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DER DRAFT

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Extra-Einheit nach dem Training für die Montréal Canadiens

An einem Sonntagmorgen im Juni 2004 riss mich das Klingeln meines Handys aus dem Schlaf. Die Nummer auf dem Display war mir unbekannt. Die WM in Tschechien war schon länger vorbei und ich steckte mitten im Aufbautraining für die nächste Saison bei den ZSC Lions, die ich als Captain anführte. «Wer sollte mich im Sommer kontaktieren?», überlegte ich.

Da ich am Vorabend mit Kollegen im Ausgang gewesen und das Zürcher Nachtleben ausgiebig und lange genossen hatte, nahm ich eher verstimmt ab. «Gratuliere Mark», tönte es in mein Ohr. «Danke, aber wofür?», lautete meine Antwort. «Was, du weisst noch von nichts?! Du bist gedraftet worden von den Montréal Canadians! Echt toll, Mark!» Simon Graf, der Journalist vom «Tages-Anzeiger», der mich angerufen hatte, konnte kaum fassen, dass er mir als Erster diese Botschaft überbrachte. Er freute sich, mich so positiv überrascht zu haben, und wollte mit mir über den Coup sprechen. Tatsächlich hatte ich von diesem so sehnsüchtig verfolgten Ziel in meiner Eishockeykarriere noch nichts mitbekommen. Nun sollte es mich endlich in die NHL verschlagen?! Die Montréal Canadians hatten mich in der neunten Runde an Nummer 262 gedraftet. «Träume ich noch?», fragte ich mich. Nein, alles war real, ich war wach und mein Traum sollte Wirklichkeit werden…

Nach dem kurzen Telefonat lief vor meinem geistigen Auge ein Film ab. Seit meinem 18. Lebensjahr hatte ich jeden Juni gehofft, gefiebert, gebangt – und war enttäuscht worden. Mein grösster Wunsch, den NHL-Draft zu schaffen, hatte sich bisher nie erfüllt. Und das, obwohl ich seit meinem Wechsel von Fribourg-Gottéron (meiner ersten Station als Profi) zum HC Davos über einen einjährigen Ausflug in die unteren nordamerikanischen Ligen bis nun bei den ZSC Lions alles nur Erdenkliche dafür gegeben hatte. Zum Beispiel hatte ich als erster Schweizer Spieler bereits zum neuen Jahrtausend einen Personal Trainer engagiert.

Nun, nachdem ich mit fast 27 den Glauben daran eigentlich schon aufgegeben hatte, sollte der Sprung in die NHL tatsächlich gelingen! Eine Welle der Emotionen ergriff mich. Nach den Enttäuschungen der Jahre zuvor hatte ich den Draft diesmal nicht verfolgt und war überglücklich und stolz. Denn nicht irgendein Team, sondern die Montréal Canadiens wollten mich. Das Team gehört zu den «Original Six», den sechs von heute 31 Mannschaften, die seit dem Erhalt des Exklusivrechts für die Austragung des Stanley Cups durch die nordamerikanische National Hockey League (NHL) in derselben vertreten sind. Der Klub hat eine grosse Tradition und darf seit der Gründung 1909 auf eine lange Historie zurückblicken. 24 Mal hat er bereits den Stanley Cup gewonnen, die höchste Auszeichnung, die es im Eishockey gibt, und führt damit die Liste aller Vereine an. In Montreal ist Eishockey kein Sport, es ist eine Religion. Aber das wurde mir erst später so richtig bewusst.

Der Juni ist der Monat, in dem sich alles entscheidet, in dem die ganze Eishockeywelt nach Nordamerika blickt. Denn genau in dieser Zeitspanne finden die Drafts statt. So auch in diesem, für mich entscheidenden Jahr 2004. Wer von einem kanadischen oder US-amerikanischen Klub gewählt wird, dem steht eine Topkarriere offen. Seit Bubentagen wollte ich genau das erreichen, denn ab dem 18. Lebensjahr kann man gedraftet werden. Da die NHL in der Saison 2004/05 streikte, wurde die Schweizer Nationalliga A zum Auffangbecken vieler Söldner aus Übersee. Dies gab mir die Möglichkeit, mich mit den Stars zu messen und zu erkennen, dass ich nun bereit für die beste Liga der Welt war. Im April 2004 hatte ich als Captain des Schweizer Nationalteams eine tolle WM in Tschechien gespielt und ich denke, Montréal hat sich da entschieden, mich zu holen. Meinen Eltern gegenüber hatte ich das Ziel «NHL» natürlich formuliert und sie unterstützten mich dabei nach Kräften. Nun überlegte ich mit ihnen zusammen, was ein solcher Schritt für mich bedeuten würde.

Ich stand noch beim ZSC unter Vertrag. In der aktuellen Saison 2004/05 hatten wir es in die Play-offs geschafft, dort den HC Ambrì-Piotta sowie den EV Zug jeweils mit 4:1 besiegt. Im Finale (28. März bis 11. April) trafen wir auf den HC Davos, dem wir 1:4 unterlagen. Diese Niederlage gegen den Klub mit den Kanadiern Rick Nash, Joe Thornton und dem Finnen Niklas Hagman schmerzte. Gern wäre ich als Schweizer Meister nach Kanada gegangen. Denn mein Entscheid stand fest: Ich wollte meine Chance nützen und das Angebot der Canadiens, auf die Saison 2005/06 zu ihnen zu kommen, annehmen. Aus sportlichen Gründen war ich felsenfest überzeugt, dass dies das Richtige ist. Auf privater Ebene fiel mir der Entscheid hingegen schwer.


Nach der Unterschrift bei den Canadiens im neuen Trikot


Das Heimstadion «Centre Bell»

Die vergangenen fünf Jahre in Zürich waren wunderschön gewesen. Wir hatten ein super Team, das sich als eine verschworene Einheit erwies. Wir machten alles gemeinsam. Ich war bei den Lions sehr glücklich. Auch hatte ich eine tragende Rolle inne und durfte 2003 sogar das Captain-Amt von Claudio Micheli übernehmen. Es stimmte einfach alles. Das Leben meinte es gut mit mir. Ich hätte mir locker noch weitere zehn Jahre in Zürich vorstellen können. Aber mein Traum erwies sich als stärker als die Wohlfühloase an der Limmat; ich unterschrieb bei den grossen Canadiens einen Einjahresvertrag zum NHL-Minimalsalär von 450000 US-Dollar brutto, wovon die Hälfte an Steuern wegging. Es handelte sich um einen sogenannten Two-way-contract mit zwei Salären: ein höheres für die NHL sowie ein Gehalt, falls ich in einer tieferen Liga eingesetzt würde.

Wer glaubt, dass ich nun direkt ins Schlaraffenland des Eishockeys geflogen worden bin, der irrt. Ich flog Holzklasse. In Montreal angekommen holte mich ein Mitarbeiter des Vereins ab und brachte mich in ein Hotel in der Nähe des Stadions. Das Zimmer teilte ich mit Tomas Plekanec, einem Prospect der Canadiens, der seinen Preis bereits einige Jahre im Farmteam bezahlt hatte und Hoffnungen auf den NHL-Kader hegte. Wir sassen im gleichen Boot; ich war einfach sechs Jahre älter. Er erwies sich als Glücksfall: Tomas wurde mein bester Freund im Team bzw. wir beide zu Leidensgenossen. Denn der Anfang gestaltete sich harzig.

Ich hatte etwas Zeit, mich auf die neue Situation einzustellen, denn das Training begann erst in einer Woche. So erkundete ich die Stadt und machte mich mit den Gegebenheiten vertraut. Als ich mir eines Abends an einem Kiosk eine Packung Kaugummi kaufte, starrte mich der Verkäufer an. «Du bist doch der Schweizer, der Neue im Team», meinte er. Er hatte mich tatsächlich von den Ankündigungen im TV und den Zeitungen erkannt, obwohl ich noch nicht mal einen Fuss aufs Eis gesetzt hatte. Die Verbundenheit der Einwohner zu «ihrem Team» erreicht in Nordamerika eine ganz andere Dimension als in der Schweiz. Durch solche Erlebnisse wurde mir der Stellenwert, den Eishockey dort einnimmt, erst bewusst. Noch mehr war das der Fall, als ich zum ersten Mal die Katakomben der NHL, sprich das Stadion Centre Bell in Montreal betrat. Ich hatte das Gefühl, in einem Museum oder einer Hall of Fame zu stehen, und erstarrte fast vor Ehrfurcht, als ich all die Legenden erblickte, deren Porträts an den Wänden hingen. Jeder Spieler seit der Gründung des Vereins war auf einer Plakette der jeweiligen Saison verewigt. Die Plätze der aktuellen Spieler wie Saku Koivu, Alexei Kovalev, Andrei Markov usw. waren ebenfalls mit Schildern gekennzeichnet. Und dann – zu meinem Erstaunen – las ich auch meinen Namen: Mark Streit. Das machte mich stolz. Denn von den rund 60 Männern, die zu Beginn der Saison ins Camp kommen, haben eigentlich alle Neulinge ihren Spind in einer kleinen Kabine nebenan. Aber nicht ich. Bald merkte ich jedoch, dass das nichts zu bedeuten hatte.


Die Neuen im Team werden den Fans vorgestellt

Kapitän Koivu, eine finnische Legende, beachtete mich als Einziger und hiess mich willkommen. Die meisten ignorierten mich. Tomas ging es gleich, sogar seine Landsmänner aus der Tschechei und Slowakei behandelten ihn wie Luft. Welcome to the NHL! Zu Anfang konnte ich mein Potenzial in den Trainings nur äusserst selten ausschöpfen. Ich, der kleine Schweizer in dieser grossen Show, fühlte mich gehemmt. Das Camp war hart oder einfach ungewohnt für mich. Circa 60 Spieler kämpften um 23 Plätze. Da bereits die meisten unter Vertrag standen und somit gesetzt waren, blieben zwei bis drei freie Plätze für Junge oder Neue. Wie sich nach kurzer Zeit herausstellte, war in der Verteidigung nur ein Platz offen. Das Tempo im Trainingslager empfand ich als enorm hoch. Die Intensität im Spiel lag um so vieles höher als in der Schweiz. Es wurde sehr konzentriert gearbeitet. Jeder Pass kam knallhart und genau. Wem das einmal nicht gelang, den musterte der Trainer sofort mit einem «Are you not ready»-Blick.

Ich konnte nicht zufrieden mit meinem Camp sein und rechnete eigentlich jeden Tag damit, in das Farmteam (die Mannschaft, deren Hauptaufgabe die Ausbildung junger Spieler ist, die Erfahrung in einer der unteren Ligen sammeln sollen) geschickt zu werden. Mir war bewusst, dass ein langer, steiniger Weg vor mir lag und ich eventuell einen Umweg durch die American Hockey League (AHL) machen musste. Feedbacks von den Coaches gab es nicht. Ich kann mich erinnern, eines Tages an der Ampel gewartet zu haben, als mich ein Mann ansprach und mich fragte, wie es mir gehe. Ich sagte: «Okay.» Er meinte, ich solle mir keine Sorgen machen und weiter hart arbeiten. Ich hatte keine Ahnung, wer mich da gerade angesprochen hatte. Etwas später erfuhr ich, dass es sich um Pierre Gauthier, den kanadischen Eishockeyfunktionär in der Organisation der Montréal Canadiens gehandelt hatte. Er war für meinen Draft verantwortlich und ein massgeblicher Supporter von mir.


Regeneration, Physio und Massagen gehören zum Alltag der Profisportler


Mark Streits Stammplatz in der Garderobe der Montréal Canadiens

Ein Camp dauert 21 Tage, dann wird der 23-Mann-Kader ernannt. Diese drei Wochen kamen mir ewig vor. Wenn du ständig das Gefühl hast, jeden Moment ins Farmteam gehen zu müssen, ist das sehr ermüdend und eine mentale Belastung. Am Tag der Entscheidung kam ich in die Kabine und trank einen Kaffee in der Players Lounge, als mein Gegenüber Mike Ribero sagte: «Congrats, you made the team.» Ich hatte keine Ahnung, dass ich es tatsächlich geschafft hatte. Kein Trainer, geschweige denn der General Manager (GM) hatte mich informiert, sondern ein Mitspieler. Mir fiel eine gigantische Last von den Schultern. Die Erleichterung wandelte sich aber keineswegs gleich in Euphorie, weil in der NHL jeden Tag einiges passieren kann und ich sicher nicht «safe» war. Es bedeutete lediglich einen weiteren wichtigen Schritt in die richtige Richtung.

Nach sechs Wochen im Hotel erhielt ich jetzt grünes Licht, mir eine Wohnung zu suchen. Das stimmte mich zuversichtlich und positiv. Mithilfe einer Mitarbeiterin des Vereins fand ich eine schmucke Bleibe unterhalb unseres Stadions. Von meiner Wohnung aus konnte man es direkt sehen. Am 8. Oktober 2005 gab ich mein NHL-Debüt im kanadischen Derby gegen die Toronto Maple Leafs. Ich werde nie vergessen, wie nervös ich war, aber auch voller Freude allein darüber, bei einem Match dabei zu sein. Ich verbuchte gleich einen Assist und schnappte mir den Puck, mit dem ich die Torvorlage geliefert hatte, als Erinnerungsstück. Wir gewannen auswärts im Air Canada Center mit 5:4.

Ich gewöhnte mich schnell an diese eishockeyverrückte Stadt, doch leider liess das, was ich auf dem Eis zeigte, zu wünschen übrig. Einmal zitierte der General Manager Bob Gainey, eine Canadiens-Hockeyikone, einige Männer einzeln zu sich ins Büro. Auch mich. Ich hatte Angst davor, was er mir sagen würde. Als ich bei ihm im Zimmer sass, schwieg er gefühlte fünf Minuten lang, die wahrscheinlich in Wahrheit nur 30 Sekunden dauerten. «Es wird Zeit, dass du dem Trainer sagst, du solltest wieder einmal spielen.» Seine Worte motivierten mich eigentlich, doch ich traute mich nicht, sie umzusetzen und von Claude Julien meine Einsetzung zu fordern. Letztlich habe ich meine Chance doch bekommen.

Ein Erlebnis an einem kalten Wintertag in Montreal verunsicherte mich sehr. Nach einem verlorenen Spiel gegen die Florida Panthers bekam ich den Frust eines unserer Fans zu spüren. «Go back to fucking Switzerland!», rief er mir zu. Ich konnte noch nie mit schlechten Leistungen gut umgehen. Sie bescherten mir schlaflose Nächte, in denen meine Gedanken kreisten und ich die Gründe für das Versagen suchte. Nach dem besagten Spiel ging ich nach Hause, stellte mich auf eine dieser langen und einsamen Nächte ein und blickte auf das Canadiens-Logo, das am Centre Bell so hell strahlte. Mein Weg zu einem Stammplatz würde steinig sein, aber ich wollte es mit jeder Faser meines Körpers schaffen, ich wollte ein Canadien sein.

Es gab auch unglaublich schöne Momente, beispielsweise als ich das erste Mal gegen meinen Kindheitshelden Chris Chelios spielen durfte. Er war immer mein Vorbild gewesen. Als kleiner Junge hatte ich das Originaltrikot mit seinem Namen und seiner Nummer zu Weihnachten geschenkt bekommen und die Wände meines Zimmers mit seinen Bildern und Postern dekoriert. Nun sollte ich mit den Canadiens gegen die Detroit Red Wings mit Chelios als Verteidiger antreten. Ich konnte es kaum glauben und musste erst meine Ehrfurcht ablegen, als ich ihn sah. Als ich gegen einige weitere Koryphäen spielte, ging es mir ähnlich, etwa gegen Mario Lemieux mit den Pittsburgh Penguins. Ein eigenartiges Gefühl überkam mich. Ähnliches erlebte ich, als ich erstmals im Madison Square Garden in Manhattan gegen die New York Rangers spielte, bei denen Captain Mark Messier, einer der berühmtesten Führungsspieler der Liga, gerade seine Karriere beendet hatte. Schon als Bub war ich NHL-orientiert, ein fanatischer Fan, besass diverse Sammelkarten und Poster – und nun standen mir meine Heroes leibhaftig gegenüber. Spielte ich gegen solche Legenden, hatte ich lange Zeit Berührungsängste, vor allem, weil ich Schweizer war. In der nordamerikanischen Liga galten wir als Nobodys oder zumindest als Hockey-Exoten. Viele Kollegen hielten die Schweiz für Schweden! Es hat gedauert, bis ich diese Ehrfurcht bzw. den übermässigen Respekt ablegen und zeigen konnte, was ich draufhatte. Ich bin generell keiner, der mit der Tür ins Haus fällt, sondern eher zurückhaltend. Das entspricht mehr meinem Naturell. In jedem Team, in das ich neu kam, habe ich zunächst abgewartet und geschaut, wie alles funktioniert, wer die Leadertypen sind etc. Ich habe versucht, mit Leistung zu überzeugen und mich hochzuarbeiten, anstatt mit einer Riesenklappe aufzutreten.


Ran an den Speck! Ein strikter Essensplan, um zuzunehmen


Sicher gibt es Orte, die es einem Spieler leichter machen, sich in der NHL zu etablieren, als Montreal. Es ist eine grosse Ehre, das Canadiens-Trikot tragen zu dürfen. In meiner ersten Saison kaufte ich mir das Heim- und das Auswärtstrikot als Andenken an diesen Meilenstein meiner Karriere. Die Fans, die Medien, die Bevölkerung fiebern und leiden mit. Man wird überall erkannt und kann eigentlich alles haben, was man will. In der Tat besteht die Gefahr, sich in dem Hype zu verlieren. Mir war klar, dass das Lesen der Zeitungen und das Anschauen der verschiedenen Eishockeyshows im Fernsehen negative Auswirkungen auf mich hatten. Ich achtete ohnehin auf jedes noch so kleine Detail, war hypersensibel, setzte mich schon selbst viel zu sehr unter Druck. Deshalb wollte ich mich auf meine Leistung konzentrieren und mich nicht von den Medien beeinflussen lassen. Obschon einen die Kritik in dieser Eishockeymetropole gnadenlos treffen kann, wissen es die Leute zu schätzen, wenn man für «ihre Mannschaft» immer alles gibt. Und das versuchte ich in jedem Training und in jedem Spiel zu tun. Ich benötigte fast eine ganze Saison, um mich an den Level zu gewöhnen. Während meiner ersten Saison 2005/06 absolvierte ich ca. 50 Spiele, bei 32 sass ich unter den Zuschauern. Im Nachhinein stellte ich fest, dass die Verantwortlichen sehr geduldig mit mir waren. Sie gaben mir den nötigen Raum, um mich zu entfalten.

Als in der zweiten Saison Guy Carbonneau unser Trainer wurde, kam mir ein wenig die Rolle des Jokers zu. Die ersten 20 Spiele wurde ich auf meiner angestammten Position als Verteidiger eingesetzt. Dann verloren wir einige Male und ich musste ein paar Matches pausieren. Zwei, drei Spieler sind stets Ersatz. Wer dafür vorgesehen ist, absolviert die komplette Vorbereitung am Spieltag. Des Öfteren traf es mich: Ich habe das Einlaufen mitgemacht und dann entschied sich der Trainer, einem anderen den Vorzug zu geben. Auf dem Weg vom Eis in die Kabine hat mich in der Regel der Materialwart – nicht der Trainer oder der Sportdirektor – informiert, dass ich nicht mit von der Partie sein würde. Das ist hart. Du ziehst vor dem ganzen Team die Ausrüstung aus, wünschst allen Mitspielern viel Erfolg, gehst ins Gym und machst ein Workout mit dem Fitnesstrainer während des ersten Drittels. So sah mein Alltag in der Regel aus. Klar kamen Zweifel in mir auf, doch ich biss mich durch.

Die Geduld sollte sich lohnen. Als ich nach einem Warm-up in die Kabine lief und bereits auf das «No-Go» vom Materialchef wartete, stand auf einmal Trainer Carbonneau da und fragte mich, ob ich Stürmer spielen könnte. Ich sagte: «Ja klar», obwohl ich vorher noch nie in meiner Karriere Stürmer gespielt hatte. Aber ich hätte was auch immer getan, um spielen zu können. Aus der Not wurde eine Tugend. Ich bemühte mich, so schnell wie möglich die neue Position zu erlernen. Und nicht nur das: Ich wurde zum absoluten Allrounder. Teilweise setzte man mich während eines Spiels auf fünf verschiedenen Positionen ein. Diese Vielseitigkeit war äusserst anspruchsvoll, aber um in einem Team bestehen zu können, muss man eine bestimmte Rolle innehaben. Nur so wird man zum Fixstarter. Und genau das wurde ich. Mit Stolz führte ich meine Aufgaben aus und erkämpfte mir einen Stammplatz, den meine Kameraden mit dem Spitznamen «Swiss Army Knive» krönten, da ich so universell brauchbar wie ein Schweizer Taschenmesser geworden war.

Mein drittes Jahr war statistisch gesehen mein bestes, mit 81 Spielen auf dem Konto. Ich gab 165 Schüsse aufs Tor ab, erzielte 13 Tore und sieben Powerplaytore, wovon es sich bei dreien um Siegestore (Game Winning Goals) handelte. Ausserdem gab ich 49 Assists. Insgesamt erzielte ich 62 Punkte. Wir wurden Erster in der Eastern Conference, was dem Klub seit Anfang der 1990er-Jahre nicht mehr gelungen war. Damit hatten wir die Qualifikation für die Play-offs in der Tasche und unterlagen erst im Conference-Halbfinale den Philadelphia Flyers. Allmählich festigte sich in mir das Gefühl, «es geschafft zu haben». Nach meiner aktiven Karriere sagte mein Vater einmal zu mir, dass er schon ein Jahr zuvor überzeugt gewesen sei, dass ich mich bei den Canadiens etablieren würde.

Auch privat erlebte ich in Montreal eine schöne Zeit. Im Ausgang hatte ich eine 21-jährige Jus-Studentin kennengelernt, deren Familie ursprünglich aus Syrien stammte. Wir wurden ein Paar und ihre Eltern behandelten mich sehr freundlich, fast wie einen Teil der Familie. Trotzdem vermisste ich meine Lieben in Bern oft. Wenn ich mich einsam fühlte oder einen schlechten Tag hatte, rief ich sie mittels einer Prepaid-Karte von einem öffentlichen Telefon aus an. Allzu viel konnten sie mich nicht unterstützen und ich wollte sie auch gar nicht mit meinen Sorgen belasten. Alles in allem war ich in Montreal, in der NHL angekommen. Ich verwirklichte meinen Traum. Nur das zählte.

Mark Streit

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