Читать книгу Weil sie eine schlechte Mutter ist ... - Sheila Catz - Страница 11

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3.Generation:

Mary sprach mit dem Therapeuten

»Was ist eigentlich Ihr größter Wunsch?

„Frei zu sein“.

„Frei von Mann, Kindern, Beruf?«

»Nein, nein. Um Gottes Willen, mein Mann ist das Wichtigste in meinem Leben. Aber ich fühle mich so belastet von den ständigen Pflichten, auch von Angstgefühlen, die werden nicht weniger, sondern mehr. Wenn ich morgens aufwache, kann ich mich nicht von den ständigen schweren Gedanken befreien, das wird erst besser, wenn ich aufgestanden bin und den Alltagstrott erledige.«

»Was sind das für Gedanken?«

»Ach die wechseln. Früher war es immer der ständige Existenzdruck der Praxis, was wird heute wieder sein, wer fällt aus, was kommen für Beschwerden, haben die Kinder Mist gebaut?

Und jetzt, wer wird von uns beiden zuerst gehen, was wird mit unserem Sorgenkind und dessen Scheidung, war ich nicht lange genug im Geschirr, jeder Tag - vor allem im Winter - ist so ohne Höhen und Tiefen. Ich fühle mich gefesselt, innerlich und äußerlich.

Und dann möchte ich mich mal wieder ganz schmerzfrei bewegen.«

»Aber Sie haben doch ihre Krankheit gut im Griff?«

Oder die mich, dachte Mary, was weiß ich, wer oder was mich steuert.

»Ja, ich habe mich mit ihr arrangiert, aber die Krankheit ist wie ein Chamäleon, sie kommt heute so und morgen so daher.

Oft habe ich stundenlang Schmerzen in den Beinen, dann verschwindet das wieder und taucht am nächsten Tag in den Armen oder am Rücken auf. Es kommt urplötzlich, ich kann gar nichts dagegen machen. Es gibt Tage, da denke ich, ups heute geht es doch ganz gut. Und als sollte ich bestraft werden, sieht der Nachmittag völlig anders aus als der Vormittag.«

»Dazwischen gibt es schon mal schmerzfreie Stunden oder einen halben Tag. Ich tue ja auch viel dafür.«

Mary registrierte mal wieder ihre große Spannung in den Beinen und versuchte eine andere Sitzposition. Sie fühlte sich angespannt, wie bei einem Verhör und wusste, das war nicht hilfreich bei einer Therapiesitzung. Aber ich kann gar nicht anders, ich will mich unter Kontrolle haben. Aber muss ich wirklich meine Worte abwägen, sortieren und auf Wirkung prüfen? Das ging ihr immer wieder durch den Kopf.

Wieder versuchte sie, eine Reaktion bei ihrem Gegenüber zu entdecken. Sie dachte:

Ich kann in diesem emotionslosen, gelassenen Gesicht nicht lesen. Ich bräuchte Bestätigung oder Einwände oder Kritik, nicht

dieses lauwarme Gerede. Das hilft mir nicht, ich drehe mich doch auch hier nur im Kreis.

Sie war bei einem männlichen Therapeuten gelandet, aus Erfahrung wusste sie, dass bei weiblichen Gesprächspartnern oft Unverständnis oder auch Neid, Missbilligung auftauchte.

Jetzt war sie in ihre Gedanken eingesponnen, sie hörte die Stimme des Therapeuten nur wie von ferne. Auf die mehrmals wiederholte Frage reagierte sie endlich.

»Gibt es denn noch andere Themen, die sie belasten?«

»Na ja, - die gesellschaftlichen Pflichten. Früher waren das Kindergarten und Schulveranstaltungen, oder berufliche Fortbildungen mit viel small talk und öden Gesprächspartnern, die sind Gott sei Dank vom Tisch. Aber jetzt sind es Essenseinladungen, auch Verwandtschaftsbesuche.

Ich bin überall fremd, ich fühle mich nicht verstanden, die anderen spüren das auch und lehnen mich ab. Ich habe keine Lust, endlose Berichte über die Kreuzfahrten anderer Leute zu hören oder Videos von Mutter vor und hinter der Kirche anzuschauen.

Es interessiert mich nicht die Bohne, wie viel beste Freundinnen wieder zu Besuch waren oder wie viele hohe Geburtstage anstehen.

Das ist für mich Zeitverschwendung, ich fürchte, die anderen spüren meine Einstellung, auch wenn ich das nie sagen würde. Wenn ein Gespräch interessant wird, über Politik oder Wissenschaft oder über meine ornithologischen Interessen, dann wird das viel zu oft von absoluten Banalitäten unterbrochen, eben meistens von Frauen, die sich offensichtlich dabei auch langweilen. Am schlimmsten sind die Gespräche über die neuesten Arztbesuche und Befunde, die jeweiligen Krankheiten oder wie schwer es die anderen haben.

Mir fehlt es eben an Interesse und wohl auch an Mitgefühl, das ist alles schon beruflich aufgebraucht worden.«

Mary hatte jetzt hochrote Wangen, sie hatte sehr schnell und lebhaft gesprochen, ohne die übliche Vorsicht. Sie konnte in ihrem Gegenüber ein mildes Interesse erkennen. Schon bereute sie, so viel preisgegeben zu haben, die Quittung würde ihr sicher bald präsentiert werden.

Ich bin wie ein seltenes Tier im Zoo, ging es Mary durch den Kopf, es schaut erstaunt auf die Besucher und die Besucher staunen zurück.

»Haben Sie sich denn schon immer so ausgeschlossen gefühlt?« »Ja, schon seit der Kinderzeit.

Mein Vater hatte immer Angst vor Entführungen, wir bekamen viele Drohbriefe, vor allem nach einem tödlichen Unfall eines Kindes, den einer unserer Fahrer verursacht hatte.

Meine ältere Schwester kam mit zwölf ins Internat und ich wurde zur Schule gebracht und abgeholt. Damit wurde ich isoliert und es gab natürlich Neid. Wer wurde denn damals schon mit dem Auto gebracht, oder welche Eltern fuhren dreimal im Jahr in Urlaub? Niemand sonst hatte zuhause eine Köchin oder ein Kindermädchen. Wenn ich wirklich mal zu Fuß unterwegs war zur Schule, dann wurde ich regelmäßig verprügelt von den Jungs aus der Klasse. Einmal hätte ich fast mein rechtes Auge verloren, ich bekam einen Schneeball mit einem Stein drin direkt aufs Auge. Ich konnte vier Wochen lang auf dem Auge nichts sehen, ich musste in der Uniklinik behandelt werden. Da kam auch dann… heute würde man sagen… das Mobbing zutage.

Dieses Auge ist auch jetzt noch immer ein Thema. Vor zig Jahren hatte ich im Labor einen Unfall mit einem Instrument direkt ins Auge und jetzt der Augeninfarkt.«

Jetzt rede ich doch auch nur von Krankheiten, dachte Mary, ich bin auch nicht besser.

Aber kann ich meine Krankheiten einfach wegdrücken im Gespräch? Sie gehören zu mir, sie haben mir viel abverlangt an Zeit und Wissensforschung und starker Selbstbeherrschung. Mary war jetzt in Fahrt, sie redete hastig und ohne lang nachzudenken.

»Und dann konnte ich natürlich mit meinem Wissen, was ich da gelesen und gehört hatte, nicht den Mund halten, ich hielt anderen lange Monologe schon als Schulkind - über die Zonengrenze, oder die Kommunisten, alles Wissen natürlich von zuhause und aus Büchern. Das kam auch bei Lehrern und Mitschülern nicht gut an.

Ich habe als Kind und Jugendliche Wissen wie ein Schwamm aufgesaugt, ich war nachmittags stundenlang nicht auffindbar, immer versteckt mit einem Buch auf den Knien. Zuhause wurde das natürlich als Drückebergerei von den Pflichten gesehen. Aus heutiger Sicht war das für mich Flucht aus der Wirklichkeit.«

»Möchten Sie denn von den anderen verstanden werden?« »Nein, das wäre jetzt für mich eine Last.«

»Respektiert ja, das wäre schön. Ich brauche Abstand, Distanz verstehen Sie?«

Der Therapeut schaut sie lange und sehr nachdenklich an, Mary wurde es ganz heiß im Gesicht. Schon wieder meine Arroganz, mein Stolz oder was auch immer, das war schon im Kloster so.

»Schreiben Sie doch bis zum nächsten Mal die Gelegenheiten auf, bei denen Sie sich verstanden fühlten, abgesehen von Ihrem Mann.«

Dieser Auftrag beschäftigte sie auf dem Heimweg mehr, als sie selbst zugeben wollte.

Wo fühle ich mich eigentlich wohl? Im Wald, im Park, im Garten, wenn ich den Vogelstimmen lausche. Sie wurde nie müde, die Arten zu bestimmen. Sie beobachtete Spatzen in der flimmernden Hitze, die ein Sandbad nahmen, aufgeregt tschilpend.

Wo ich mich verstanden fühle? Das ist nicht an eine Person gebunden, dachte sie. Es sind Bücher, die in mir etwas berühren, anklingen lassen. Es sind die Erfahrungen, die ich mit den jeweiligen Autoren teile, eine Art Seelenverwandtschaft.

Sie setzte sich auf eine Parkbank, als sie ein rotbraunes Eichhörnchen entdeckte, das war wohl auf der Suche nach Eiern aus den Vogelnestern und huschte von einem Holundergebüsch zu großen Stauden. Heiseres Hundegebell verscheuchte das Eichhörnchen, Mary stand auf und ging mit schnellen Schritten, obwohl ihre Beine schmerzten, nach Hause.

Weil sie eine schlechte Mutter ist ...

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