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Kapitel 1 – April - Bienvenue

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Träume sind dazu da, uns in eine hoffnungsvolle Erwartungshaltung zu versetzen, uns den Alltag zu versüßen und uns glauben zu lassen, dass alles besser werden kann. Es gibt viele Arten von Träumen.

Träume, die einem im Schlaf einholen, unsere Nächte bevölkern und am nächsten Morgen oft ein sonderbares Gefühl hinterlassen. Manche von diesen Träumen sind sehr irreal und andere - im Gegenteil - scheinen so wirklich wie das Leben selbst. Die Erinnerungen an diese Träume hallen manchmal noch den ganzen Tag über nach, wie die Klänge eines riesigen Gongs, deren Schwingungen in der Unendlichkeit zu zerfließen scheinen, und können wohlige oder auch traurige Gedanken in uns auslösen. Weiter gibt es Tagträume, denen wir mit offenen Augen nachhängen, oft ohne es zu bemerken. Auch die verschönen unser Dasein, geben uns Freude, Kraft und Hoffnung, erlauben uns, kreativ zu werden.

Aber der realistischste aller Träume ist der, den man wie ein Projekt in seinem Herzen trägt, manchmal über Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg. Wir hegen und pflegen ihn, wie ein kostbares Juwel, das wir uns für eine große Gelegenheit aufbewahren, auch, wenn wir nicht wirklich wissen, ob diese jemals kommen wird. Es kommt aber auch vor, dass uns das Leben diesen Traum vergessen lässt, dass er in die Ferne rückt, wie ein Boot, das man verpasst hat und gen Horizont davongesegelt ist. Wir wenden uns von ihm ab, wahrscheinlich, weil es zu schmerzhaft ist, sich den Verlust vor Augen zu führen, und wir glauben ihn tot, begraben, bis ...

Ja, bis eines Tages ein winziges Zeichen einem zeigt, dass ein solcher Traum nie wirklich stirbt, sondern nur vor sich hinschlummert, gleich einem alten, trägen Murmeltier im Winterschlaf, das, durch ein Signal plötzlich hellwach wird, die Steifheit abschüttelt und munter durch die Gegend läuft.

Dann stehen wir da, das Herz in Flammen, den Kopf voller Fragen. Und doch scheint alles so grell und klar wie nie. Jäh geht es ums Überleben, um das eigene Überleben, um das Überleben des Traumes und um die Unglaublichkeit der plötzlichen Einsicht. Wenn man sich so lange heimlich gefragt hat, ob das jetzt alles gewesen sein soll, ob das Leben wirklich nur das zu bieten hat, was man zur Zeit gerade tagein, tagaus lebt, dann weiß man, dass der Moment gekommen ist, der Moment des „Jetzt-oder-nie“. Der Moment, an dem man sicher weiß, dass es keine neue „zweite Chance“ danach mehr geben wird. Warum man das weiß? Das ist und bleibt ein Rätsel, aber wer diesen Moment schon einmal durchlebt hat, der weiß genau, worum es geht.

Und genau so einen Moment erlebte Lia gerade, versuchte, ihre Ideen durchzusetzen, ohne genau zu wissen, ob es richtig war, oder ob sie nicht einfach nur eine Egoistin war.

Das Hupen der Autos und der Straßenlärm machten sie genauso perplex wie die Hitze, die schon über der Stadt lag, obwohl es erst 8 Uhr morgens war. Wartend stand Lia am Bahnhof von Toulon und fragte sich, wo die Leute bloß steckten, die sie hätten abholen sollen.

Die Reise war gut verlaufen, auch wenn sie im ratternden Zug kaum ein Auge zubekommen hatte und sich geschlaucht fühlte. Das lag aber vielleicht weniger an den Geräuschen des Zuges, sondern an ihren Mitreisenden. Ein Mann hatte so fürchterlich geschnarcht, dass sie den Versuch in Morpheus Arme zu fallen bald aufgegeben hatte. Vielleicht war es auch die Aufregung gewesen, die Lia um ihre nächtliche Ruhe gebracht hatte. Während sie dastand und wartete, ließ sie die verschiedenen Eindrücke ihrer neuen Umgebung auf sich wirken. Die hohen Fassaden der viktorianischen Gebäude umzingelten den Kreisverkehr vor dem Bahnhofsgebäude. Altmodische Straßenlaternen sollten einen an andere Epochen erinnern und passten gut zu den Gebäuden. Alles wirkte so ... französisch. Trotz ihrer Müdigkeit musste sie grinsen. Schmuddelige Häuserwände und Straßen, chaotisch geparkte Autos, Frauen, die in bunten, luftigen Kleidern daher liefen, und denen Jugendliche hinterherpfiffen. Ein Mann mit einem Baguette unter dem Arm huschte über die Straße, nicht etwa da, wo sich ein Zebrastreifen befand, nein. Er überquerte die Straße und zwang die Autofahrer zu verlangsamen, die wiederum hupend und schimpfend und mit obszönen Gesten antworteten. Eben der Süden, dachte Lia entzückt, so, wie sie sich ihn immer erträumt hatte. Die wenigen Zweifel, die immer wieder wie bittere Magensäure in ihr hochstiegen, versuchte sie zu verdrängen. Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? Jetzt war es eigentlich zu spät, um sich noch diese Frage zu stellen. Die Zeit der Zweifel war vorbei. Jetzt galt es ihren Traum in die Tat umzusetzen. Aus dem Seitenfach ihrer Handtasche lugte die famose Zeitung heraus, die Übeltäterin, die ihr die „Flausen“ ins Ausland gehen zu wollen in den Kopf gesetzt hatte. Mit den Fingerspitzen strich Lia über die Anzeige, fast dankbar, oder als hätte sie Angst, sie könne sich in Luft auflösen, wenn sie zu grob darüber fuhr. Aber die Anzeige blieb real. Weder stellte sie ein Hirngespinst dar, noch wurde das Papier, auf der sie geschrieben stand, wie durch Geisterhand durchsichtig.

Wenn ich diese Stelle nicht antrete, dann wird es eine andere junge Frau tun, dachte Lia bestimmt. Es musste hunderte geben, die sich nach einer Gelegenheit wie dieser sehnten.

„Warum möchte eine Frau mit ihrer Qualifizierung unbedingt in einem Ferienclub arbeiten?“, hatte sie der Mann am anderen Ende der Leitung geradeheraus gefragt. Zuerst hatte sie seine Direktheit überrumpelt, und normalerweise hätte sie in diesem Augenblick gehemmt geschwiegen. Doch sie hatte ihren Mut zusammengenommen und ehrlich geantwortet. War es ihre Offenheit, die ihn letztendlich berührt hatte oder Mitleid oder gar Verständnis, als er sie zwei Tage später zurückgerufen hatte, um ihr die Zusage mitzuteilen?

Flynn Wendemeier. Ein typischer deutscher Name. Ob er auch nur ein Angestellter war? Nachdem, was sie verstanden hatte, kamen fast nur deutschsprachige Urlauber in den Club. Das war also der Grund, warum sie deutschsprachiges Personal brauchten.

Erneut las sie die Anzeige:

Für unsere Ferienresidenz an der Côte d’Azur suchen wir eine/n deutschsprachige/n Mitarbeiter/in. Vertragsdauer: vom 01.04. – 31.08. Freie Kost und Logis.“

Nein, es gab keinen Zweifel: Sie wollte diesen Job! Unbedingt!

In der Ferne sah sie neben einem blauen Cabriolet einen großen Mann stehen, der mit den Armen fuchtelte. Meint er mich, fragte sich Lia und sah sich nach allen Seiten um. Der Mann lachte, nickte und winkte ihr zu, machte Zeichen mit der Hand, als wolle er sie auffordern, zu ihm hinüber zu kommen. Was bildete sich dieser Lackaffe eigentlich ein? Stolz hob sie das Kinn und schaute fort, doch ihr Herz machte einen Sprung. Alles war so fremd und doch so aufregend. Sie hatte geahnt, dass die Männer im Süden ein hitzigeres Temperament hatten, aber das war wohl doch etwas übertrieben. Nur weil der Mann ein super Cabriolet hatte und noch dazu blendend aussah, brauchte er nicht zu glauben, dass er sie so einfach kommandieren konnte. Sie schüttelte den Kopf. Naja, ein wenig geschmeichelt fühlte sie sich schon. Ihr wurde warm.

Plötzlich setzte sich der Schönling in Bewegung und kam zu allem Überfluss auch noch auf sie zu. Ein Schreck durchfuhr ihre Glieder. Sie fühlte sich absolut nicht in der Lage, sich von diesem Mann ansprechen zu lassen. Sein blendend weißes Lächeln und die hellblauen Augen, die ihr aus dem sonnengebräunten Gesicht entgegenblitzten, schienen sie auslachen zu wollen. Wie unverschämt war der denn?

„Bonjour, du bist Lia? Lia Hesse?“, fragte er mit einem starken französischen Akzent, der auf Lia wie eine sanfte Melodie wirkte. Lia nickte.

„Ich bin Flynn Wendemeier, aber alle nennen mich Flynn“, sagte er mit seinem breiten Lächeln. Lia lächelte schüchtern zurück.

„Hattest du eine angenehme Reise?“

„Ja, danke.“

Lia wollte nur noch in den Erdboden versinken.

Sie kam sich furchtbar dümmlich vor, hatte das Gefühl fünfzehn zu sein. Sie schluckte. Wie peinlich. Was würde er von ihr denken?

„Komm, die Karosse wartet schon, Gnädigste“, sagte er und vollführte eine übertriebene Handbewegung. Spott schien aus seinen Augen zu sprühen. Sollte es eine Anspielung darauf sein, dass sie auf sein Winken nicht reagiert hatte? Machte er sich etwa über sie lustig?

Sie nickte ihm zu, bemüht, nicht zu befangen zu wirken, packte den Griff ihres Trolleys und zog ihn hinter sich her, während sie ihrem neuen Vorgesetzten folgte. Verlegen blickte sie an ihrer von der Zugreise verknautschten Kleidung hinunter. Selbst für diese Jahreszeit war sie noch zu warm angezogen.

„Ich hoffe, du hast auch weniger warme Sachen dabei“, sagte Flynn, als hätte er ihre Gedanken erraten und lächelte freundlich.

„Ja, natürlich“, log Lia und ärgerte sich sofort, „in Deutschland ist es noch ziemlich frisch.“ Das war zumindest nicht gelogen.

„Sicher, das vergisst man manchmal, wenn man hier unten lebt“, sagte Flynn und schmunzelte.

„Du sprichst aber gut Deutsch“, rutschte es Lia heraus.

„Meine Mutter war Deutsche und mein Vater Franzose“, sagte Flynn, zwinkerte und lud ihren Koffer in den Kofferraum des Cabriolets, das dunkelblau in der Sonne blitzte. Lia musterte Flynn genauer. Er musste über Dreißig sein, hatte dunkles gewelltes Haar, das mit sonnengebleichten Strähnen durchzogen war und ein ebenmäßiges, leicht kantiges Gesicht. Seine Haut war tiefbraun. Er trug eine Bermuda aus Jeans, ein dunkelblaues T-Shirt und passende dunkelblaue Sneakers. Es waren seine Augen, die ihr am meisten imponierten. Durch seine Kleidung traten seine dunkelblauen Augen leuchtend hervor. Alles passend zum dunkelblauen Cabriolet, dachte Lia beeindruckt. Er kam ihr vor, wie ein Topmodell aus einer Modezeitschrift, oder einer Werbung für Ferien in Luxushotels an der Côte d’Azur.

„Ach so“, war alles, was Lia herausbrachte.

Flynn lachte nachsichtig, als er um das Auto herumging, um ihr die Tür aufzuhalten. Verblüfft über diese galante Geste folgte sie seiner Aufforderung und setzte sich auf den Beifahrersitz, wobei sie ihren Knöchel am unteren Rahmen der Karosserie anstieß. Es schmerzte höllisch, doch sie stieß nur kurz die Luft aus, hoffte, dass er es nicht bemerkt hatte. Erst als er die Wagentür geschlossen hatte und um das Vehikel herumlief, rieb Lia sich unauffällig das Fußgelenk und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Du musst dich unbedingt zusammenreißen, dachte sie, deine Tollpatschigkeit wird dich noch die Anstellung kosten. Zwar hatte sie noch nie sehr viel Selbstbewusstsein an den Tag gelegt, aber so unbeholfen, wie in den letzten fünf Minuten, hatte sie sich ihres Erachtens noch nie gezeigt. Das ärgerte sie. War es der Mann oder die Situation, die sie zu einem unbeholfenen Teenager werden ließen?

Lia schnallte sich hastig an, bevor er sie dazu auffordern konnte. Genug! Ich bin fast Dreißig, habe studiert und brauche mich nicht minderwertig zu fühlen, dachte sie bestimmt.

Flynn ließ sich neben ihr auf den ledernen Fahrersitz gleiten. Ein weiches beiges Leder, dass sicher die Hitze im Sommer erträglicher machen würde, dachte Lia. Auch er legte seinen Gurt an und startete den Motor, der einen röhrenden Klang von sich gab. Vorbeigehende Passanten drehten sich jäh zu ihnen um, musterten das Auto, lächelten anerkennend.

„Mustang“, sagte er schlicht, als würde alleine diese Aussage die Lautstärke des Motors erklären. Sofort kam aus den Lautsprechern der Wagentüren eine angenehme Reggae-Musik, die Lia nicht kannte.

Flynn fuhr vorsichtig an und konzentrierte sich auf die belebten Straßen Toulons. Es hupte und schimpfte aus allen Richtungen, als sie die große Avenue am Hafen entlangfuhren. Frauen in blumigen Kleidern und Männern in Shorts und T-Shirt tummelten sich auf den Bürgersteigen, schienen zur Arbeit zu gehen. Taten sie das wirklich? Erstaunt registrierte Lia, dass die Menschen nicht gehetzt wirkten, wie in Frankfurt, wenn sie um 8 Uhr morgens über die Zeil liefen.

Bald schon kamen sie aus der Innenstadt mit den hohen Gebäuden heraus und bogen nach rechts ab, in ein pittoreskes Stadtviertel. Große viktorianische Gebäude säumten mit altmodischer Eleganz beide Seiten der Avenue und auf den Bürgersteigen ragten haushohe Dattelpalmen in die Höhe. Dattelpalmen! Wow! Lia versuchte, sich die Überraschung nicht anmerken zu lassen und schielte flüchtig zu Flynn, der sich weiterhin auf das Fahren zu konzentrieren schien. Nur seine Finger tippten im Rhythmus der Musik aufs Lenkrad. Er sprach kein Wort, was Lia sehr gelegen kam, denn endlich entspannte sie sich und ließ alle Eindrücke auf sich wirken.

Über ihnen strahlte der Himmel so blau, dass Lia zum ersten Mal in ihrem Leben den Begriff „Azur“ zu verstehen glaubte. Ihre Sonnenbrille lag in ihrem Koffer, denn aus irgendeinem blödsinnigen Grund war sie davon ausgegangen, sie nicht sofort zu benötigen. Also kniff sie vor dem gleißenden Sonnenschein die Augen zusammen, wenn sie mal nicht gerade unter dem schattigen Schutz einer Palme an einer Ampel standen. Als Flynn sich über ihre Knie hinweg zum Handschuhfach vorbeugte, stieg der angenehme Duft seines Rasierwassers zu ihr auf.

„Sorry“, sagte er und reichte ihr eine Sonnenbrille, die Lia dankbar lächelnd annahm. Gleich nahm sie sich vor, eine Falsch/Richtig-Liste von Klischees über Franzosen zu führen.

Punkt Nummer 1: Die Straßen waren eher schmutzig - Richtig! Punkt Nummer 2: Die Menschen waren undiszipliniert - Richtig! Punkt Nummer 3: Die Männer waren einer Frau gegenüber galant und aufmerksam - Richtig! Sie grinste zufrieden in sich hinein. Ob der Rest, den man sich über sie erzählte, wohl auch stimmte? Sie räusperte sich verlegen, doch ein erwartungsvolles Kribbeln stieg in ihr auf, wie eine Verheißung, die ihre Ansage körperlich ausdrücken wollte.

Als sie an einem kleinen Hafen an der Küste angelangten, nahm ihr der Anblick schier den Atem. Vor ihnen lag das tiefblaue Meer, das Mittelmeer! Sie schnappte nach Luft. Viele Fotos hatte sie schon gesehen und auch im Urlaub mit ihren Eltern waren sie schon ans Meer gefahren. Doch dieser Anblick übertraf ihre Vorstellungen bei Weitem. Glatt und schillernd lag die Méditerranée im Morgenlicht. Einladend, unvorstellbar schön und elegant. Kein Foto, kein Bild konnte ausdrücken, was Lia gerade empfand. Zum Weinen schön! Sie schluckte, und in diesem Moment wusste sie mit Sicherheit, dass sie ihre Entscheidung, was immer für Konsequenzen sie mit sich bringen würde, nicht bereuen würde.

Kleine Boote lagen leicht wogend auf dem flachen glitzernden Wasser, und die Masten klimperten im Wind, auf denen Möwen saßen und sich ihr Gefieder putzten, während die Skipper die Boote startklar machten. Andere hingegen saßen gemütlich auf dem Deck und frühstückten.

„Das ist le Mourillon“, erklärte Flynn, „einer der beliebtesten Stadtteile Toulons.“

Sie fuhren den Hang der Bucht hoch, vorbei an kleinen Geschäften, die gerade erst zu öffnen schienen und Strandbedarf und Postkarten anboten. Dann ließen sie den wunderschönen Anblick des in der Morgensonne glitzernden Meeres hinter sich und fuhren an Luxusvillen und kleinen Dörfern vorbei, auf einer Straße, die sich am Litoral entlang schlängelte. Sie gewannen an Tempo und der Fahrtwind fuhr durch ihr Haar, das noch immer fest in einem Dutt zusammengehalten war. Vereinzelte Strähnen lösten sich und kitzelten ihre Wangen. Es roch blumig und fruchtig nach Frühling. Kristalline Hänge und Täler waren mit Kiefern bewachsen, hier und da standen Zypressen und Agaven, und der Boden war mit Pflanzen übersät, die wie kuschelige Teppiche wirkten und deren vielzählige Blüten im Morgenlicht wie weiße und lila Diamanten schimmerten. Andere Sträucher blühten im grellen Gelb.

Ich bin an der Côte d’Azur, dachte Lia. Für einen kurzen Augenblick vergaß sie ihre Hemmungen, legte den Kopf zurück, schloss die Augen und genoss den Gedanken, dass sie es tatsächlich geschafft hatte. Sie war im Land ihrer Träume. Bislang wurden ihre Erwartungen keinesfalls enttäuscht. Im Gegenteil! Saß sie nicht gerade in einem Traumauto neben einem, wie sie zugeben musste, sehr gut aussehenden Mann? Als sie die Augen wieder öffnete, wagte sie einen Blick zu Flynn, der sich weiterhin auf die kurvige Straße konzentrierte und ihr nur ein flüchtiges Lächeln zuwarf.

Ja, jetzt würde sie fünf Monate an der berühmten Côte d’Azur verbringen, noch dazu mit einem so gutaussehenden und coolen Chef. Alles schien schön in diesem Land. Die Sonne, die Palmen, die Wärme, das Meer, der Himmel, die kleinen verträumten Häuser mit ihren in Lila-, Gelb- und Rottönen blühenden Hecken ...

Heftiges Herzklopfen überkam sie und ihre innere Aufregung stieg an.

Als sie erneut einen Ort, der sich Carqueranne nannte, durchfuhren, hielt Flynn den Wagen nahe bei einem Markt an und stellte ihn mitten auf der Straße ab.

„Kommen Sie, Lia, ich muss noch etwas besorgen“, sagte er und stieg aus. Etwas überrumpelt löste Lia ihren Sicherheitsgurt und erhob sich ebenfalls aus dem Sitz.

„Wollen Sie den Wagen einfach hier stehen lassen?“

„Oh, das? Das machen hier alle so. Aber Sie können auch auf mich warten, wenn Ihnen das lieber ist. Ich brauche nicht lange.“

„Und das Gepäck?“

„Das ist sicher im Kofferraum eingeschlossen“, sagte er und rüttelte wie zur Bestätigung an der Haube.

Schon war Flynn im Gewühl der Menschen verschwunden. Lia seufzte und blickte sich um. Tatsächlich war es nicht das einzige Auto, das so unglücklich in der Doppelreihe geparkt war. Kein Mensch schien sich daran zu stören.

Sie überlegte, schaute sich weiter um. Auf dem Markt herrschte ein buntes Treiben. Neben Blumen, Gemüse und Spezialitäten wurden auch Teppiche, Hüte und Schuhe angeboten. Marktschreier priesen ihre Waren an, doch Lia verstand kein Wort. Plötzlich fiel ihr Augenmerk auf einen Marktstand, an dem Sommerklamotten angeboten wurden. Schnurstracks schritt sie auf die Bude zu. Ein schwarzes Wickelkleid mit weißen großen Blumenmustern, das mit anderen Kleidern an einer Stange am riesigen Überschirm hing, fiel ihr besonders ins Auge. Eine Dame Mitte Fünfzig, die ein rotgemustertes Tuch um den Kopf gebunden trug, näherte sich Lia.

„Très belle robe pour très belle femme“, sagte die Frau, nickte ihr zu, holte das Kleid sofort mithilfe einer Stange und einer geschickt eingeübten Geste herunter und reichte es Lia. Selbst trug die Verkäuferin ein langes buntes Kleid aus Seide oder Satin, dessen vorwiegend rote Muster gut zu dem Kopftuch passten. Ihre langen schwarzen Haare waren mit grauen Strähnen durchzogen und ihre schwarz umrandeten Augen funkelten Lia fröhlich an. Die Frau erinnerte sie an eine Zigeunerin aus den Comics „Tim und Struppi“, Geschichten, die Lia als Kind gerne gelesen hatte.

„Oh, merci“, sagte Lia, auch wenn sie nicht wirklich ganz verstanden hatte, was die Frau von ihr wollte. „Belle femme“, das hieß wohl „schöne Frau“, soviel wusste sie noch. Ob die Verkäuferin sie damit gemeint hatte? War die Frau blind?

„Vous ne parlez pas français?“

Lia schüttelte den Kopf, wollte etwas sagen, doch die Frau kam ihr zuvor.

„Espagnol? Spanish?“

„Non,...äh ... allemand!“

„Ahhh“, sagte die Frau, „Deutsch.“

Lia nickte.

„Schöne Kleid für schönes Frau“, sagte die Verkäuferin im schlechten Deutsch und mit einem harten Akzent, der nicht dem französischen ähnelte.

„Oh, Sie sprechen Deutsch?“

„Ein bichsen, ein bichsen.“

Lia schmunzelte. Die Frau musste so auf Touristen getrimmt sein, dass sie das Nötigste in mehreren Sprachen beherrschte, um ihre Ware anzupreisen. Also gut, dachte Lia, legte das Kleid an und schaute prüfend an sich hinunter.

„Da, Spiegel“, sagte die Frau und Lia folgte ihr in den hinteren Teil des Standes, musterte sich mit dem vorgehaltenen Kleid in dem Standspiegel und spürte, dass sie rot anlief. Würde sie so ein Kleid jemals tragen, fragte sie sich. Viel zu ... viel zu ... naja, viel zu wenig, dachte sie. Tief klaffte der Ausschnitt, den sie mit Sicherheit nicht zu füllen wissen würde, und die Länge - wenn man das so nennen konnte - ging nur bis zur Mitte der Oberschenkel. Obendrein war das Wickelkleid vorne überschlagen und geschlitzt und würde bei jedem Schritt ihre Beine freilegen. Sie schluckte.

„Kleid geschaffen für dich“, sagte die Verkäuferin, die ihr Handwerk wirklich zu verstehen schien. Lia zögerte.

„Wie viel?“

„Dreißig“, kam die Antwort prompt.

„Gut, prima. Es ist wirklich sehr schön“, sagte Lia und hielt der Frau das Kleid hin, „aber ich komme nächste Woche wieder, einverstanden?“ Sie wollte keine dreißig Euro für ein Kleid ausgeben, das sie vielleicht nie tragen würde.

„Dann weg! Zwanzig!“

„Ich möchte erst noch nachdenken, ich -“

„Fünfzehn, letztes Angebot!“

Lia ließ resigniert die Arme hängen, seufzte und gab sich geschlagen. Ach und überhaupt: War sie nicht hierher gekommen, um etwas an ihrem Leben zu verändern? Um Dinge zu tun, die sie noch nie getan hatte?

„Also gut“, sagte sie und kramte ihr Portemonnaie hervor, gab der Frau einen Zwanziger. Diese wickelte das Kleid in eine Tüte, gab ihr einen Fünfeuroschein zurück, den Lia sofort im Etui verschwinden ließ.

„Danke, Mademoiselle, danke“, sagte die Verkäuferin, zwinkerte Lia zu, reichte ihr die Tüte mit dem Kleid und tätschelte ihre Hand. Plötzlich hielt die Frau inne, drehte Lias Hand um und legte sie in die ihre. Behutsam strich sie über Lias Handfläche und runzelte die Stirn.

„Du einsam; du verstecken“, sagte die Frau. Verwirrt wollte Lia ihre Hand fortziehen, doch die Frau hielt sie sanft zurück, „du fliehen. Du Angst? Angst vor -“ Die Frau stutzte und schaute sie plötzlich überrascht an. „Angst vor Leben. Du Angst vor Leben!“

Lia fühlte sich plötzlich unwohl. Was machte diese Frau da? War sie eine Art Hellseherin? Gab es so etwas überhaupt noch?

„Ich glaube nicht an Vorhersagen, sorry“, sagte Lia, zog hastig die Hand zurück und wandte sich zum Gehen.

„Du nicht fortlaufen. Viel schlecht kommen, doch du nicht sollen fortlaufen. Nicht Augen und Herz schließen, du richtig hinschauen -“, rief ihr die Verkäuferin krächzend hinterher, doch Lia wollte nicht mehr hinhören. Fast in Panik drängelte sie sich durch die kompakter gewordene Menge der Marktbesucher. Nur weg! Ihr Herz raste. Die raue Stimme der Wahrsagerin hallte noch in ihr nach. So ein Unfug!

Wo war noch das Auto? Verflucht, dachte Lia, ich bin nicht mal in der Lage die Orientierung zu behalten. Von allen Seiten wurde sie geschubst und gedrängt. Erschrocken tastete sie nach ihrem Umhänge-Täschchen und stellte erleichtert fest, dass noch alles da war: Geld, Pass, Führerschein, Schlüssel. Sie klammerte ihre Hände darum und versuchte, sich einen Weg in die Richtung zu schlagen, in der sie das Auto vermutete. Ihr brach der Schweiß aus, als sie feststellen musste, dass die Menge sie in eine andere Richtung schob. Gab es da irgendwo ein Schauspiel, dass die Menschen so drängelten? Mit einem Ruck riss sie sich los, drehte sich um und prallte an einer harten Männerbrust ab. Im hohen Bogen flog ein Becher durch die Luft; der braune dampfende Inhalt wirbelte wie eine diffuse Lache hinterher und ergoss sich auf braune Haare und ein dunkelblaues T-Shirt. Erschrocken legte Lia die Hand vor den Mund, denn vor ihr stand ihr fluchender Chef, von dessen Haaren Kaffeetropfen troffen.

„Es tut mir furchtbar leid, ich bin so ungeschickt“, stammelte sie. Die Menschen um sie herum lachten und schienen sich über Flynn lustig zu machen. Mit der rechten Hand wischte er sich die Haare und seine Mundwinkel zuckten leicht. Schließlich musste auch er über die Witzeleien schmunzeln. Lia wollte vor Scham im Erdboden versinken. So etwas Peinliches aber auch. So ungeschickt war sie doch sonst auch nicht. Sicher, dachte sie, sonst kommst du ja kaum aus dem Haus ...

„Ist schon gut. Kommen Sie, wir müssen zurück zum Wagen. Heute scheint mein Glückstag zu sein. Womöglich bekomme ich noch einen Knollen verpasst.“

Seine große warme Hand packte sie am Handgelenk, und er zog sie hinter sich her, bahnte ihnen einen Weg aus dem Tumult heraus. Erst wollte sie über diese besitzergreifende Geste protestieren, doch entschied sie sich anders, denn sie wollte ihn nicht noch mehr gegen sie einnehmen. Sie spürte förmlich seine Enttäuschung und es berührte sie eigentümlich. Vielleicht hätte sie auf ihre Eltern hören und in Deutschland bleiben sollen. Welcher wilde Watz hatte sie gebissen, dass sie so dumm gewesen war, zu glauben, dass sie ein neues Leben anfangen können würde? Konnte man vor seinem eigenen Schatten fortlaufen? Jemand anderes werden, nur, weil man an einen anderen Ort, in ein fremdes Land floh? Sie dachte an die Worte der Tim-und-Struppi-Zigeunerin: „Du fliehen!“ Aber floh sie wirklich vorm Leben, oder vielmehr vor sich selbst? Ihrer eigenen Tollpatschigkeit? Ihrer Unfähigkeit, sich Freunde zu machen oder zu sich selbst zu stehen.

Kaum hatte Lia sich’s versehen, saßen sie wieder im Auto, die Haare im Wind. Sofort fiel der Stress von ihr ab. Nach wenigen Minuten verließen sie den Ort und fuhren am Meer entlang.

„Was hat Sie denn so aufgebracht“, fragte Flynn.

„Oh, eine Dame spielte sich als Orakelfrau auf“, sagte Lia.

„Und Sie glauben daran?“

„Nein!“ Es klang empört. „Nein“, wiederholte sie ruhiger, „ich wusste nicht einmal, dass es so etwas noch gibt.“

„Die Franzosen sind ganz wild nach Wahrsagerinnen und bereit viel Geld fürs Kartenlegen auszugeben.“ Erleichtert stellte Lia fest, dass er ihr die Ungeschicklichkeit nicht mehr übel zu nehmen schien. In Gedanken setzte sie auf ihre Liste den 4. Punkt: Franzosen glauben an Wahrsagerei!

„Ach ja?“ Lia war wirklich erstaunt. Wie konnte man nur so abergläubisch sein und an so ein Gefasel glauben? „Es sind einstudierte Sätze, die auf jeden zutreffen“, setzte sie nüchtern hinzu. Er nickte, doch glaubte sie sein Unbehagen zu spüren. Sie stutzte. Ob auch er Wahrsagerinnen befragte?

„Was hat sie denn gesagt?“

Sie zögerte.

„Du fliehen! Vor Leben“, äffte sie die Frau nach.

Flynn lachte laut auf.

„Auf mich trifft es nicht zu“, sagte er und zwinkerte. Gegen ihren Willen musste sie jetzt auch lachen.

„Sicher. Aber ich meine, man braucht keine Hellseherin zu sein, um einen Menschen auf den ersten Blick einzuschätzen und ein paar gut klingende Sätze zu sagen.“

„Na, dann versuchen Sie es doch mal mit mir“, sagte Flynn und schaute sie schelmisch aus den Augenwinkeln an. Versuchte er, etwas zu beweisen oder wollte er nur Spaß machen, fragte sich Lia. Sie wollte keine Spielverderberin sein. Zu oft hatte man ihr gesagt, dass sie sich nicht zu amüsieren wusste.

„Also gut“, sagte sie und musterte ihn.

„Du reich, du viele Frauen. Du aufpassen, sonst Herz brechen“, sagte sie. Flynn lachte und ein Schatten schien über sein Gesicht zu huschen. Nein, dachte sie unglücklich, bin ich schon wieder ins Fettnäpfchen getreten?

„Ich glaube, Sie brauchen da noch ein wenig Übung“, sagte er und grinste sie schief an. Lia lächelte erleichtert.

Sie kamen an einen Kreisverkehr und bogen nach rechts auf eine lange Straße ab, die am Litoral entlang verlief. Lia blieb der Mund offenstehen und sie zog die Sonnenbrille bis zu ihrer Nasenspitze hinunter. Auf der rechten Seite erstreckte sich ein kilometerlanger Sandstrand mit kleinen Dünen. Wild, verwegen und unberührt lag er sichelförmig in der Morgensonne, als verberge er tausend Geheimnisse und schien für Lia eine Nachricht bereitzuhalten. Ja, dachte sie, dies hier war der Grund, warum sie es gewagt hatte, aus ihren Schranken auszubrechen, aus ihrem selbstgebauten Gefängnis. Der Wind legte zu und kleine Wellen kräuselten sich auf der Oberfläche des Binnenmeeres. Lia sog die jodgeschwängerte Seeluft in ihre Lungen ein. Es roch nach Algen und Salzwasser.

Auf der linken Seite erstreckten sich flache stagnierende Gewässer und in der Ferne erblickte Lia ein Riesenrad. Sicher ein Vergnügungspark, dachte sie.

„Das sind die Salzseen, les Salins. Sie wurden bis in die Neunzigerjahre noch ausgeschöpft und liegen seither brach. Und man nennt diesen Ort Almanarre und diese Straße la route du Sel. Wir befinden uns hier auf einem Tombolo -“

„Was ist ein Tombolo?“

„Das sind riesige Sandbänke, die sich wie zwei parallel zueinander verlaufende Arme mit der Zeit zwischen dem Festland und der Halbinsel Giens dort drüben gebildet haben. Diese Arme schließen das Wasser in deren Mitte ein und bilden die Salzseen. Im Winter ist diese Straße hier gesperrt, weil sie meistens überschwemmt ist. Vor zweitausend Jahren gab es an dieser Stelle hier eine Durchfahrt. Damals war Giens noch eine Insel.“

„Und was ist auf der anderen Seite der ... Arme?“

„Dort entlang gibt es auch viele Strände und der Hafen von Hyères. Sie sind nicht so breit und naturbelassen wie Almanarre, aber auch sehr schön. Der Club liegt dort direkt am Meer.“

Lia kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, und als sie plötzlich die rosafarbenen Flamingos entdeckte, verschlug es ihr abermals die Sprache. Flynn grinste stolz.

„Die sind ja himmlisch schön“, rief Lia begeistert.

„Wissen Sie, warum die Flamingos rosa sind?“

Wollte er sich etwa über sie lustig machen?

„Nein? Braucht es dafür etwa einen besonderen Grund?“ Flynn lachte gellend über ihren unerwarteten Einwand. Wahrscheinlich würde er sie jetzt auf den Arm nehmen. Sie grinste erwartungsvoll.

„Nein, eigentlich nicht, aber in diesem Fall gibt es einen.“

„Ich bin sehr neugierig ihn zu erfahren“, sagte Lia gefasst, denn sie spürte, dass er sich tatsächlich über sie lustig machte.

„Weil sie sich von roten Krebsen ernähren.“

„Hahaha“, sagte Lia und fühlte sich veräppelt. Für wie blöd hielt er sie eigentlich?

„Nein, wirklich, das stimmt“, sagte Flynn ernst.

„Natürlich“, spottete Lia, „und die Bananen sind gelb, weil sie gelbe Kekse fressen, ja?“

Flynn kicherte. „Nein, wirklich, ich schwöre, es ist der wahre Grund.“ Er versuchte ernst zu bleiben, doch das Flackern seiner Augen verriet ihn.

Lia sah ihn misstrauisch an.

„Ist heute nicht der erste April?“, fragte Lia und freute sich, nicht auf den Scherz hineingefallen zu sein.

Flynn schüttelte missmutig den Kopf und sagte nichts mehr. Sie nahm es als das, was es zu sein schien – ein Eingeständnis – und lehnte sich zufrieden im Sitz zurück.

„Jetzt ist es nicht mehr sehr weit“, sagte er, als wolle er das Thema wechseln. Er war wohl ein schlechter Verlierer, dachte Lia.

Tatsächlich waren sie am Ende der Route du Sel angelangt, zogen eine Schleife und bogen nach links ab. Diesmal fuhren sie auf einer Straße, die sie durch mit Pinien durchwachsene Ferienwohnviertel führte. Wieder lagen die Salzseen auf der linken Seite, und sie fuhren auf dem anderen Arm des Tombolos zurück.

Nach nur wenigen Minuten bogen sie in eine Einfahrt ein, über der ein großes gelbes Schild mit blauer Inschrift „RIVERA BEACH CAMPING“ hing. Durch eine lange, gerade Palmenallee, die rechts und links mit Parkplätzen gesäumt war, fuhren sie bis zu einer rot-weiß-gestreiften Schranke vor. Direkt dahinter befand sich ein großes, gelbes, mit einem Strohdach gedecktes Gebäude mit blauen Fenster- und Türrahmen: die Rezeption!

Das laute Hupen des Mustangs ließ Lia zusammenfahren. Das für ein Auto alberne Geräusch einer Trompete trötete durch die Luft.

„Tü-Tülütüt-Tütülüt-Tüt-TütülütülütTüt-Tüt“, schallte es erneut.

So ein Angeber, dachte Lia und schämte sich fast, mit Flynn in diesem Auto gesehen zu werden. Die Schranke öffnete sich einige Sekunden später wie durch Magie und sie fuhren direkt vor das Rezeptionsgebäude. Am Eingang wurden Postkarten, Landkarten und Strand-Utensilien auf Ständern angeboten. Zwei junge Frauen, wie sie verschiedener nicht hätten sein können, kamen freudig lächelnd aus dem Gebäude.

„Ach und übrigens: wir duzen uns hier alle, ich hoffe das stört Sie nicht?“

„Äh, nein, Flynn“, antwortete Lia ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben. Merkwürdig kam es ihr schon vor, ihren Chef zu duzen.

„Das sind Tess und Joe. Ich nenne sie gerne die Deutsche und die Italienerin“, stellte Flynn vor, sprang aus dem Wagen, ohne die Tür zu öffnen. Tess hüpfte auf ihn zu, schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn herzhaft auf die Wangen. Flynn wand sich verlegen.

„Tess, lass das. Ich habe dich schon hundertmal gebeten, damit aufzuhören, nicht hier -“

„Das hat dich früher aber nie gestört, Flynny-Boy -“ Gespielt schmollend verfolgte Tess mit ihren stechend blauen Augen Flynns Bewegungen. Lia versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Es wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein, dachte sie und stieg aus dem Wagen. Was hatte sie eigentlich erwartet? Dass ein toller einsamer Prinz namens Flynn sein ganzes Leben in Südfrankreich nur auf sie gewartet hatte? Ein so gutaussehender Mann musste natürlich bei Frauen viel Erfolg haben und konnte kein Single sein. Und eigentlich gefiel er ihr ja auch nicht wirklich. Es war nur die Hülle, die sie blendete. Im Grunde mochte sie keine Prahlertypen, die sich wie stolze Hähne mit einem Cabriolet zur Schau stellten. Noch dazu war er ihr Vorgesetzter, schalt sie sich. Oh je, dachte Lia beklommen, wenn sie sich schon von dem erstbesten Schönling verwirren ließ, wie sollte das Ganze hier nur enden?

Nun, versicherte Lia sich, sie war ja nicht unbedingt hierhergekommen, um die große Liebe zu finden, auch wenn sie zugeben musste, dass sie es insgeheim vielleicht ein wenig gehofft hatte. Sie wollte Abenteuer. Sie wollte wissen, was ihr das Leben, außer den grauen Büroräumen und einer dahinplätschernden Beziehung, noch zu bieten hatte. Aber es musste ja nicht gerade der Chef sein, nicht wahr? Lia seufzte, lächelte den Frauen freundlich zu und schnappte sich nervös ihren Koffer, den Flynn bereits aus dem Kofferraum geholt hatte. Sie murmelte einen Dank.

Tess lächelte flüchtig zurück, hatte aber nur Augen für Flynn. Während Lia den dreien in Richtung Rezeption folgte, musterte sie die beiden Frauen. Tess hatte hellblondes langes Haar, blaue Augen, einen schönen schlanken Körper und war etwas größer als Lia. Tess’ Kleidung, die aus einem kurzen weißen, am Ausschnitt mit vielen bunten Perlen und Bändern verzierten Minikleid und weißen offenen Sandalen bestand, betonte durch den trapezförmigen Schnitt des Kleides ihre braungebrannten schlanken Beine. Lia konnte Flynn gut verstehen, denn Tess sah wirklich hinreißend aus. Joe hingegen war schwarzhaarig, hatte mittellanges, glattes, leicht abgestuftes Haar und einen langen, verfransten Pony, der bis zu ihren Augen reichte. Sie kaute ausgiebig auf einem Kaugummi herum, was wohl besonders sexy wirken sollte. Ihr kurzer Jeans-Overall saß eng und brachte auch ihre braunen, schlanken Beine zur Geltung. Wie Tag und Nacht, dachte Lia spontan, als sie die beiden verglich.

Nachdem die Dunkelhaarige Lia nun auch von Kopf bis Fuß abfällig gemustert hatte, wendete Joe sich ab und beachtete Lia nicht weiter. Wie bei einer Vorahnung stieg in Lia die instinktive Gewissheit auf, dass Joe sie verachtete. Aber warum? In Lias Hals bildete sich ein Kloß, doch sie wollte sich nicht einschüchtern lassen. Nicht nur, dass sie sich nicht wirklichen willkommen fühlte, mal von Flynns Empfang abgesehen, noch dazu fühlte sie sich, gegenüber den hübschen, braungebrannten jungen Frauen, hässlich, klein und unscheinbar.

An der Rezeption angelangt, stellten sich Joe und Tess gleich hinter die riesige Theke. Während Tess geschäftig in Papieren herumkramte, als würde sie dringend etwas suchen, stützte sich Joe in lässiger Haltung mit dem Ellenbogen auf den Empfangstresen. Jetzt konnte Lia deren mit Kajalstift bemalten Augen besser erkennen. Wie zwei schwarz umrandete dunkle Kugeln stachen sie unter dem langen Fransenpony hervor, was Joe noch exotischer wirken ließ.

Lia schaute sich in der geräumigen Eingangshalle um. Gegenüber der langen Empfangstheke standen zwei winzige Läden, die aber noch nicht geöffnet waren. Bei dem einen schien es sich um ein Geschenkartikel-Lädchen zu handeln und das andere bot Badeartikel an. Im Schaufenster konnte sie Bikinis erkennen, die sie nicht einmal im Traum tragen wagen würde, so knapp waren die Stücke.

„Hier, da hab ich ihn“, rief Tess erleichtert, legte Lia einen Plan hin und tippte mit dem Zeigefinger darauf, „hier befindet sich der Wohnkomplex für die Angestellten.“

Lia starrte auf das Blatt, auf dem ein rechteckiges Gebäude abgebildet war, das in der Mitte einen großen rechteckigen Freiraum zu haben schien.

„Was ist das?“, fragte sie.

„Oh, das ist der Swimmingpool. In unserer Freizeit halten wir uns dort auf.“

Lia nickte erstaunt.

„Du kannst aber auch an den Strand gehen, wenn dir das lieber ist, das steht dir frei.“

Strand?

„Ist er weit von hier entfernt?“

Flynn und Tess grinsten sich vielsagend an.

„Tess zeigt dir später alles, Lia“, sagte Flynn. Es klang ungeduldig, als wolle er sich ihrer endlich entledigen, „bring erst einmal deine Koffer aufs Zimmer. Joe, zeig ihr euer Zimmer -“

Lia durchfuhr ein Schreck. Sie spürte ihren Puls, der bis in den Hals hinauf pochte. Auch Joe schien nicht begeistert zu sein. Sie stieß sich lässig, fast genervt, von der Theke ab und warf Flynn einen ätzenden Blick zu.

Nanu, dachte Lia. Die Angestellten nahmen sich hier wirklich viele Freiheiten heraus. Ob das Duzen wirklich so gut war? Brach es nicht die Schranken der Hierarchie, der angemessenen Höflichkeit und des nötigen Abstands, den es zwischen einem Vorgesetzten und seinen Angestellten geben sollte?

„Komm“, sagte Joe schroff und schlenderte aus der Tür. Über kleine Pfade, an Bungalows und Zelten vorbei, durchquerten sie einen Pinienwald. Es duftete nach Süden. Bildete sie sich das ein, oder konnte sie das Meer von hier aus riechen?

Sie fasste Mut und holte Joe ein.

„Bist du schon lange hier?“

„Hmm“, kam die Antwort. Doch Lia wollte nicht nachgeben. Das Eis würde schon noch brechen.

„Seit wann?“

Joe hielt abrupt inne, wandte sich ihr zu und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir teilen ein Zimmer, ok? Das heißt nicht, dass wir Freundinnen werden, verstanden? Ich brauche kein lästiges Anhängsel, das Fragen stellt.“ Mit diesen Worten ging Joe weiter und ließ die verdatterte Lia stehen. Wie ein Schlag in die Magengrube fühlte es sich an. Lia kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an, doch wollte ihr das nicht ganz gelingen. Entsetzliches Heimweh überkam sie plötzlich. Hatte sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen?

Zwischen ihrem Kummer und der Aufregung der neuen Eindrücke hin- und hergerissen, folgte sie Joe, die schon einige Meter weiter vor ihr herlief. Völlig unbeteiligt summte Joe ein Lied vor sich hin, bis sie über mehrere kleine Pfade bei dem gelben rechteckigen Gebäude ankamen, ein langweiliger Betonklotz mit vielen Fenstern. Fast wirkte es wie ein Gefängnis.

„Hier, dein Schlüssel. Geh dort durch die Pforte, überquere den Innenhof, am Swimmingpool vorbei nach hinten. Dort geht’s die Treppe hinauf und dann ist es die zweite Tür rechts mit der Nummer 22. Das Bett auf der rechten Seite ist deines.“ Joe drückte Lia den Schlüssel in die Hand und ließ sie stehen. Lia starrte dem Mädchen sprachlos hinterher. Auf jeden Fall entschloss sie sich, dass der Eintrag unter Punkt Nummer 5 ihrer Liste: „Dem weiblichen italienischen Personal, das an der Rezeption arbeitet, fehlt jegliche Herzlichkeit beim Empfang des neuen weiblichen Personals aus einem anderen Land“ lauten würde. Zufrieden lächelte Lia in sich hinein, als hätte sie sich soeben besonders gut an Joe gerächt. Sofort ging es ihr etwas besser. Sie nahm sich vor, den Grund für Joes Veralten zu erforschen. Je nachdem, was sie herausfinden würde, könnte sie ja dann ihr Urteil vielleicht noch mildern, oder sogar verschärfen. Vielleicht lag es ja daran, dass sie Lia als Konkurrenz betrachtete, oder waren die Frauen hier einfach so? Oder stand Joe unter Druck? Egal! Ihr gegenüber war es jedenfalls nicht fair!

Zögernd trat sie durch den runden Torbogen in den Innenhof. Sie musste vor Überraschung die Luft anhalten, als sie den wundervollen Patio erblickte, der wie eine altertümliche Tempelanlage wirkte. Von außen wies nichts auf die Schönheit dieses Ortes hin. Lia atmete erleichtert auf. Wie schön es sein musste, sich hier mit Freundinnen aufzuhalten, zu feiern und fröhliche Stunden zu verbringen.

Im Zentrum des Patios lag der große Pool ruhig in der Morgenstille und auf der breiten Steinterrasse, die es umrandete, standen Liegestühle und Tische mit Stühlen. Der freie blaue Himmel über dem Pool gab dem Ganzen eine magische Aura. Rundbögen und Säulen zierten den offenen Rundgang, über dem die oberen Terrassen lagen. Dahinter erblickte Lia rundherum Türen, die mit Nummern versehen waren. Auf der Karte hatte das Gebäude nicht so riesig gewirkt, dachte Lia. Doch die Freude über diesen schönen Ort wollte nicht wirklich aufkommen und wurde von dem Klumpen in ihrem Bauch beherrscht. Trotz der Schönheit wirkte alles trostlos und einsam. Bei dem Gedanken ein Zimmer mit der finsteren Joe teilen zu müssen, wurde ihr schwer ums Herz. Ob sie um ein anderes Zimmer bitten durfte?

Um das Pool herum erstreckte sich das einstöckige Gebäude wie eine Festung. An jedem Ende des riesigen Innenhofes führten breite Treppen in den ersten Stock, der nicht minder beeindruckend wirkte.

Lia durchquerte den unteren Hof, am Pool vorbei, erklomm die Treppe und stand bald auf der oberen überdachten Terrasse, die rund um den Swimmingpool führte und einen wundervollen Blick aus der Vogelperspektive auf das türkisfarben schimmernde Nass bot. Die Balustrade war im altrömischen Stil mit Säulen und Rundbögen angelegt worden. Palmen in Töpfen zierten die Treppen und Geländer, Amphoren und alte Vasen schmückten den Steinboden. Ein römischer Patio, dachte Lia verträumt und suchte die Tür mit der Nummer 22.

*

Sommer auf Französisch

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