Читать книгу Verstohlene Leidenschaft - Shirlee Busbee - Страница 7
Оглавление3. KAPITEL
Shelly blinzelte verwirrt, als mehrere Gedanken gleichzeitig auf sie einstürmten. Zum Beispiel der offensichtliche Gegensatz zwischen dem, was Josh ihr gegenüber zu ihrer Rückkehr gesagt hatte, und Marias Einschätzung seiner Meinung dazu. Josh hatte die Existenz eines leiblichen Kindes nie erwähnt, ja nicht einmal eine Andeutung diesbezüglich gemacht, aber sollte sich die Behauptung bewahrheiten, hätte er ganz sicher nicht gewollt, dass sie nach Oak Valley zurückkehrte. Offenbar hatte er sich Maria gegenüber ganz anders geäußert. Shelly hätte Josh nie unterstellt, dass er hinterlistig war, aber jetzt fragte sie sich, ob er es nicht doch faustdick hinter den Ohren gehabt hatte.
Obwohl Shelly damals noch sehr jung gewesen war, erinnerte sie sich sehr gut daran, wie bestürzt sie war, als Maria so plötzlich und unerklärlicherweise verschwand. Gestern noch hatte sie gelacht, gesungen, Shelly gebadet und ins Bett gebracht, und am nächsten Tag war sie weg. Einfach nicht mehr da. Ohne Vorwarnung und ohne jede Erklärung. Shelly hatte nicht verstehen können, welches grausame Schicksal ihre kleine Welt erschütterte, und sich tagelang in den Schlaf geweint. Sie vermisste Marias Zärtlichkeiten und ihre komischen Gutenachtgeschichten. Wenn sie jetzt zurückdachte, glaubte sie sich schwach daran erinnern zu können, dass ihre Eltern danach mehrere Wochen lang sehr schnell gereizt waren und Josh mürrisch und griesgrämig herumgelaufen war. Einzelheiten wusste sie jedoch nicht mehr, denn sie war damals vollkommen in ihr eigenes einsames Elend versunken. Außerdem war sie erst vier gewesen, und sie konnte kaum noch etwas aus dieser Zeit heraufbeschwören. Fügte sie jedoch jetzt, mehr als dreißig Jahre später, die Teile des Puzzles zusammen, sah sie eine sehr gute Erklärung für Marias Verschwinden. Vor allem, wenn sie sich an Marias Rückkehr erinnerte. Maria war ein Jahr später wieder aufgetaucht, einen schreienden, rotgesichtigen Nick im Arm und einen Ehemann an der Seite. Juan Rios.
Das musste für Josh und ihre Eltern eine sehr peinliche und ungemütliche Zeit gewesen sein. Von ihrem Vater hatte sie nur noch ein sehr verschwommenes Bild, aber an Catherine Granger erinnerte sich Shelly als eine kühle, steife Frau, die stolz darauf war, eine Granger zu sein, und sich ihrer Stellung in der kleinen Gemeinde sehr bewusst war. Weder Catherine noch ihr Ehemann dürften sich sonderlich darüber gefreut haben, dass ihnen ihre mexikanische Haushaltshilfe ihr erstes Enkelkind beschert hatte. Selbst wenn Shelly in dem Punkt ganz anderer Ansicht war, konnte sie die Beweggründe für das Verhalten ihrer Mutter verstehen. Catherine Vale war bettelarm geboren worden, und ihre Märchenhochzeit mit Stanley Granger hatte das Märchen vom Aschenputtel für sie wahr gemacht und ihr ermöglicht, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Kaum hatte sie in die Familie eingeheiratet, benahm sie sich mehr wie eine Granger als alle Mitglieder der Familie, die mit dem Namen geboren worden waren. Catherine war stolzer auf den Namen Granger und eifriger darauf erpicht, seinen unbefleckten Ruf zu wahren, als je ein Granger vor ihr. Nachdem sie aus der Gosse emporgeklettert war, hatte sich Shellys Mutter zu einem wahren Snob entwickelt. Shelly seufzte bedauernd. Von dieser Schwangerschaft zu erfahren, musste sie fuchsteufelswild gemacht haben, fairerweise musste man zugeben, dass ihr Zorn sich sowohl gegen Maria als auch gegen Josh richtete. Natürlich war eine Heirat indiskutabel, und in dem Punkt hatte Catherine wohl auch ihren Ehemann auf ihrer Seite. Josh schien sich ihnen in allen Punkten gebeugt zu haben, auch was Marias Verbannung anging. Schließlich waren sie die Grangers, Stützen der Gesellschaft, und Josh hätte es genauso wenig gefallen wie seinen Eltern, zum Objekt des allgemeinen Klatsches zu werden. Doch dann war Maria zurückgekommen und geblieben. Was hätte Shelly darum gegeben, damals ein Mäuschen in der Wand gewesen zu sein. Es musste faszinierend gewesen sein.
Verblüffend fand Shelly auch ihre Reaktion auf diese neue Situation. Sie war fasziniert und überrascht und betrachtete Nick jetzt mit ganz anderen Augen. Plötzlich fiel ihr auch die Ähnlichkeit mit ihrem Bruder auf. Nicks Augen waren keineswegs so dunkel, wie Shelly angenommen hatte. Vor allem waren sie dunkelgrün. Vermutlich hatten sie denselben Farbton wie ihre eigenen Augen und wiesen auch den gleichen mandelförmigen Schnitt auf. Das war ein Charakteristikum der Grangers, obwohl nicht jeder in der Familie damit gesegnet war. Nicks Größe könnte ebenfalls von Josh vererbt sein, und auch die lässige Eleganz, mit der sich Nick bewegte. Je mehr Shelly darüber nachdachte, desto ähnlicher kamen ihr die Bewegungsabläufe der beiden Männer vor. Natürlich hegte Shelly auch Zweifel, aber es wäre ihr nie eingefallen, Nicks Behauptung von vornherein von der Hand zu weisen. Auch nach einigem Nachdenken hielt sie es durchaus nicht für abwegig, dass Nick das Kind ihres Bruders war. Gewiss waren auch andere Erklärungen möglich, die sie nicht außer Acht lassen würde, aber Nicks unverblümte Enthüllung klang für sie wahr.
Shelly verblüffte alle Anwesenden, als sie spontan ihre Hand ausstreckte. »Ich freue mich, dich kennen zu lernen ... Neffe!« Sie lächelte. »Und würde mich jetzt vielleicht jemand aufklären, was genau es mit dieser Angelegenheit auf sich hat?«
Nick schüttelte den Kopf, und ein Lächeln hellte seine bittere Miene auf. »Weißt du, ich mochte dich immer schon, selbst als du noch ein verzogener kleiner Teenager warst. Aber jetzt mag ich dich noch lieber ... Tantchen.«
»Du glaubst ihm?«, fragte Maria ungläubig.
Shelly zuckte mit den Schultern. »Ich bin jedenfalls bereit, ihm zunächst einmal zu glauben. Sicher bin ich ein bisschen bestürzt oder sogar entsetzt.« Sie lächelte. »Und neugierig bin ich auch, das will ich nicht leugnen. Wenn ich länger darüber nachgedacht habe, werde ich sicher eine Menge Fragen stellen.«
Raquel hatte die Luft angehalten und atmete jetzt vernehmlich aus. »Du gehst wirklich sehr nett damit um. Mom und ich haben Nick angefleht, den Mund zu halten.« Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Man kann meinem Bruder wirklich nicht nachsagen, dass er besonders taktvoll ist.«
»Ja, klar. Aber mir ist mangelndes Taktgefühl lieber, als die ganze Zeit um dieses Thema herumzuschleichen. Auch wenn Josh alles getan hat, um diese Verbindung zu ignorieren, wette ich, dass jeder im Tal die Wahrheit vermutet. Und es ist sicher besser, wenn Shelly es von mir erfährt, als wenn irgendein wohlmeinender Wichtigtuer sie damit überrumpelt.«
»Das finde ich auch«, erwiderte Shelly, als sie an einige der scharfzüngigen Talbewohner dachte. Sie sah die drei der Reihe nach an. »Ist es wirklich ein Geheimnis? Oder bin ich die Einzige, die nichts davon wusste?«
»Wovon wussten Sie nichts?« Mike Sawyer kam in die Küche. In der Hand trug er eine kleine Lederaktentasche.
»Dass ich nicht die letzte Angehörige meines Zweigs unserer Familie bin«, erwiderte Shelly, der diese Konsequenz gerade erst aufgegangen war. Die Vorstellung gefiel ihr. Joshs Sohn und ihr Neffe. Es durchströmte sie warm bei dem Gedanken, auch wenn dieses Gefühl vielleicht nicht lange andauern würde, akzeptierte sie die Tatasche ihrer Verwandtschaft. Vermutlich hätte die Nachricht sie traumatisieren oder zumindest aufregen sollen, aber keines von beidem traf zu. Sie hatte Nick schon gemocht, als sie noch Kinder waren, und Maria hatte sie ebenfalls ins Herz geschlossen. Sie betrachtete sie sogar fast als Mitglied der Familie, also warum sollte sie mit dieser veränderten Situation nicht glücklich sein?
Sawyer schoss Nick einen Seitenblick zu. »Verstehe. Nick hat sich offenbar nicht verkneifen können, Ihnen seine Fantasien zu erzählen, richtig? Nicht einmal heute.«
Shelly sah ihn fragend an. »Fantasien? Wollen Sie behaupten, dass Nick nicht Joshs Kind ist?«
Sie wandte sich an Maria, die bisher geschwiegen hatte. »Ist es wahr? Ist Nick der Sohn meines Bruders?«
Marias Lippen zitterten, und sie warf ihrem Sohn einen gequälten Blick zu. »Er glaubt es jedenfalls.«
Shelly runzelte die Stirn. Wenn es stimmte, warum gab Maria es dann nicht zu? Aus Scham? Vielleicht.
Sie hätte das Thema noch weiterverfolgt, aber Sawyer unterbrach sie kühl. »Das dürfte jetzt kaum der richtige Moment für ein solches Thema sein. Ich habe keine Ahnung, wer Nicks Vater ist, und ehrlich gesagt, interessiert mich das auch nicht.« Er ignorierte Nicks verächtliches Lachen. »Außerdem will ich jetzt nicht darüber diskutieren. Ihr Bruder ist tot, wir haben soeben seine Asche verstreut, und er hat seine Geheimnisse mit ins Grab genommen.«
»Einen Augenblick mal!«, widersprach Shelly. »Sie können diese Frage doch nicht einfach ignorieren. Außerdem, warum sollte Nick lügen?« Sie unterließ es tunlichst, Marias Reaktion auf Nicks Behauptung zu erwähnen, Shelly war inzwischen sehr verwirrt.
»Sie scheinen zu vergessen, dass es hier um einen beträchtlichen Grundbesitz geht. Sie wären vielleicht überrascht, wenn Sie wüssten, wozu manche Leute bereit wären, um so viel Land in ihre Finger zu bekommen.«
Nick wollte sich auf den Anwalt stürzen, aber Shelly sprang hastig zwischen die beiden. Sie stemmte ihre Hand gegen Nicks Brust, hielt ihn zurück, und sah den Anwalt finster an. »Nur damit ich Sie richtig verstehe«, sagte sie. »Sie unterstellen, dass Nick behauptet, er wäre Joshs Sohn, weil es ihm um unser Land geht?«
»Das haben Sie gesagt, nicht ich.«
Shelly biss die Zähne zusammen und fragte sich, wieso sie Mike Sawyer sympathisch gefunden hatte. »Sie haben es angedeutet«, meinte sie gepresst. »Glauben Sie das auch?«
»Meine Meinung in dieser Angelegenheit zählt nicht«, erwiderte der Anwalt. Ihn schien die unangenehme Situation nicht zu stören. »Für mich zählt, was Ihr Bruder wollte. Und ich bin mir ganz sicher, dass er eine solch ungeheure Behauptung nicht ausgerechnet an einem Tag wie diesem hätte hören wollen.«
»Warum nicht?«
»Himmel, Shelly!« Sawyer klang ungeduldig. »Sie haben gerade Joshs Asche verstreut, und ich will gleich sein Testament verlesen. Natürlich sind Sie erregt und aufgewühlt. Es ist der perfekte Zeitpunkt, mit Ihren Gefühlen zu spielen.« Er schaute Nick böse an. »Nick kann so lange behaupten, dass er Joshs Sohn ist, wie er will, aber es gibt keine stichhaltigen Beweise, die eine solche Behauptung stützen. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass sich selbst seine Mutter zu diesem Punkt ausschweigt. Das sollte Ihnen eigentlich zu denken geben. Solange Nick nicht bereit ist, vor Gericht zu gehen, Sie und den Namen Granger durch den Schmutz zu ziehen und dann noch zu hoffen, dass er die Jury von dieser angeblichen Verwandtschaft überzeugen kann ... so lange sind Sie die einzige Erbin Ihres Bruders.«
»Aber das ist doch nicht richtig!«, entfuhr es Shelly. »Wenn Nick Joshs Sohn ist, hat er auch ein Anrecht auf den Besitz.«
»Falls er das ist.« Mike Sawyer stellte seinen Aktenkoffer auf den Tisch und öffnete ihn.
»Einen Moment noch! Wollen Sie mir sagen, dass Nick lügt, wenn er Josh als seinen Vater angibt? Was ist mit Maria? Sie muss doch den Vater ihres Kindes kennen!«
»Ich fürchte, dass in diesem Fall ihr Wort gegen das eines Toten steht«, erwiderte Sawyer trocken. »Und wie ich schon sagte: Bisher hat Maria Nicks Behauptung keineswegs gestützt. Ihr Bruder hat niemals öffentlich eine Beziehung zu ihr oder Nick zugegeben.« Als Shelly gereizt, antworten wollte, hob der Anwalt die Hand. »Er hat Maria geholfen, als ihr Ehemann gestorben ist. Aber ein solches Verhalten kann man auch als bloße Freundlichkeit interpretieren.« Sawyer sah Nick an. »Vor zehn Jahren hat er Nick für einen Bruchteil ihres wahren Wertes, das möchte ich betonen, einige Kühe aus der Granger-Herde zur Verfügung gestellt, damit Nick seine eigene Zucht aufbauen konnte. Gleichzeitig hat er ihm einen langfristigen Mietvertrag zu ebenfalls lächerlichen Konditionen für die Bull Flat Ranch samt Land gewährt. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass dies ebenfalls nur als Großzügigkeit ausgelegt werden kann. Ihr Bruder war ein großzügiger Mann.«
Shellys Blick glitt von Marias abgewandtem Gesicht zu Nicks angespannter Miene und dann wieder zurück zu dem Anwalt. Hier ging etwas Merkwürdiges vor, aber sie konnte es einfach nicht fassen. Sie würde später die Wahrheit aus Maria herausbekommen. Jetzt jedoch wiederholte sie nur dickköpfig: »Falls Nick Joshs Sohn ist, hat er das Recht auf seinen Anteil am Familienbesitz.«
»Da stoßen wir schon wieder auf das entscheidende Wörtchen >falls<. Wie ich bereits erwähnte, basiert diese angebliche Verwandtschaft ausschließlich auf Nicks unbewiesener Behauptung.«
»Und was ist mit einem DNA-Test?« Shelly zögerte. Ihre Kenntnisse von diesen Tests waren spärlich. Immerhin wusste sie, dass ihre DNA zwar eine Verwandtschaft zwischen ihr und Nick beweisen konnte, nicht aber, dass Josh Nicks Vater war. Sie erinnerte sich vage an einen Bericht aus einem Magazin, den sie vor einigen Jahren gelesen hatte. Darin ging es um eine Kontroverse zwischen Thomas Jefferson und Sally Hemmings. Man hatte zwar anhand der DNA beweisen können, dass die Nachfahren der Hemmings von jemandem aus der Jefferson-Familie gezeugt worden waren, aber ein schlüssiger Beweis, dass tatsächlich Thomas Jefferson ihr direkter Vorfahr war, konnte nicht erbracht werden. Und zwar weil Thomas Jefferson keine Söhne hinterlassen hatte. Dann begriff Shelly plötzlich. »Deshalb hat Josh darauf bestanden, eingeäschert zu werden.« Und dann sagte sie etwas, von dem sie nie geglaubt hatte, dass sie es über ihren Bruder sagen würde. »Was für ein durchtriebener Mistkerl!«
»Finden Sie nicht, dass Sie ein wenig überreagieren?«, fragte Sawyer scharf. »Sie ziehen voreilige Schlüsse. Vergessen Sie nicht, dass Josh schon immer eingeäschert werden wollte. Dazu hat er sich nicht erst kürzlich entschlossen. Und bislang stützt nur Nicks Behauptung, dass diese Verwandtschaft überhaupt existiert. Wollen Sie alles, was Sie von Ihrem Bruder wissen, einfach so über Bord werfen, aufgrund der Behauptung eines jungen Mannes, den Sie nicht einmal besonders gut kennen?«
Shelly schaute zwischen den angespannten Gesichtern der beiden Männer hin und her. Vor fünf Minuten war sie noch bereit gewesen zu glauben, dass Nick Joshs Sohn war. Hatte sie es einfach nur glauben wollen? Wollte sie eine physische Erinnerung von Josh in dieser Welt? War es möglich, dass Nick tatsächlich auf ihre augenblickliche Verletzlichkeit abzielte und in Wahrheit versuchte, ein Vermögen in die Hände zu bekommen? Sie war siebzehn Jahre lang fort gewesen, und sie war erst achtzehn gewesen, als sie weggegangen war. Was wusste sie wirklich über Nick oder von seiner Mutter?
Shelly brummte der Schädel, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Himmel! Sie wollte sich jetzt nicht damit auseinander setzen. Vielleicht hatte Sawyer ja Recht. Vielleicht waren ihre Schlussfolgerungen tatsächlich übereilt. Sie betrachtete Nick. Gut, er hatte grüne Augen, und Shelly glaubte auch, eine gewisse Familienähnlichkeit in seinen Gesichtszügen zu entdecken. Aber vielleicht irrte sie sich ja doch. Nick wäre nicht der Erste, der bei der Aussicht, einen Haufen Geld in die Finger zu bekommen, gierig wurde.
Sie trat einen Schritt zurück. »Im Moment«, sagte sie leise, ohne jemanden anzusehen, »weiß ich nicht einmal, ob ich meinen Bruder wirklich gekannt habe.«
Shelly lag auf dem Bett in ihrem Zimmer und versuchte, die Gedanken an den hässlichen Ausklang dieses Tages zu verdrängen. Sie wollte nicht wahrhaben, dass Nick möglicherweise nur behauptet hatte, er wäre Joshs Sohn, um sich ein Stück von dem großen Kuchen des Granger-Vermögens abzuschneiden. Zögernd gestand Shelly sich ein, dass sie um Nicks willen daran festhielt, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Es überraschte sie selbst, wie wichtig es ihr war, dass Nick tatsächlich der Sohn ihres Bruders und damit ihr Neffe wäre. Dennoch konnte sie Sawyers Einwände nicht so einfach übergehen. Es fiel ihr genauso schwer, das Bild des Mannes, den Nick seinen Vater nannte, mit ihrem großzügigen, offenen, liebevollen Bruder in Einklang zu bringen, den sie schon ihr ganzes Leben lang kannte. Wenn Nick wirklich sein Sohn war, warum hatte Josh es ihr dann nicht gesagt? Natürlich nicht damals, als sie noch ein Kind gewesen war, aber später, als sie älter geworden war. Welchen Grund hatte er, es zu verschweigen? Schämte er sich und wollte nicht, dass sie schlecht über ihn dachte? Vielleicht.
Etwas anderes bereitete ihr noch mehr Kummer. Wenn Nick wirklich Joshs Sohn war, hätte dann nicht irgendwann Joshs Liebe zu ihm oder sein Stolz ihn bewegen müssen, die Vaterschaft anzuerkennen, selbst wenn sie illegitim war? Shelly seufzte und verglich alles, was sie über ihren Bruder wusste, mit dem, was Nick behauptet hatte. Doch anhand der wenigen Fakten, über die sie verfügte, konnte sie nur sagen, dass Josh Nick immer distanziert begegnet war. Er behandelte Nick immer nur wie Marias Kind und benahm sich selbst wie der sorgende Arbeitgeber. Nick hatte selbst gesagt, dass Josh niemals die Wahrheit zugegeben hatte. Und zwar vor niemandem, nicht einmal vor seinem Anwalt. Sawyer hatte Recht, auch wenn Shelly das nicht gern zugab. Die geleasten Kühe und das verpachtete Land konnten sehr wohl als Großzügigkeit eines einsamen Mannes ausgelegt werden, der keine eigenen Kinder hatte.
Shelly drehte sich im Kreis, und außerdem nagte Marias Zurückhaltung an ihr. Warum hatte Nicks Mutter ihren Sohn nicht unterstützt? Wusste Maria, dass er einen gewaltigen Schwindel aufzog? Wollte sie ihn nicht bloßstellen, besaß jedoch andererseits nicht genug Mut, um seine Behauptung zu decken? Shelly suchte vergeblich nach Antworten, bis sie schließlich in einen unruhigen Schlaf sank. Sie wusste nicht, wie lange sie gedöst hatte, als sie plötzlich von einem Geräusch aufgeschreckt wurde. Müde schaute sie sich in dem Zimmer um. Es war schon dunkel geworden.
Sie blieb benommen liegen und versuchte, den Schlaf abzuschütteln, als es an die Tür klopfte. Hastig richtete sich Shelly auf und tastete nach der Lampe auf ihrem Nachttisch. Das gedämpfte Licht bildete einen gelblichen Kegel neben dem Bett und vertrieb die Schatten. Jetzt wirkte das Zimmer heimelig.
Sie saß auf dem Bettrand und gähnte. Wieder klopfte es an der Tür, diesmal hartnäckiger.
Shelly rieb sich die Stirn. »Wer ist da?«
»Nick. Darf ich reinkommen?«
Sie zögerte. »Sicher«, sagte sie dann. »Es ist nicht abgeschlossen.«
Nick schob sich durch die Tür. Er balancierte ein Tablett in einer Hand, kam zu ihr ans Bett und stellte das Tablett davor auf den Boden. Dann zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich.
Als Shelly sah, was auf dem Tablett stand, musste sie unwillkürlich lächeln. Oreokekse, eine Milchtüte und zwei große Gläser.
Sie nahm einen der großen Kekse und biss ein Stück ab. Dann schaute sie Nick an. »Hat Maria dir verraten, dass das meine Lieblingskekse sind?«
Nick lächelte unsicher. »Nein. Ich konnte mich noch daran erinnern.« Sein Lächeln erlosch. »Ich wollte mich für heute Nachmittag entschuldigen«, sagte er. »In einem Punkt hatte Sawyer Recht: Mein Timing ist wirklich mies. Ich hätte warten und dir etwas Zeit geben sollen, dich einzugewöhnen, bevor ich den Mund aufmache. Entschuldige.«
Shelly goss Milch in beide Gläser und schob ihm eines hin. Dann deutete sie auf die Kekse und sagte mit vollem Mund: »Lang ruhig zu.«
Sie aßen und tranken, das Schweigen zwischen ihnen war angenehm und freundlich. Shelly erinnerte sich daran, wie sie früher das Gleiche getan hatten: Sie hatten friedlich zusammengesessen, Kekse gegessen und Milch getrunken.
Einige Minuten später stellte sie ihr leeres Glas ab. »Es stimmt, dein Timing war nicht gerade glücklich, aber trotzdem verschwindet das Problem nicht so einfach.« Sie schaute ihm direkt in die Augen. »War Josh wirklich dein Vater?«
Nick zögerte und holte tief Luft. »Ja, das glaube ich«, sprudelte es dann aus ihm heraus. »Er hat es allerdings nie zugegeben, und Mom ...« Ratlos und sichtlich verletzt hielt er inne. »Sie will nicht darüber reden. Aber sie und Juan haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass Juan nicht mein Vater war. Auch wenn ich seinen Nachnamen trage.« Er seufzte und schaute auf den Teller mit den restlichen Keksen. »Immer, wenn ich meine Mutter nach meinem Vater ausgefragt habe, hat sie mich damit abgespeist, dass ich mir seinetwegen nicht den Kopf zerbrechen sollte. Wir hätten doch ein schönes Heim, und sie hätte einen angenehmen Job, wir bräuchten ihn nicht. Wir wären auch ohne ihn glücklich. Außerdem war sie mit Juan verheiratet. Als ich dann älter wurde und hartnäckiger nach meinem Vater fragte, habe ich wohl irgendwann ihre Erklärung akzeptiert und nicht weiter darüber nachgedacht.« Sein Blick richtete sich ins Leere. »Ich war so um die sechzehn, als sich das schlagartig änderte. Bis dahin hatte ich nie etwas an Josh auszusetzen gehabt. Er war gut zu Mom und hat sich nach Juans Tod auch um Raquel und mich gekümmert. Auf seine lockere, beiläufige Art. Dass da etwas sein könnte, habe ich nie vermutet, auch nicht zwischen den beiden.« Er verzog spöttisch die Lippen. »Ich muss allerdings zugegeben, dass ich mir nach Juans Tod schon manchmal ausgemalt habe, wie toll es wäre, wenn Mom etwas mit Mr Granger hätte. Aber ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass dein Bruder mein Vater sein könnte.«
»Wie hast du es denn herausgefunden?«, nuschelte Shelly mit einem Keks im Mund.
»Durch so einen Klugscheißer in der Schule beim Footballtraining. Ich weiß nicht mehr, wie genau es passiert ist, aber plötzlich hatten wir uns in der Wolle.« Er grinste. »Vermutlich lag es an unserem Testosteronüberschuss. Ich hätte jedenfalls beinah die Sch... entschuldige, den Kerl windelweich geprügelt, bis seine Freunde sich einmischten. Natürlich haben meine Kumpel dann auch mitgemischt.« Seine Augen glänzten bei der Erinnerung daran. »Schließlich haben uns die Trainer auseinander gezerrt. Sie haben uns die Leviten gelesen, und drei oder vier von uns wurden für das nächste Spiel auf die Reservebank verbannt. Nachdem wir wieder abgekühlt waren, fanden wir, dass wir noch mal glimpflich davongekommen waren. Sie hätten uns auch für die ganze Saison sperren können.«
Shelly sah ihn ungläubig an. »In St. Galen’s? Wohl kaum. Die High School hat doch nur mit Ach und Krach ein komplettes Footballteam zusammenbekommen.«
Nick lächelte. »Da hast du wohl Recht. Jedenfalls hat Jim Hardcastle, das war der Kerl, mit dem ich mich geprügelt hatte, angefangen, herumzujammern und sich zu beschweren. Er war ein richtiger Unruhestifter, und der Trainer meinte, er würde für ihn eine Ausnahme machen: Er hat ihn für zwei Spiele gesperrt. Dann ist Hardcastle wirklich ausgelastet. Er schrie, dass es nicht fair wäre. Ich hätte schließlich angefangen, und ich wäre nur ein mexikanisches Halbblut, und man hätte mich längst aus dem Team geworfen, wenn mein Vater nicht Josh Granger wäre.«
Shelly wollte sich gerade Milch einschenken und hielt jetzt mitten in der Bewegung inne. »Wow! Das muss ein mächtiger Schock gewesen sein!«
»Das ist- noch gelinde ausgedrückt«, erwiderte Nick. »Ich habe mich auf Hardcastle gestürzt und ihm eins auf die Nase gegeben, weil er meine Mutter beleidigt hatte.« Er zuckte mit den Schultern. »Natürlich sind die Erwachsenen sofort dazwischen gegangen, und ich wurde verdonnert, die nächsten drei Spiele auf der Bank zu schmoren. In dem Fall war das fast bis zum Ende der Saison. Außerdem wurde ich auf der Stelle nach Hause geschickt. Ich durfte nicht mal zu Ende trainieren.«
»Das klingt ja fast so, als hätte dir diese Strafe noch mehr zugesetzt, als die Wahrheit über deine Mom und Josh zu erfahren.«
Nick lächelte. »In gewisser Weise war das auch so. Ich hasste es, untätig auf der Bank herumzusitzen! Und was das andere angeht ... Ich habe Hardcastle sowieso nicht geglaubt. Er war ein Mistkerl und eine Nervensäge. Doch dann bin ich nach Hause gekommen, in die Küche gegangen ...« Er zwinkerte Shelly zu. »... und habe mir den Bauch mit Oreos und Milch voll geschlagen. Ich habe Mom erzählt, was für ein Blödmann dieser Hardcastle wäre, und wie er wohl auf den Gedanken käme, jemand würde ihm solch eine verdammte Lüge glauben ...« Er schüttelte den Kopf. »Ein Blick in ihr Gesicht genügte, und mir ist der Magen fast bis in die Kniekehlen gerutscht.«
Shelly hörte auf zu kauen und schaute Nick mitfühlend an. »Das muss wirklich schwer gewesen sein. Was hast du dann gemacht?«
»Ich habe sie natürlich sofort gelöchert, aber ich habe damals genauso wenig herausbekommen wie heute.« Trostlos schaute er zur Seite. Dann bemerkte er Shellys mitfühlenden Blick, und es sprudelte nur so aus ihm heraus. »Ich kann dir nur mein Wort darauf geben. Mom will einfach nicht darüber reden. Wenn ich sie heute unter Druck setze, fängt sie an zu weinen und sagt, sie hätte es versprochen. Sie hätte geschworen, niemandem zu verraten, wer mein Vater ist. Und ihre Tränen machen mir wirklich zu schaffen. Sie bricht fast immer in Tränen aus. Auch an diesem ersten Tag hat sie sehr viel geweint.« Nick senkte den Blick, und die Muskeln in seiner Wange zuckten. »Ich hatte meine Mom vorher noch nie weinen sehen, das hat mich damals sehr erschüttert. Ich war so wütend ...« Er lächelte selbstironisch. » ... wie es nur ein sechzehnjähriger Halbwüchsiger sein kann. Nicht auf sie«, fuhr er rasch fort. »Auf sie war ich nie wütend. Aber ich konnte die ganze Situation nicht ertragen und war wütend, dass die beiden mir die Wahrheit vorenthalten hatten. Außerdem habe ich es ihnen sehr übel genommen, dass ich es auf diese Art und Weise herausfinden musste.«
Shelly schüttelte den Kopf. »Wie ich Oak Valley kenne, hätte ihnen eigentlich klar sein müssen, dass früher oder später jemand eins und eins zusammenzählen würde. Sie hätten es dir sagen müssen. Es war grausam und unüberlegt, es nicht zu tun. Sie hätten wissen müssen, dass du es irgendwann herausfinden würdest. Oder haben sie etwa gehofft, dass du es nie erfahren würdest?«
Nick zuckte mit den Schultern. »Frag mich nicht. Mom schweigt eisern und sagt nur, dass deine Familie immer gut zu uns gewesen ist und sie unterstützt hat, als sie Hilfe brauchte. Ganz offensichtlich hat sie nie mehr erwartet als das, was sie bekommen hat. Sie war damit zufrieden. Und das geht mir wirklich an die Nieren.« Sein Blick wurde härter. »Deine Mutter hat Mom sogar Geld gegeben, damit sie nach Mexiko fahren konnte ... Sie blieb dort.«
Shelly schüttelte den Kopf. »Das sieht Mutter ähnlich. Ihr Ansehen im Tal ging ihr über alles. Sie duldete nichts, was den Namen Granger hätte beschmutzen können.« Sie runzelte die Stirn. »Was ist dann passiert? Deine Mom sollte nie wiederkommen, aber sie ist ja trotzdem zurückgekehrt.«
»Ja, das ist sie.« Hastig setzte Nick hinzu: »Aber nicht, weil sie mehr Geld wollte.«
»Das habe ich auch nicht angenommen. Warum ist sie zurückgekehrt?«
Nick fuhr sich achtlos durch sein dunkles Haar. »Du weißt es vermutlich nicht, aber Moms Vater ist in Mexiko gestorben, als sie noch ein Kind war. Er hat seine Familie in völliger Armut zurückgelassen. Mom hat mir einmal erzählt, dass sie nach dem Tod ihres Vaters plötzlich auf der Straße leben mussten. Jedenfalls hat Abuela Ynez, meine Großmutter mütterlicherseits, an ihren Bruder geschrieben, Tio Abuelo Oliverio. Er war hierher ausgewandert und hat für ...« Er warf Shelly einen kurzen Seitenblick zu. »... die Ballingers gearbeitet. Als er Abuela Ynez’ Brief bekam, hat er kurzerhand die ganze Familie hergeholt und ihnen geholfen, in Oak Valley Arbeit zu finden.« Er sah Shelly an. »Meine Mutter war hier zu Hause. Sie hat seit ihrem elften Lebensjahr hier gewohnt. Sie ist hier aufgewachsen und hatte sogar die amerikanische Staatsbürgerschaft. Abuela Ynez, ihr Onkel, ihre Schwestern und ein Bruder lebten in den Vereinigten Staaten. In Mexiko hatte Mom nur Cousins oder noch weiter entfernte Verwandte. Sie war sehr einsam. Als ich etwa sechs Monate alt gewesen bin, konnte sie es nicht mehr ertragen und ist nach Hause zurückgekommen. Zu Abuela Ynez, nicht zu den Grangers.«
Shelly nickte. »Den Rest kann ich mir denken. Josh oder meine Eltern haben herausgefunden, dass Maria wieder hier war. Vermutlich dachten sie, es würde weniger Gerede geben, wenn Maria für sie arbeitete, als wenn sie so täten, als würden sie deine Mom nicht kennen.«
Nick nickte. »Mom hat allerdings nie etwas gesagt. Sie kann sehr ausweichend sein, wenn sie über etwas nicht reden will. Aber ich vermute, es ist etwa so gelaufen.«
Shelly sah ihn neugierig an. »Redet sie denn gar nicht darüber?«
»Kein Wort. Du hast sie ja heute erlebt. Sie rückt nicht einmal mit der Wahrheit heraus, um mir zu helfen. Sie weigert sich schlichtweg, ihr Wort zu brechen. Wenn es nach ihr ginge, würden wir alle so tun, als wäre es nie passiert. Sie hasst es, wenn ich das Thema anschneide.« Er lächelte Shelly an. »Heute Nachmittag auf dem Heimweg hat sie mich fast in Stücke gerissen.«
»Ich frage mich nur, wie sie mit der Situation hier zurechtgekommen ist. Ich habe jedenfalls nie Verdacht geschöpft.«
»Wie denn auch? Du warst wie Raquel und ich noch ein Kind. Und als du so alt warst, dass du vielleicht etwas hättest merken oder peinliche Fragen stellen können, warst du weg. Schon vergessen?«
Shelly lächelte. »Keineswegs.« Sie nahm sich noch einen Keks und biss ein Stück ab. »Hast du je versucht, Josh zur Rede zu stellen?«
Nick holte tief Luft. »O ja. Er hat mich nur angesehen und erwidert, es wäre schade, dass ich auf den Tratsch der Leute reinfiele.« Nick grinste. »Ich habe ein bisschen gelogen und ihm erzählt, dass Mom es zugegeben hätte. Da setzte er dann diesen ›Ich rieche den Braten‹-Ausdruck auf und erwiderte, man könnte ihn schließlich nicht für das verantwortlich machen, was seine Haushälterin ihrem Sohn auf die Nase binden würde.«
Shelly sah ihn bestürzt an. »Das hat er wirklich gesagt?«
Nick biss von seinem Keks ab und nickte. »Allerdings. Ich muss es wissen, ich war schließlich dabei. Himmel! Wie habe ich ihn in diesem Moment gehasst! Am liebsten hätte ich ihn niedergeschlagen. Nicht, weil er mich nicht anerkannte, sondern weil er meine Mom so erniedrigte. Seine >Haushälterin<. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass wir beide danach nicht mehr allzu viele freundliche ›Vater und Sohn‹-Gespräche geführt haben.«
»Das kann ich mir denken.«
Sie schwiegen und aßen die letzten Kekse. »Glaubst du mir?«, fragte Nick schließlich ruhig. »Ich habe leider nicht viele Beweise.« Er lachte bitter. »Eigentlich habe ich gar keine. Nur eine Menge Tratsch, ein Gefühl im Bauch und grüne Augen. Und einen Vater, dessen Namen mir nicht einmal meine eigene Mutter verraten will.«
Shelly seufzte und legte ihren angebissenen Keks weg. »Ich kann kaum glauben, dass Josh so hartherzig und berechnend gewesen sein soll, aber trotzdem ...« Sie musterte Nicks schmales, markantes Gesicht. Einen Augenblick lang beschlich sie das verwirrende Gefühl, als würde Josh zurückstarren. Sie zwinkerte, die Ähnlichkeit verschwand, und dann saß ihr wieder nur Nick gegenüber.
Konnte sie ihm glauben? Es war eine fantastische Geschichte, die allem widersprach, was sie über ihren Bruder wusste. Aber irgendwie möchte Shelly sie nicht einfach von der Hand weisen. Es war keineswegs unmöglich, dass die junge, hübsche Maria dem Charme des damals zwanzigjährigen Josh erlegen war. Sie hatten damals sehr isoliert gelebt. Es gab keine unmittelbaren Nachbarn. Die nächsten waren fünf Minuten Fahrt über eine kurvige, von Wald und Buschwerk gesäumte Straße entfernt. Sie mussten viel Zeit hier im Haus verbracht haben, nachdem Josh vom College zurückgekommen war. Es trennten sie zwar Welten, sowohl gesellschaftlich als auch finanziell, aber Maria war im Haus und greifbar, Tag und Nacht ... Shelly rümpfte die Nase. Diese ganze Angelegenheit war wirklich sehr unappetitlich. Und sie erinnerte Shelly unangenehm an die alte Hierarchie zwischen Herren und Sklaven, die im Süden geherrscht hatte. Und an das Vorrecht des Herrn aus dem alten Frankreich. Hatte Josh es etwa als sein Recht betrachtet, mit Maria zu schlafen? Shelly dachte über ihren Bruder nach. Seine Gleichgültigkeit denen gegenüber, deren soziale Stellung er für geringer hielt als seine eigene, war ihr immer schon aufgefallen, aber sie hatte dem nie viel Bedeutung beigemessen. Josh war nicht grausam. Er war einfach nur ... Josh glaubte, er stehe über der breiten Masse. Schließlich war er ein Granger. Und nicht irgendein Granger, sondern ein Granger aus Oak Valley. Shelly musste zugeben, dass dies eine seiner weniger anziehenden Charaktereigenschaften gewesen war. Aber zu denen, die er mochte, war er immer so liebevoll und großzügig, dass man das andere gern übersah. Und es vergaß.
Sie zuckte heftig zusammen, als Nick ihren Arm berührte. »Raquel hat Recht. Ich bin manchmal wirklich taktlos«, sagte er. »Ich bin nur hergekommen, um mich zu entschuldigen, das ist alles, ehrlich. Ich wollte nicht diesen ganzen alten Müll über dich auskippen.« Er lächelte bitter. »Aber anscheinend kann ich nicht anders. Es frisst mich innerlich auf, kannst du dir das vorstellen? Es geht nicht um den Grundbesitz. Zum Teufel damit! Es ist das Wissen, dass er es nie über sich gebracht hat, mich als seinen Sohn anzuerkennen. Dabei bin ich gar nicht scharf auf den Namen Granger. Ich heiße schon so lange, wie ich denken kann, Rios. Warum sollte ich das ändern? Aber seine Anerkennung hätte ich verdient gehabt.« Er verzog verbittert die Lippen. »Er hat all die Jahre mit mir unter einem Dach gelebt und ist kein einziges Mal von seinem gottverdammten hohen Ross heruntergestiegen und hat mich anerkannt. Das hätte er für mich tun können. Wenn auch nur unter vier Augen. Ich wollte es. Und ich brauche die Bestätigung, dass ich sein Sohn bin. Zum Teufel mit allem anderen.« Nick wartete eine Sekunde und fragte dann gespannt: »Glaubst du mir?«
Shelly spürte einen Stich im Herzen, als sie die unverhüllte Sehnsucht in Nicks Miene erkannte. Es war so wichtig für ihn, dass sie ihm glaubte, und ihr Instinkt sagte ihr, dass er die Wahrheit sprach. Aber ihr Instinkt hatte schon einmal geirrt. Sawyers Warnung schoss ihr durch den Kopf, und sie presste die Lippen zusammen. Himmel! Das gefiel ihr gar nicht. Warum waren diese Dinge nicht klar und einfach? Keine Zweifel, keine Fragen. Vertraute sie Nick?
Shellys Blick fiel auf den leeren Keksteller, und plötzlich schoss ihr eine Erinnerung durch den Kopf. Sie musste etwa dreizehn gewesen sein und Nick neun. Es war Juni, und ihre Mutter veranstaltete ihre alljährliche Teeparty. Diese Party war Dekaden zuvor von Shellys Urgroßmutter ins Leben gerufen worden. Shelly rümpfte die Nase. Der Zweck dieser Veranstaltung war, den Ballingers eins auszuwischen, wenn sie sich recht erinnerte. Natürlich waren die Ballingers und deren Freunde ausdrücklich nicht eingeladen. Die jährliche Granger-Teeparty war zu einer Tradition im Tal geworden und zu dem gesellschaftlichen Höhepunkt der »Saison« von St. Galen’s.
Sie fand immer am ersten Samstag im Juni statt, und Shelly erinnerte sich noch an die langen Tische, die unter den Eichen aufgebaut worden waren und auf denen delikate Sandwiches und köstliches Gebäck angerichtet waren. Über den weitläufigen Rasen verstreut standen Tische und Stühle im Schatten bunter Schirme. Die Ladies von St. Galen’s, die vermutlich zum ersten Mal seit der letzten Teeparty wieder ihre Nylons und Kleider trugen, tratschten und lachten und genossen die elegante Umgebung. Eine Weile vergaßen die Leute das Wetter, die Heuernte, die Rinder- oder Schafpreise, die Rückschläge oder Triumphe beim Kalben oder bei der Lammsaison oder wie viel Klafter Holz sie eingefahren hatten. Ebenso wie die alltäglichen Sorgen, die mit der Viehzucht und der Holzverarbeitung einhergingen.
In diesem Jahr hatte Nick wie die meisten Neunjährigen seine Leidenschaft für Milchschlangen entdeckt. Er hatte bisher zwei gefangen und verwahrte die kleinen, schwarz-weiß gestreiften Schlangen in einem alten Aquarium, das Josh irgendwo für ihn ausgegraben und mit ihm zusammen in der Scheune aufgebaut hatte. Beinahe jeden Samstagmorgen begab sich Nick mit einem großen, leeren Glas auf Schlangensuche. Fast immer kehrte er mit leeren Händen zurück.
Die Erwachsenen waren mit den Vorbereitungen für das Fest beschäftigt, und Shelly erinnerte sich, dass man ihr und Nick eingeschärft hatte, sich ja zu benehmen und niemandem in die Quere zu kommen. Nick war nur allzu gern auf die Jagd nach Schlangen gegangen. Shelly dagegen stand weit über einem solchen kindlichen Vergnügen, seit sie Teenager geworden war. Sie lag faul in einer Hängematte und steckte ihre Nase in ein Jugendmagazin.
Die Teeparty war in vollem Gang, als Nick sich an Shelly heranschlich und ihr ein Gurkenglas mit drei sich windenden Schlangen unter die Nase hielt. Shelly schrie vor Schreck, schleuderte das Magazin hoch in die Luft und fiel aus der Hängematte.
Nick lachte, hielt ihr das Glas wieder vors Gesicht und die Jagd ging los. Kreischend, als hätte sie noch nie zuvor eine Milchschlange gesehen, rannte Shelly zum Haus, Nick dicht auf ihren Fersen. Es war natürlich nur ein Spiel. Und es bot einen wunderbaren Vorwand, herumzurennen, sich die Seele aus dem Leib zu schreien und etwas von dem jugendlichen Übermut loszuwerden.
Shelly hatte die Teeparty völlig vergessen, und ihre langen dünnen Beine glänzten im Sonnenlicht, als sie mitten in die elegante, jährliche Veranstaltung ihrer Mutter platzte. Bevor man sie entdeckte, sprang sie zur Seite und lief um die Gäste herum. Sie versteckte sich hinter einer der großen Eichen und wartete auf Nick, damit die Jagd weitergehen konnte. Es kam ihr nicht in den Sinn, dass Nick sich vielleicht nicht so rasch verstecken könnte.
Er war völlig in ihre Jagd vertieft und preschte mitten in die Menschentraube. Er landete ausgerechnet vor Mrs Matthews, der Grundschulbibliothekarin. Mrs Matthews war eine große, massige und unverschämte Frau und nicht gerade Nicks Liebling. Er war in diesem Schuljahr mehr als einmal von ihr zum Direktor geschickt worden. Als er jetzt voller Entsetzen begriff, dass er mitten in Senora Grangers Party geplatzt war, wollte er augenblicklich weglaufen, aber Mrs Matthews hielt ihn fest.
»Guten Tag, Nick«, rief Mrs Matthews mit ihrer dröhnenden Stimme. »Wie schön, dass du deiner. Mutter zur Hand gehst.« Sie lächelte ihn herablassend an. »Was tischst du uns denn Gutes auf?«
Er hätte es nicht tun sollen. Das war ihm völlig klar. Aber ihn ritt der Teufel, und er hielt ihr das Glas mit den Schlangen direkt unter die Nase. »Schlangen!«, erwiderte er begeistert. Ihre Reaktion übertraf selbst seine kühnsten Träume.
Mrs Matthews’ Gesicht verzerrte sich zu einer Maske des Schreckens. Sie stieß ein Brüllen aus, das den Boden erbeben ließ. Dabei stolperte sie blindlings zurück und rammte einen der mit Punsch und Kuchen beladenen Tische. Sie verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen und versuchte unbeholfen, auf den Beinen zu bleiben. Vergebliche Liebesmüh! Der Tisch, der Kuchen, der Punsch und Mrs Matthews landeten mit einem Donnerknall auf dem Boden. Die Gespräche endeten abrupt, und eine unheilvolle Ruhe legte sich über die Teeparty.
Nick stand von Entsetzen wie gelähmt da, presste das Glas mit den Schlangen an seine schmächtige Brust und starrte auf das Fiasko vor sich. Er war erledigt!
Als Senora Granger auf ihn zuschritt, schien ihre Miene das nur zu bestätigen. Obwohl Nick einen winzigen Moment den Eindruck hatte, dass ihre Lippen zuckten. Sie schickte ihn auf der Stelle auf sein Zimmer. Er hatte Stubenarrest, das Abendessen war gestrichen. Schlimmer noch, er würde seine Schlangensammlung verlieren. Er war in schreckliche Ungnade gefallen.
Und doch, dachte Shelly jetzt, als sie das Gesicht des erwachsenen Nick musterte, hatte er kein einziges Mal ihre Rolle in diesem Desaster erwähnt. Geschweige denn versucht, ihr die Schuld in die Schuhe zu schieben. Sie war zu feige gewesen, vorzutreten und sich ebenfalls ihre Strafe abzuholen. Feigheit scheint tatsächlich eine deiner hervorragendsten Charaktereigenschaften zu sein, dachte Shelly selbstkritisch. Aber damit ist jetzt Schluss!
Shellys Blick glitt unwillkürlich zu dem leeren Keksteller. In dieser Nacht hatte sie sich, nachdem alle anderen zu Bett gegangen waren, mit einem Teller Oreokeksen und zwei Litern Milch in Nicks Zimmer geschlichen. Es lag im anderen Flügel des Hauses. Sie hatten schweigend Kekse gegessen und Milch getrunken und kein Wort miteinander gewechselt. Nick hatte ihr Friedensangebot akzeptiert.
Er hat mich damals nicht verraten, dachte Shelly, obwohl es ganz leicht gewesen wäre. Die meisten anderen Kinder hätten bestimmt gepetzt. Auch wenn das Verhalten eines Neunjährigen kein ernstlicher Test für den Charakter des Erwachsenen sein konnte, genügte es Shelly.
Sie nickte. »Ja, ich glaube dir.«
Nick stieß die Luft aus. »Danke, das habe ich gebraucht.«
Sie lächelten sich an. Nick stibitzte den letzten Keks vom Teller und biss ein großes Stück davon ab. »Also«, fragte er kauend. »Was sollen wir jetzt unternehmen?«