Читать книгу Die Schüler der Zeit - Sidney Michalski - Страница 4
ОглавлениеErstes Kapitel
Montag 6:40
Die Wecker-App auf Pans Handy klingelte nun schon zum dritten Mal. Nun würde er endlich aufstehen müssen. Wenn nicht, würden er und seine Schwester zu spät in die Schule kommen. Sinn ergab die Schule für sie nicht, fand er, aber Flora hatte ihn dazu überredet, doch wieder hinzugehen.
Pan stand auf, zog sich an, ging in die Küche und machte sich und Flora eine große Tasse Kaffee.
Seine Schwester kam herein.
»Schlafen Mama und Papa noch?«, fragte sie.
Pan nickte.
Meistens frühstückten die beiden Kinder und ihre Eltern unter der Woche nicht miteinander.
Am Anfang hatten die beiden Erwachsenen noch darauf bestanden, dass sie natürlich mit den beiden Kindern aufstanden und ihnen natürlich das Frühstück machten. Mit der Zeit hatten sie aber gemerkt, dass das gar nicht nötig, vielleicht sogar von den beiden Kindern nicht mal gewünscht war, und so hatten sie entschieden – wenngleich auch mit einer gehörigen Portion schlechtem Gewissen – lieber etwas länger zu schlafen.
Diese beiden Erwachsenen, bei denen Flora und Pan seit nun fast einem Jahr wohnten, waren Beate und Herbert Krohnenberg. Beate und Herbert konnten keine eigenen Kinder bekommen, hatten sich jedoch immer Kinder gewünscht. Ihre Versuche, welche zu adoptieren, waren erfolglos geblieben, denn beide arbeiteten zu viel und waren mittlerweile auch schon zu alt, als dass man sie hätte fremde Kinder aufziehen lassen.
Beide hatten sich – mehr oder weniger – damit abgefunden, niemals Kinder bei sich wohnen zu haben. Zumindest bis zu dem Tag im letzten Jahr, an dem Beate eine mysteriöse E-Mail bekommen hatte. Es schien zunächst eine von diesen E-Mails zu sein, die an viele Adressaten gesendet werden und eigentlich nur dem Absender dienen, aber niemals dem, der sie erhält. Deshalb hatten sie der E-Mail zunächst keine weitere Beachtung geschenkt.
Als aber beide abends vor dem Fernseher saßen und wie schon so oft vorher wegen ihres unerfüllten Kinderwunsches betrübt waren, wischte Beate ihre Bedenken beiseite und antwortete auf die E-Mail, jedoch ohne sich allzu große Hoffnungen zu machen. Aber zu ihrer größten Überraschung erhielt sie bereits am nächsten Tag eine Antwort. Diese E-Mail – die Antwort – hatte keinen Betreff und ihr Inhalt bestand lediglich aus drei Sätzen.
»Guck mal, Herbert«, sagte Beate gespielt unbeeindruckt. »Ich habe diese sehr merkwürdige E-Mail bekommen. Was hältst du davon?« Beate reichte ihrem Mann das Handy. Ihre Hände zitterten vor Aufregung, doch sie wollte sich nichts anmerken lassen.
Herbert nahm ihr Handy in die Hand und las die wenigen Zeilen der E-Mail durch. Er sah Beate zweifelnd an. Falten bildeten sich auf seiner Stirn, so angestrengt dachte er nach. Als er gerade ansetzen wollte, etwas zu antworten, stockte er und las stattdessen die E-Mail erneut. Immer noch konnte er sich keinen Reim darauf machen. Also las er sie zum dritten Mal, doch nun las er sie laut vor. Aber noch immer wusste er nicht, was er davon halten sollte.
Beate platze beinahe vor Aufregung, sah ihn ebenso ungeduldig wie fragend an und erwartete eine Antwort von ihm.
Da Herbert merkte, dass er etwas antworten musste, sprach er einfach seine Gedanken ungeordnet aus, auch um sie für sich selbst sortieren zu können.
»Die Mail ist sehr eigenartig«, sagte er nachdenklich. »Alleine schon, wie sie geschrieben ist. Diese komischen Bild-Zeichen und für diesen wichtigen Inhalt ist sie auch viel zu kurz.«
Beate sah ihn weiterhin hoffnungsvoll an.
»Wenn uns jemand reinlegen wollte«, fuhr Herbert fort, »würde der sich sicherlich mehr Mühe geben. Aber wie soll das mit dem Reinlegen denn überhaupt funktionieren? Es gibt ja nicht mal eine Forderung etwas zu tun.«
»Du meinst also, dass das, was da steht, stimmt?«, platze Beate freudig heraus. Sie konnte ihre Begeisterung nicht mehr zurückhalten. Zu toll war das, was in der E-Mail zu lesen war.
»Das habe ich nicht gemeint«, antwortete Herbert rasch. »Ich meinte nur, dass der Text so sonderbar ist, dass er vielleicht wahr sein könnte. Muss er aber nicht.« Eigentlich glaubte Herbert nichts von dem, was in der E-Mail stand, doch er wollte Beate nicht enttäuschen. Sie sah so glücklich und zuversichtlich aus, dass er es nicht übers Herz brachte, ihr zu sagen, was er wirklich dachte.
»Was heißt das nun?«, fragte Beate verwirrt und ein wenig enttäuscht. »Glaubst du, dass wir jetzt Kinder bekommen, oder nicht?«
Herbert musste nachdenken. Er glaubte nicht daran, aber wenn es wider Erwarten doch stimmen sollte, und sie würden diese einzige Chance auf Kinder vermasseln, würde er sich das nie verzeihen. Und außerdem wurden in der E-Mail ja auch keine Forderungen gestellt. Sie sollten kein Geld bezahlen oder sonst irgendetwas tun. Es würde also nicht schaden, wenn sie einfach ein bisschen glauben würden. Glauben und hoffen.
»Ich denke, wir sollten dem Ganzen eine Chance geben!«, sagte Herbert mit gespielter Zuversicht.
Beate fiel ihm um den Hals und drückte ihn so fest, dass seine Rippen knackten. Sie wollte etwas sagen, doch sie brachte kein Wort heraus. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie war so glücklich wie schon lange nicht mehr.
»Hoffentlich wird das keine Enttäuschung«, dachte Herbert erschrocken, als er bemerkte, wie sehr Beate hoffte, dass es wahr sein würde. Er erwiderte Beates Umarmung und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Am Ende des Tages würden sie wissen, wie viel Wahres an der E-Mail war. So oder so würde er ein aufwändiges Abendessen für sie vorbereiten. Entweder zur Feier des Tages oder als gigantisches Trostpflaster.
Da sie sich ja nun dazu entschieden hatten, daran zu glauben, dass Kinder bei ihnen einziehen würden und die Ankunft der Kinder noch am selben Tag sein sollte, hatten sie keine Zeit mehr zu verlieren. Sie meldeten sich – ausnahmsweise – bei ihren Arbeitsstellen krank, gingen in unterschiedlichen Geschäften einkaufen und richteten eins ihrer Zimmer als Kinderzimmer her, um den Kindern das bieten zu können, was sie sicherlich erwarten würden.
Beate gestaltete das Kinderzimmer mit so viel Eifer und derart liebevoll, dass Herbert immer mehr in den Bann ihres Enthusiasmus gezogen wurde.
War er, nachdem er die E-Mail gelesen hatte, noch skeptisch und ungläubig gewesen, dass Kinder bei ihnen einziehen würden, glaubte er es nun ebenso wie Beate.
Immer dann, wenn im Laufe des Tages der nagende Zweifel aufgetaucht war, dass es eigentlich unmöglich war, auf diesem Wege Eltern zu werden, hatten sie ihn einfach beiseite geschoben. Zu groß war ihr Kinderwunsch und zu sehr hatten sie sich darüber gefreut, dass sie endlich nicht mehr alleine sein würden.
»Jetzt müssen wir aber wirklich los, Flora!«, sagte Pan mit Nachdruck.
Beide schnappten sich ihre Lederrucksäcke, liefen die kleine Treppe vor dem Haus herunter zu ihren Fahrrädern und fuhren zur Schule.
Als Beate und Herbert aufgestanden waren, fanden sie bereits ein leeres Haus vor. Es fühlte sich an wie früher, als sie noch alleine gelebt hatten.
Beate erschrak für den Buchteil einer Sekunde, bis ihr schnell wieder klar wurde, dass schon am Nachmittag – oder spätestens am Abend – ihre beiden Kinder wieder bei ihnen sein werden.
Beate und Herbert gingen herunter in die Küche und freuten sich darüber, dass die zwei, obwohl sie es offensichtlich eilig gehabt hatten, noch Zeit fanden, ihnen Müsli und Kaffee hinzustellen.
»Ich will mich wirklich nicht beschweren«, sagte Herbert, nachdem er den ersten Löffel Müsli gegessen hatte, »aber die beiden sind – und das sage ich, obwohl ich sie liebe, als wären es meine eigenen Kinder – manchmal etwas seltsam! Meinst du nicht auch, Beate?«
Beate antwortete zunächst nicht. Sie brauchte ein wenig, um die richtigen Worte zu finden. Es war schwierig, da sie das Gleiche dachte und Angst davor hatte, es auszusprechen. Sie war so glücklich mit Pan und Flora und liebte sie so sehr, dass sie nicht zugeben wollte, wie anders die beiden gelegentlich waren. Anders als alle anderen Kinder, die sie kannte. »Ja, die beiden sind eigenartig und sie machen mir manchmal etwas Angst«, dachte sie. Zu ihrem Mann aber sagte sie:
»Herbert, so sind Kinder nun einmal, das ist ganz normal!« Sie dachte kurz nach. Mit entschlossener Stimme, auch, um sich selbst davon zu überzeugen, fügte sie eindringlich hinzu: »Die beiden sind ganz normal! Glaub’ mir!«
Herbert schien beruhigt zu sein.
Beate holte ihr Handy aus der Tasche und betrachtete ein weiteres Mal die merkwürdige E-Mail, die sie damals bekommen hatte und die ihnen die Kinder brachte. Hätte sie genauer hingesehen, wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass zwar der Absender Kindervermittlungsagentur lautete, die E-Mail-Adresse des Absenders aber hallo@flora-und-pan.de war.
Die E-Mail kam also damals von Pan und Flora selbst, die sich ganz offensichtlich Beate und Herbert als ihre Eltern ausgesucht hatten, und nicht umgekehrt, wie Beate und Herbert glaubten.