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Kapitel 3 – Lia – Harte Arbeit

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„Hallo?“

„Hallo Mama, ich bin es Lia.“

„Lia?“ Die Mutter schien verwirrt. „Wo um alles in der Welt steckst du denn? Ich sehe eine französische Telefonnummer auf dem Display? Das kann doch nicht sein, oder?“ Die Stimme ihrer Mutter am anderen Ende der Leitung klang besorgt.

„Mach dir keine Sorgen, Mama, mir geht es gut. Ich bin in Frankreich!“

„Um Himmels willen, was tust du denn in Frankreich?“

„Ich brauchte mal eine Pause“, sagte Lia. Es hörte sich platt an. Erneut spürte sie die Zweifel. Übeltäter, die es liebten sie zu quälen und an ihr zu nagen wie Biber an einem Ast, bis er brach. Wenn sie in ihren Träumen schwelgte, schien alles so richtig. Doch sobald sie ihre Taten rechtfertigen sollte, hatte sie das Gefühl, dass es völlig unvernünftig war, was sie da tat, und ihre Überzeugung bröckelte.

„Eine Pause? Und deine Arbeit? Und Manfred?“

„Ich -“

Wie sollte sie ihrer Mutter erklären, dass der Mann, mit dem sie seit Jahren lebte, nicht der war, für den alle Welt ihn hielt. Sie kannten nur seine freundliche, joviale Facette.

„Ich habe unbezahlten Urlaub genommen-“

„Aber du kannst Manfred doch nicht einfach so sitzenlassen. Er ist krank und braucht deine Hilfe. Lia! Was ist nur in dich gefahren?“

„Mama, ich bin zu alt für Moralpredigten -“

„Nicht, wenn du dich wie eine Fünfzehnjährige verhältst!“

Lia rollte die Augen. Eigentlich hatte sie ihre Eltern nicht vor vollendete Tatsachen stellen wollen, war aber zu feige gewesen, um sich einem offenen Gespräch zu stellen. Sich den Fragen, die unweigerlich kommen würden, zu stellen und den vernünftigen Einwänden. Würde man im Leben überhaupt etwas wagen, wenn man immer nur auf die Stimme der Vernunft hörte?

Und überhaupt? Es war ihr Leben! Was wussten ihre Eltern schon davon, wie es in Lia aussah, wie ihr Leben mit Manfred aussah, und was sie sich alles im Namen seiner Krankheit gefallen lassen musste? Nichts! Wie auch? Lia behielt immer alles für sich. Seit ihrer Studienzeit hatte sie ihr Leben ohne die Hilfe ihrer Eltern gemeistert. Nicht immer zum Besten, nicht ohne Hindernisse und Enttäuschungen, aber ohne die Hilfe ihrer Erzeuger. Am liebsten hätte sie sich auch diesen Anruf erspart, doch kannte sie Manfred, der ihre Eltern mit Sicherheit angerufen hatte, um sich über sie zu beschweren. Und sie kannte ihre Mutter, um zu wissen, dass sich diese sehr viel Sorgen gemacht hatte.

„Mutti, alles ist in Ordnung, mach dir keine Sorgen, bitte. In ein paar Monaten komme ich wieder, und dann werde ich dir alles erklären, ja?“

„Aber Lia ...“

„Ich muss jetzt auflegen. Man erwartet mich schon“, log Lia.

Lia verabschiedete sich und hing ein.

Plötzlich fühlte sie sich unwohl. Hatte sie wirklich richtig gehandelt, als sie Manfred vor vollendete Tatsachen gestellt hatte? Alles war so schnell gegangen, so planlos, als hätte sie sich wie eine Ertrinkende auf einen Rettungsreif geworfen, ohne darüber nachzudenken, ob es auch wirklich einer war. Jetzt war sie gefangen. Gefangen in ihrem eigenen Vorhaben. Sie würde es zu Ende bringen müssen, ob es nun richtig war oder nicht, ob es ihr nun wirklich zusagte oder nicht, ob sie willkommen war oder nicht.

Alles hatte so einmalig geklungen, als sie die Reise geplant hatte. Nie hätte sie gedacht, so kalt empfangen zu werden. Auch wenn Tess freundlicher war als Joe, so schien auch sie auf Distanz zu bleiben und sprach nur das Nötigste mit ihr. Was für eine blödsinnige Idee hatte sie da doch gehabt, alleine ins Ausland zu reisen?

Herrje, Schluss mit dem Selbstmitleid, sagte eine kleine Stimme in ihrem Kopf. Reiße dich gefälligst zusammen und gebe dein Bestes. Du bist weder hierhergekommen, um dir Freunde zu machen, noch um dich zu verlieben. Du willst arbeiten, etwas erleben und dich behaupten. Wer hatte gesagt, dass es einfach werden würde? Sicher erwartete man sie schon an der Rezeption. Sie hatten ihr zwar zu verstehen gegeben, dass sie erst am nächsten Tag den Dienst antreten solle, doch würde es doch etwas merkwürdig aussehen, wenn sie den Tag in dem Zimmer verbringen würde.

Also raffte sie sich auf, nahm eine Dusche und zog sich etwas Passenderes an. Als sie in den beigen Bermudas und dem weißen frischen Hemd vor dem Spiegel stand, nickte sie zufrieden, schlüpfte in die schwarzen Ballerinen und verließ das Zimmer.

Fast hatte sie die Rezeption erreicht, als ihr ein Mann entgegenkam, der ein Pferd an der Leine führte. Wie Flynn war er groß gewachsen und breitschultrig. Doch das war auch alles, was ihn an den Chef denken ließ. Seine mittellangen Haare hatte er mit Gel nach hinten gekämmt. Sie waren im Nacken kurzgehalten, und eine rebellische Strähne fiel ihm vor die Augen. Unter dem Dreitagebart lagen kantige Wangenknochen und ein ebenso scharf geschnittenes Kinn. Seine zerfledderte mit Löchern und Rissen übersäte Jeans steckte in staubigen Sandiegos und obenherum trug er nur ein einfaches enganliegendes ärmelloses Unterhemd, das wohl seine braunen muskulösen Arme betonen sollte. Gelungen, dachte Lia und verkniff sich ein Schmunzeln.

Als er auf Lias Höhe ankam, hielt er kurz inne und musterte sie. Er roch nach Heu und Schweiß.

„Hi, bist du die Neue?“, fragte er schroff. Er sprach mit einem leichten Akzent, der nicht französisch wirkte. Fast wie ... ja, fast wie die Zigeunerin auf dem Markt, außer, dass er besser Deutsch sprach.

„Ja, Lia. Und Sie ... äh ... du bist?“

„Na endlich, du bist zu spät. Ich bin Jack. Pünktlichkeit ist hier sehr wichtig, das wirst hier du schnell lernen müssen, sonst bleibst du nicht lange.“

Lia lief rot an. Überrumpelt trat sie nervös von einem Bein aufs andere. Was hatte sie jetzt schon wieder angestellt? Hatte sie die Instruktionen falsch verstanden?

Hilfesuchend blickte sie zur Rezeption und entdeckte Flynn, der sie mit vor der Brust verschränkten Armen durch die Glasscheibe der Eingangstür zu beobachten schien. Sah sie Belustigung in seinem Gesicht? Nein, das bildete sie sich sicher nur ein.

„Hier, bringe den Gaul zum Stall. Ich komme gleich nach“, sagte Jack und drückte ihr die Leine in die Hand. Ein riesiger Schrecken durchfuhr Lia. Sie liebte Tiere und besonders Pferde, hatte von ihnen aber nicht die leiseste Ahnung.

„Du solltest dich für die Arbeit nicht so sauber anziehen“, sagte Jack und musterte sie, „wo kommst du nur her? Arbeitet man in Le Pradet in dieser Aufmachung im Stall?“

„Im Stall?“, fragte Lia verdutzt. Genau hatte man ihr die Tätigkeit, die ihr zufallen sollte, noch nicht erklärt, aber sie war Meilen davon entfernt gewesen zu ahnen, dass sie im Stall arbeiten sollte. Wieder blickte sie hilfesuchend zu Flynn, der sie weiterhin, scheinbar ohne eine Miene zu verziehen, beobachtete. Sie hatte das Gefühl, seit ihrer Ankunft sowieso schon auf der Abschussliste zu stehen.

Lia holte tief Luft. So viel war heute schon schiefgelaufen, dass sie Flynn nicht wieder enttäuschen wollte.

„Also gut, wo ist der Stall und was soll ich tun?“

„Ach so, du weißt nicht mal, wo der Stall ist? Hat Tess dir keinen Plan gegeben?“

„Sicher, aber -“

Genervt schlug er sich auf die Schenkel. „Mein Gott, hat man mir dieses Jahr wieder eine Perle untergejubelt. Na toll, kommst zu spät und hast dir den Plan nicht mal angeschaut. Dort -“, sagte Jack und schien sich sichtlich zu beherrschen, als er in die Richtung eines flachen Gebäudes zeigte, „liegt der Stall. Striegel die Pferde und miste den Stall aus, falls du das wenigstens kannst. Ich komme gleich nach.“

Lia nickte. Ihre Beine waren zittrig. Noch nie hatte sie sich um Pferde gekümmert oder einen Stall ausgemistet. Das Entsetzen wich und langsam stieg Wut in ihr auf. Wut auf sich selbst. Wie konnte man eine so wichtige Entscheidung treffen, in seiner Heimat alles stehen und liegen zu lassen, sich völlig in die Abhängigkeit Unbekannter zu begeben, ohne sich vorher genau zu erkundigen? In ihrem Drang nach Änderung hatte sie sich blindlings ins Abenteuer gestürzt. Jetzt würde sie es eben ausbaden müssen. Sie straffte die Schultern. Es stand außer Frage, dass sie klein beigab.

„In Ordnung“, sagte sie schließlich und zog mit dem Tier, das sich erstaunlich leicht führen ließ, in Richtung Stall davon. Jack schüttelte den Kopf und machte kehrt. Lia würdigte Flynn keines Blickes mehr, es sollte ja nicht so aussehen, als ob sie ihm gefallen wolle oder als ob sie Hilfe bräuchte.

Am Stall angelangt, ein rechteckiges Gebäude mit einem einfachen Wellblechdach, führte sie das Pferd in die freie Box, in der Hoffnung, dass sie das Richtige tat. Sie zählte. Es gab fünfzehn Boxen, wovon vierzehn belegt waren. Es roch nach Pferdedung und Leder, und die Insassen schabten, schnaubten und wieherten um die Wette. Krampfhaft versuchte Lia sich an Filme zu erinnern, in denen Pferde vorgekommen waren. Wie striegelte man ein Pferd? Wie mistete man einen Stall aus? Sie versuchte, die Situation mit Logik zu bewältigen. Wie zur Bestätigung wieherte ein schwarzer Hengst und schüttelte den Kopf. Der beißende Geruch von Pferdeurin stach ihr in die Nase und Lia schaute sich nach einer Mistgabel um, fand sie prompt am Eingang und begann mit dem Ausmisten.

„Ja, ja, hast ja Recht“, sagte sie zu dem Tier, „es stinkt, und wenn schon eingesperrt, dann doch wenigstens in annehmbaren Verhältnissen, nicht wahr?“

Jetzt verstand sie Jacks Bemerkung über ihre Aufmachung, denn schon bald hingen Staub und Strohhalme an ihrer Kleidung und ihr Körper war schweißgebadet. Eigentlich war es keine schlechte Arbeit, versuchte sie sich einzureden. Man konnte dabei nachdenken, und Tiere schienen derzeit angenehmere Begleiter als manche Menschen. Sie dachte daran, dass man ihr nach ihrer Anreise nicht mal einen Tag Verschnaufpause gegönnt hatte. Nach dieser furchtbaren Nacht im Zug, hätte sie sich gerne mal kurz hingelegt. Aber egal. Umso besser würde sie in der folgenden Nacht schlafen. Sie dachte an Tess und Joe, an den eiskalten Empfang. Was hatte sie eigentlich erwartet? Dass man ihr um den Hals fiel oder sie mit einem Orchester empfing? Sie schnaubte und der Hengst wandte ihr jäh den Kopf zu, als wolle er fragen: wie bitte?

Sie grinste und tätschelte seinen Hals. Sie dachte an Flynn und an Jack, die zwei bestaussehenden Männer, die sie jemals in Fleisch und Blut gesehen hatte. Und doch ... Sie waren so unterschiedlich und beide nicht wirklich ihr Typ. Oder?

Nachdenklich hielt sie inne und stützte sich auf den Stiel der Mistgabel. Was hieß hier Typ? Seit ihrer Jugend hatte sie sich mit Ihresgleichen angefreundet. In der Schule waren es Streber gewesen, später fleißige Studenten, Karrieremänner. Aber war es nicht genau dieses Schema, dem sie entkommen wollte? Den immer wiederkehrenden Gesprächen, Handlungen, Tagesabläufen? War es nicht genau diese Eintönigkeit, der sie hatte entfliehen wollen? Waren es nicht gerade die gewünschten Veränderungen, die sie ins Abenteuer stürzen ließ? Wie lautete noch das angeblich von Einstein stammende Zitat? Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten, zitierte sie in Gedanken. Traf das nicht auf alles zu, also auch auf Männer?

Bislang jedenfalls hatte sie sich eher für den intellektuellen Bürotypen erwärmen können, wobei körperliche Kriterien nicht so sehr ins Gewicht gefallen waren. Sie brauchte einen Mann mit Hirn, keinen Prahler, wie Flynn einer war, und keinen düsteren Bad Boy wie Jack. Gewisse Reize hatten die körperliche Schönheit schon, dachte Lia, aber nicht genug, um etwas Ernsthaftes in Betracht zu ziehen, und erst recht nicht mit einem Kollegen oder Vorgesetzten.

Plötzlich ertappte sie sich dabei, sich vorzustellen wie es wäre, von Flynn geküsst zu werden, und ihr stockte der Atem bei dem Gedanken. Und Jack? Mal von seiner mürrischen Art abgesehen, würde es wohl kaum eine Frau geben, die nicht auf ihn flog. Aber genau das störte Lia. Er war verrucht und gleichzeitig furchtbar sexy. Unanständig, aber unwiderstehlich. Und er schien es zu wissen. Wie würde es sein, in den Armen eines solchen Mannes zu liegen? Ein Ziehen durchfuhr ihre Brust und sie schnappte nach Luft. Aber Lia, was ist los mit dir? Sie schüttelte energisch den Kopf. Dummes Ding. Du wirst vielleicht nicht lange hierbleiben, solltest dich lieber ranhalten, anstatt an Unerreichbares zu denken. Männer wie Flynn und Jack warteten sicher nicht auf eine ungeschickte Bürokratin wie sie. Es gab so viele schöne Frauen - was sollten sie mit einer grauen, unscheinbaren und noch dazu unbeholfenen Gans anfangen? Wieder dachte sie an die schöne Tess und die reizvolle Joe und wunderte sich, wie sie so naiv hatte sein können, auch nur eine Sekunde zu glauben, dass etwas mit Flynn hätte sein können.

Sie seufzte.

Kaum bemerkte sie, wie die Zeit verstrich. Sie redete auf die Pferde ein, als wären es ihre Freunde und fand sich mit der zugeteilten Aufgabe ab. Man konnte dabei nicht viel falsch machen. Wenn da nicht ihr Magen wäre, der furchtbar rumorte. Es musste jetzt um die Mittagszeit sein, die Sonne stand hoch am Zenit, aber Lia wagte es nicht, den Stall zu verlassen, bevor sie nicht alle Aufgaben, die ihr von Jack auferlegt worden waren, bewerkstelligt hatte. Nein, nein, nein, sie würde ihre Entscheidung nicht bereuen, schoss es ihr durch den Kopf.

Sie mistete die Ställe aus - was ihr nach der zweiten Box schon wesentlich besser von der Hand ging -, legte frisches Stroh aus, striegelte die Pferde, fütterte sie mit frischem Heu, füllte mithilfe des Wasserschlauchs die Trinkbehälter.

„Hier, meine Liebe, trink. Es ist heiß bei euch im Stall. Das wird dir guttun. Gutes Mädchen.“ Sie tätschelte die Flanken der Stute.

Jäh zuckte Lia zusammen, als sie Jack bemerkte, der an der Stalltür lehnte und sie beobachtete. Wie lange hatte er schon so dagestanden?

„Hat alles geklappt?“ Er schien ruhiger.

„Ja, keine Sorge“, antwortete Lia, ließ sich nicht aus der Fassung bringen, gab dem nächsten Pferd zu trinken. Sie spürte die Hitze, die ihr in die Wangen schoss. Wie albern, dachte sie.

„Es tut mir leid, dass ich vorhin so schroff zu dir war“, sagte Jack und kam näher. Jetzt, da er sich angenehmer gab und sogar lächelte, sah er wirklich verdammt gut aus. Ihr Herz klopfte schneller und ihr Hals wurde eng. Wieder wurden ihr die gegensätzlichen Gefühle bewusst, die in ihr schlummerten: Etwas in ihm zog sie an und stieß sie gleichzeitig ab.

„Darf ich dich zur Sühne meiner Schuld ins Refektorium entführen und zum Essen einladen?“

Lia lächelte.

„Eine so freundlich formulierte Einladung kann ich wohl schlecht ablehnen.“

Jack grinste und wurde dadurch nur noch unwiderstehlicher.

*

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