etwas zum Schlafen?«
»Ja, ich muss wieder mal schlafen.« Der Doktor betrachtete Betty nur kurz.
»Ich gebe Ihnen ein Brompräparat, das beruhigt auch.«
»Falls die Kleine nachts weint, würde das jemand hören?«
Alle, alle, dachte Betty, alle, die wollen mich als schlechte Mutter sehen, sie belauern mich.
»Ja meine jüngere Schwägerin würde es hören, die nimmt die Kleine oft tagsüber, wenn ich Kundinnen frisiere.«
Ich sollte dankbar sein, dachte sie, dass Katie die Kleine nimmt, aber das lässt sie mich auch spüren, ich kann nichts richtig machen. Und dann plötzlich kam die beschämende Erkenntnis: Ich frisiere auch lieber die Haare der Kundinnen, das Kind kostet mich zu viel Nerven, ich bin sicher keine gute Mutter. Und außerdem hatten die auch mal ein gutes Wort für mich und lobten die neue Stadtfrisur, die Betty ihnen geschickt gezaubert hatte.
»Sie müssten allerdings abstillen, wenn Sie das Schlafmittel nehmen.«
»Das wird schon gehen, ich stille jetzt doch schon über ein Jahr«. Wenigstens die Last ist weg, dachte sie, da habe ich jetzt einen Grund.
Auf dem Heimweg liefen ihr wieder die Tränen herunter. Sie ging langsam ins Dorf zurück, der Weg zog sich ermüdend hin, ihre Gedanken kreisten um das Erlebnis vergangene Nacht. Obwohl der Tag für Anfang Juni warm war, fror und zitterte sie. Die Abendsonne flirrte durch die dichten graugrünen Erlenzweige, der warme Wind trug den Duft von Lindenblüten und Betty brach plötzlich in Schweiß aus.
Letzte Nacht war sie leise die ausgetretenen Steinstufen in den muffigen Keller gestiegen. Sie hoffte, dass keiner sie bemerken würde. Sie wollte Elsie suchen, ihr Lieblingshuhn, das sie den ganzen Tag nicht gesehen hatte. Wieder etwas, was sie in den Augen der Verwandtschaft nicht auf die Reihe bekam:
Auf ein paar Hühner aufzupassen.
Als Betty im Bett liegend sich alle Orte vorstellte, wo Elsie sein könnte, war ihr der Keller eingefallen. Sie schlich an der Kleinen in der Wiege vorbei und machte sich auf den Weg. Aus der Wirtsstube kam grobes Gelächter und Johlen. Sie krampfte ihre Hand in das Nachthemd und tappte im Dunkeln die ausgetretenen Stufen hinunter.
Betty stieg ungern in den Keller. Sie fürchtete sich vor den Geräuschen und Gerüchen. Das gesamte Anwesen war unterhöhlt, das Wasser tropfte von den Wänden, ihre Schwiegermutter erzählte immer wieder von den Kellergängen. Die führten bis zur Schlossruine, die noch teilweise intakt waren, alles Relikte aus den Schwedenkriegen. Und wahrscheinlich führten sie bis zur Stadtfestung, Auf diesem Weg wurden damals die Belagerten versorgt, das mussten doch etliche Kilometer Gänge sein, ob die noch alle begehbar waren? Und wenn man da durchgehen konnte, das war ja auch in ihre Richtung möglich, oder? Diese Gedanken gingen Betty durch den Kopf und verstärkten noch ihre Angst.
Mist, sie hatte vergessen, ihre Eier einzuschließen. Alles musste eingeschlossen werden, so was Blödes. Das Kostbarste im Keller verwaltete ihre Schwiegermutter: Die Buttervorräte.
Aus modrigem Dunkel drangen Stimmen zu ihr hinauf.
Nach einer Weile erkannte sie, wer da flüsterte. Katie und Martha waren da unten, vielleicht auch Elly. Sie blieb stehen und konnte jetzt einzelne Satzfetzen verstehen.
»Nimm nicht so viel, dir wird schlecht«.
»Du brauchst reden, du hast doch schon mindestens ein halbes Pfund gefressen«. Betty hörte Schleifgeräusche, als würde etwas Schweres über den Boden gezogen.
Es war das Schleifgeräusch vom Butterfass. Sind die an den Buttervorräten? Ihr Herz klopfte wild, sie konnte kaum atmen.
Eine Welle der Übelkeit überflutete sie, ihr Herz schlug bis zur Kehle, ihre Hände und Füße waren eiskalt und sie wurde stocksteif.
Die Butter war rationiert, es waren sehr schlechte Zeiten, die Schwiegermutter musste für 15 Personen Lebensmittel einteilen. Immer wieder klagte sie, dass etliches fehlen würde, vor allem Butter.
Jeder verdächtigte den anderen, Betty war schon oft die Zielscheibe von Anschuldigungen der beiden Schwägerinnen gewesen, manchmal machte auch Elly mit, je nach Laune.
Betty fror und konnte nicht richtig klar denken. Elsie war bestimmt nicht da unten, die anderen hätten sie schon längst hochgejagt. Sie löschte zitternd die Petroleumlampe und zog sich ganz langsam an der rissigen Wand nach oben zurück, darauf bedacht, ja kein Geräusch zu machen. Oben wurde die Tür zur Gaststube aufgerissen, mit schweren Schritten tappte jemand nach draußen zur Pissrinne, der Wind schlug die Haustür zu.
Jetzt erst merkte Betty, dass sie am ganzen Körper zitterte, sie hob mühsam die Füße auf den schmutzigen Fliesen, um an die Treppe zum Oberstock zu kommen. Dort sank sie in sich zusammen, sie fühlte einen Kloß im Hals, der Herzschlag war noch schneller geworden und sie merkte, dass sich der Boden unter ihr drehte.
Dann hörte sie schwere Schritte auf der Kellertreppe. Ich muss weg, die finden mich sonst. Sie klammerte sich an die Stufen, schob sich langsam hinauf.
Die Stufen waren ausgetreten und richtige Stolperfallen. Das fehlt mir noch, dass die mich hier ertappen.
Dann stimmte das doch, dass die Vorräte gestohlen wurden. Ihre eigenen Leute? Nein, das sind nicht meine Leute, entschied sie. Sie haben mir das bei der Schwiegermutter anhängen wollen. Drecksbande, fressen die Butter blank und die anderen haben das Nachsehen.
Schließlich fiel sie in ihr Bett, eiskalt, die Kleine neben ihr atmete laut und machte kleine Schnarchgeräusche.
Während die Erinnerung an die vergangene Nacht wie ein Film vorüberzog, stieg ihr beim Heimweg ins Dorf das Schluchzen in der Kehle hoch, sie konnte es nicht unterdrücken. Es waren noch etliche Kilometer. Ich muss die roten Augen wegkriegen, es werden sonst alle sehen.
Ich werde mich wehren, ich werde sagen, was ich gehört habe. Ja und dann?
Würde sich die Schwiegermutter gegen ihre Töchter stellen? Und wie würden die 4 Söhne reagieren, die schon aus dem Krieg daheim waren, während sie noch auf ihren Mann warten musste?
Nein, die hatte schon genug Kummer, sie sah zur zeit richtig krank aus. Das ist ja lächerlich, dass ich die Butter gestohlen hätte, mir schlottern die Kleider am Leib, die Schwägerinnen wiegen fast das Doppelte von mir.
Jetzt tauchten die ersten Häuser auf, Betty war erleichtert, sie wischte sich mit ihrem Taschentuch das Gesicht ab. In den Flüchtlingsbaracken, an denen sie vorüberging, wohnten fast nur Frauen. Sie schauten auf, prüfend und misstrauisch, als Betty langsam vorbeiging.
Einige standen hoch geschürzt an ihren Waschbottichen, die schlecht bezahlte Feldarbeit war geschafft, jetzt folgte die Plackerei mit der Hausarbeit.
Eine erkannte sie und sprach sie an.
»Betty, hast du wieder Arbeit für mich?«
»Nächste Woche Leni, heute nicht.«
Leni war Weißnäherin und konnte richtig gut kochen, obwohl sie noch so jung war. Mit hängendem Kopf drehte Leni sich um, der Boden knirschte unter ihren Holzschuhen, als sie zur Baracke zurück schlurfte.
Dass Leni bei ihr arbeitete, wurde von der Verwandtschaft nicht gern gesehen. Das sind doch alles Zigeuner, Betty hatte die Stimme ihres Schwagers im Ohr, die stehlen doch nur.
Zigeuner? dachte Betty, die kommen doch alle aus Schlesien, sie können wunderschön sticken, stricken, klöppeln. Betty verstand nicht immer ihren Dialekt, aber ihr gefiel die singende Sprechweise.