Читать книгу Sommer auf Französisch - Sibylle Baillon - Страница 5
Prolog
ОглавлениеMärz – Hyères – Frankreich
„Du in Gefahr“, sagte sie und schaute den jungen Mann bedeutungsschwer an. Dieser runzelte nur unwillig die Stirn und entzog ihr seine Hand, die sie sich kurz zuvor geangelt hatte, ohne ihn vorher um Erlaubnis gefragt zu haben, so wie sie es immer hielt. Seine stahlblauen Augen blickten sie prüfend an. Er wusste es, schoss es ihr durch den Kopf.
„Ja, ja, ich bin in Gefahr und morgen fällt mir der Himmel auf den Kopf, der Weltuntergang wird kommen und uns alle in ein schwarzes, tiefes Loch aufsaugen.“ Er wusste es, aber er verleugnete es auch ...
Sie hob stolz das Kinn an. Ihr rechter Mundwinkel schnellte in die Höhe, und sie schaute ihn teils belustigt, teils tadelnd an, wie eine Mutter ihren Sohn, der sich über die Warnungen seiner Alten lustig machte, anstatt sie ernst zu nehmen. Hatte hergemusst sie
„Sarkasmus nicht gut sein“, sagte sie ruhig, „denn nichts ändern an Tatsachen.“
Schnaubend stemmte er die Hände in die Hüften, warf einen kurzen Blick um sich herum und schaute sie schließlich genervt an.
„Was für Tatsachen?“
Er schien sich zu ärgern, weil sie ihn neugierig gemacht hatte, oder weil er wusste, dass sie recht hatte. So erging es vielen, die sie in ihr Netz lockte, und sie spürte, dass sie ihn genau da hatte, wo sie ihn haben wollte. Fast ein wenig schadenfroh zupfte sie an ihrem langen Rock herum und hob die Augenbrauen in die Höhe; es ließ ihre ohnehin schon geheimnisumwitterte Erscheinung noch mysteriöser wirken, das wusste sie.
„Ich sehe Wasser, viel Wasser ...“
„Ja, wir leben am Meer, das ist also normal.“ Er verschränkte die Hände vor der Brust und schüttelte missmutig den Kopf. Ein Hauch seines teuren Aftershaves wehte zu ihr hinüber.
„Nein, das Wasser, das ich sagen, nicht normal.“
„Sie meinen die Überschwemmungen?“ Seine Gesichtsfarbe änderte sich. „Wird es wieder eine geben?“ An seinem Hals konnte sie die Ader erkennen, die plötzlich schneller pulsierte.
„Nein, ich meinen die alte ...“
„Ach so“, sagte er und es klang erleichtert. Auch die Farbe kehrte allmählich wieder in sein Gesicht zurück. „Das grenzt an Betrug, wenn Sie mich vor Umständen warnen, die der Vergangenheit angehören“, sagte er und runzelte die Stirn.
„Nein, Wasser nicht Vergangenheit. Es dich verfolgen, dich überschwemmen. Du in Gefahr.“
Jetzt schien er zu verstehen. Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. „Du Dich in Schwierigkeiten bringen, große Schwierigkeiten, wenn Hilfe annehmen. Keine Hilfe annehmen, ja?“
„Hmm“, sagte er, „ich wüsste nicht, von wem ich diese zu erwarten hätte. Aber trotzdem vielen Dank für die Warnung. Versprochen, ich werde sie mir zu Herzen nehmen und sie nicht vergessen. Hier -“, sagte der junge Mann und drückte ihr einen Zehn-Euro-Schein in die Hand. Er meinte nicht wirklich, was er sagte, aber das war sie gewohnt. Manchmal kamen die Menschen erst Jahre später wieder zu ihr, um ihr zu sagen, dass sie mit ihren Vorhersagen richtig gelegen hatte. Auch er würde zurückkommen ...
„Jetzt muss ich aber los, denn wenn ich hier noch länger herumlungere, wird Ihre Vorhersage noch wahr, nur weil ich Wahrsagungen lausche, anstatt zu arbeiten.“
Er grinste und sie lächelte ihn nachsichtig an. Doch hinter der Fassade des selbstsicheren, jovialen Burschen erkannte sie die Wahrheit. Durch seine blauen Augen konnte sie in seine Seele schauen. Er war einsam. So einsam wie nur jemand sein konnte, der unter Bergen von Problemen versank, sie aber mit niemandem teilen konnte oder wollte. Einsam wie es nur ein Geschäftsmann sein konnte, der davon überzeugt war, dass sowieso niemand seine Sorgen verstehen könne, was auch oft stimmte, denn von außen kann niemand wissen, wie es ist, Verantwortung zu tragen. Aber auch einsam wie jemand, der sich ein privates Vergnügen untersagte, aus Angst, es könne seine Konzentration beeinträchtigen und die klaren Gedanken vernebeln, die er so nötig brauchte.
„Danke, Junge“, sagte sie, „du gut. Auf dich aufpassen.“
Er nickte und eilte davon.
Seufzend schaute sie ihm hinterher. Hübscher Mann, dachte sie. Leider trug er eine schwere Last auf den Schultern, unsichtbares Gepäck, das Tonnen wiegen musste, und sie wollte um nichts in der Welt mit ihm tauschen. Aber sie hatte noch etwas anderes gesehen, etwas, was sie ihm absichtlich vorenthalten hatte. Auch ohne ihre Vorhersage würde es ihn noch früh genug von seinen geschäftlichen Anliegen ablenken ...
Zufrieden steckte sie den Schein in das Ledersäckchen, das sie unter dem Rock versteckt trug und rieb sich die Hände. Sie liebte ihre Visionen, aber noch mehr liebte sie den Gedanken, Menschen mit ihrer Gabe zu retten ...
*