Читать книгу Das dunkle Flüstern der Schneeflocken - Sif Sigmarsdóttir - Страница 11

HANNAH

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Wie Speichelgeschosse klatschen die nassen Schneeregenflocken auf die Windschutzscheibe. Willkommen in Island, Hannah, hauche ich lautlos und kneife mir in den Oberschenkel, damit ich nicht schreie oder, was noch schlimmer wäre, in Tränen ausbreche.

Draußen herrscht eisige Kälte. Im Auto ist es trotzdem warm wie in einer Sauna. Mir hat noch nie eingeleuchtet, wieso man freiwillig in die Sauna geht, aber hier tun das eine Menge Leute (zum Glück rollen sie hinterher nicht nackt im Schnee herum wie so manch andere Skandinavier). In der heißen, stickigen Saunaluft fühle ich mich immer, als würde mir irgendwer ein unsichtbares Kissen aufs Gesicht pressen, und genauso fühle ich mich in diesem Auto.

Mein Blick zuckt zu dem Mann, der sich neben mir an das lederbezogene Lenkrad klammert.

Dad, nenne ich ihn.

Direkt ansehen kann ich ihn irgendwie nicht, da käme ich mir unhöflich vor, als würde ich einen Fremden anglotzen. Was jetzt im Prinzip gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt ist. In manchen seiner Gesichtszüge erkenne ich mich zwar jedes Mal wieder, etwa in den schmalen grauen Augen und in ihrer Art, einen so durchdringend anzustarren, dass einem ganz anders wird, weil man nie weiß, ob er einem nun tief in die Seele blickt und die intimsten Gedanken entziffert oder einfach geradewegs durch einen hindurchschaut; auch in seinen Grübchen, die frech gegen seine stets bitterernste Miene rebellieren, und in seinen wilden dunkelblonden Augenbrauen. Im Ganzen ist er mir aber ziemlich fremd.

Seit zehn Minuten sind wir unterwegs und wir haben noch immer kein Wort miteinander gesprochen. Für die Fahrt vom Flughafen Keflavík zu Dads Haus in Fossvogur, einem Stadtviertel von Reykjavík mit Vorort-Flair und Einfamilienhäusern, die genauso gleichförmig sind wie ihre Bewohner, sollten wir ungefähr eine Stunde brauchen. Unter diesen Umständen ist eine Stunde eine Ewigkeit.

»Wie geht’s Rósa?« Ich versuche, durch ein bisschen Small Talk die Stimmung aufzulockern. Kein guter Plan.

»Sei nicht so, Hannah«, keift Dad und feuert einen durchdringenden Blick ab, den aber hauptsächlich der Schneematsch auf der Straße abbekommt.

»Wie bin ich denn?« Zugegeben, Rósa ist ein heikles Thema. Aber ich wollte wirklich nur wissen, wie es ihr geht. Glaube ich jedenfalls.

»Es ist dein Ton.«

Na gut, dann wird eben geschwiegen.

Gott, wie mir London fehlt. Wie mir Granny Jo fehlt. Wie mir …

Ich darf nicht einmal an sie denken. Trotz allem fehlt sie mir so sehr.

Am Ende ist Mum dann doch nicht vom Fluch dahingerafft worden (auch wenn wir alle fest damit gerechnet hatten). Am Ende hat sie etwas viel Banaleres kleingekriegt. Krebs. Und auch noch die häufigste Variante davon, nämlich Brustkrebs. Nichts Besonderes.

Wenn man bedenkt, wie oft sie diese Welt hinter sich lassen wollte, hat sie sich dann doch überraschend verbissen dagegen gewehrt. Zu ihren Bedingungen wäre sie freiwillig gegangen, aber so stemmte sie sich mit aller Macht dagegen. Für sie musste immer alles exakt nach ihren Vorstellungen ablaufen.

Mein Handy summt. Ich ziehe es aus der Tasche. Eine WhatsApp von Daisy.

DAISY Schon da?

HANNAH Leider ja.

DAISY Ach komm. Lass die negativen Gedanken nicht gewinnen. Du solltest das Ganze als Abenteuer betrachten.

Daisy ist ein Mensch, der Vorträge über positives Denken hält, ohne je davon gehört zu haben, dass es so etwas offiziell gibt. Meiner Theorie nach hat sich ihre Mum in der Schwangerschaft zu viele Selbsthilfebücher reingezogen. Daisy und ich sind seit der Vorschule befreundet und meistens finde ich ihre lebensbejahende Haltung toll. Manchmal will ich sie dafür aber erdrosseln.

HANNAH Keinen Bock auf Abenteuer. Denk nur an Alice.

DAISY Alice? Die Pickelige mit der Zahnspange, die früher bei KFC bedient hat?

HANNAH Nein, die hieß Alison. Ich meine die Alice … im Wunderland.

DAISY Ach die. Aber die hatte doch Spaß, oder?

HANNAH Sie wäre um ein Haar von einer verrückten Königin ermordet worden und fast in ihren eigenen Tränen ertrunken.

DAISY Ah okay. Hmm. Aber dein Kaninchenbau führt bestimmt nicht ins Wunderland.

HANNAH Da hast du auch wieder recht. Mein Kaninchenbau führt direkt in die Hölle.

Das ist gar nicht mal übertrieben. Oder nicht sehr. In alten Zeiten glaubte man tatsächlich, das Tor zur Hölle befände sich in Island.

DAISY Konzentrieren wir uns auf das Positive. Zum Beispiel: Es sind nur noch genau zwei Monate bis Weihnachten!

Das ist mal kein leerer Motivationstrainer-Spruch. Das ist ein echter Lichtblick. Nicht wegen des Weihnachtsmanns oder Jesus oder weil es dann bei Boots drei Parfüm-Geschenkboxen zum Preis von zweien gibt oder was man an Weihnachten sonst so großartig finden soll. Nein, an Weihnachten kommt Daisy mich in Island besuchen.

Am selben Tag, an dem ich über meinen baldigen Umzug nach Island informiert wurde, hat Daisys Mum ihr das Flugticket gekauft. Ich fürchte, für das nun folgende Geständnis sollte ich auf ewig in der Hölle schmoren (danke, ich finde alleine hin, weit kann es ja nicht sein), aber auch eine unaussprechlich schreckliche Wahrheit ist immer noch wahr: Mein ganzes Leben lang habe ich mir insgeheim ausgemalt, wie es wäre, wenn Daisys Mum meine Mum gewesen wäre. Daisys Mum, mit ihren sanft geschwungenen Hüften, den selbst gemachten Pfannkuchen, dem warmen Lächeln und dieser Aura nichtssagender Normalität, fast als wäre sie einer Zeitschrift für »die gute Hausfrau« aus den 1950er Jahren entsprungen. Seit Mums Tod fühle ich mich deswegen erst recht wie eine Verräterin.

Das Handy in meiner Hand summt und ich zucke zusammen. Fast rechne ich mit einer Nachricht von meiner Mum, mit einem Anpfiff aus dem Grabe heraus, weil ich so schlecht über sie rede.

DAISY Bald ist Dezember und ich freue mich schon so darauf, dich zu sehen … dich und diese Polarlichter natürlich. Okay, muss weiterlernen. Jetzt willst du nicht mehr mit mir tauschen, was?

Doch, will ich trotzdem. Daisy lernt für ihre A-Levels am Highbury College. So wie ich bis vor einer Woche.

Daisy fehlt mir.

Ich stecke das Handy wieder ein. Ich wünschte, ich würde auch in London für meine A-Levels lernen. Aber dass ich das eben nicht tue, ist ausnahmsweise nicht Mums Schuld. Das habe ich ganz allein hingekriegt.

Eigentlich hatte ich die Schülerzeitung, die Highbury Gazette, nur als Ausrede gegründet, um nach dem Unterricht nicht immer gleich nach Hause gehen zu müssen. Doch dann habe ich mich ein bisschen hineingesteigert.

Zwanzig Leute schrieben regelmäßig für die Zeitung, wir trafen uns zweimal pro Woche in der Redaktion (sprich: in der Schulbibliothek) und diskutierten über den Inhalt der wöchentlichen Ausgabe. Daisy umgarnte als Chefin der Marketingabteilung per Telefon Geschäfte aus der Gegend, bis sie bei uns Anzeigen schalteten. Mit der Zeit sprachen mich immer öfter Leute auf dem Gang an, um über ihre Lieblingsartikel zu plaudern. Und bald wollten sogar immer mehr von ihnen mitmachen.

Ich fand es toll. Ich fand es toll, herumzuschnüffeln und nach lohnenswerten Themen zu suchen: der mäßige Nährstoffgehalt mancher Mahlzeiten in der Schulmensa, die Highlights der neuesten PISA-Studie oder das Zerwürfnis in der Theatergruppe – die eine Hälfte wollte eine modernisierte Version von Hamlet auf die Bühne bringen, die andere wollte die Aufführung traditionell halten. Ich fand es toll, Schüler zu interviewen, die an irgendeinem interessanten Ort gewesen waren oder irgendetwas Bemerkenswertes geleistet hatten, und den größten Kick gaben mir meine langen Enthüllungsstorys, etwa über die feuchten Wände in einigen Klassenzimmern, die sich tatsächlich als übler Schimmelbefall und damit als Gefahr für die Gesundheit von Schülern und Lehrern entpuppten.

So wurde die Highbury Gazette, anfangs ein bloßer Zeitvertreib, zu meinem ganzen Stolz. Ich war nicht mehr nur Hannah, das ziemlich unscheinbare Mädchen, das sich im Nebenjob um seine komische Mutter kümmerte, eine Frau, die hin und wieder im Nachthemd und mit einer halb geplatzten Tesco-Plastiktüte voller Bierdosen in der Hand am Schultor auftauchte. Plötzlich war ich Hannah, Herausgeberin der Schülerzeitung und Verkünderin der Wahrheit, ich war knallhart drauf und kein Niemand mehr.

Knapp eine Woche nach Mums Tod brauchte ich dann dringend eine Ablenkung. Ein Artikel aus dem Guardian, den Granny Jo jeden Morgen kaufte, brachte mich auf die Idee: Eine Radiomoderatorin der BBC hatte herausgefunden, dass ihre (männlichen) Kollegen für die gleiche Arbeit fünfzig Prozent mehr Gehalt bekamen.

Für ihre Marketing-Telefonate durfte Daisy ab und zu das Büro des Rektors benutzen, ich durfte dort Interviews führen. Bei einer dieser Gelegenheiten hackte ich mich in seinen Computer – so hat er es hinterher zumindest genannt. Ich finde, man kann nicht von »hacken« sprechen. »Hacken« ist nicht das Gleiche wie simples Einloggen und man muss gar nichts »hacken«, wenn der Benutzer den Vornamen seiner Gattin als Passwort eingestellt hat (worauf ich übrigens beim dritten Versuch kam). Innerhalb von zwei Minuten hatte ich die Gehaltslisten aufgespürt. Dann öffnete ich den Browser, ging auf Gmail, meldete mich an und schickte die Excel-Tabelle als Anhang an mich selbst.

Zu Hause rechnete ich das Ganze durch. Das Gehalt der männlichen Lehrkräfte an unserer Schule lag 23 Prozent über dem der weiblichen.

In dem Korrekturbogen, den ich meiner Englischlehrerin Ms Thackeray vorlegen musste, bevor die neue Ausgabe an die Druckerei ging, war meine große Enthüllungsstory noch nicht enthalten. Erst nachdem sie alles abgenickt hatte, tauschte ich die Titelseite aus.

Die Hölle brach los. Die Eltern rasteten aus. Die Schulaufsicht auch. Der Rektor musste sich öffentlich für das Gehaltsgefälle entschuldigen und geloben, es in Ordnung zu bringen. Die Schüler jubelten über das Chaos.

Ich wurde der Schule verwiesen.

Dads Blick zuckt für einen Moment zu mir. »Ich habe eine Überraschung für dich.«

Ein Flugticket nach London?, hätte ich fast erwidert, aber ich kann mir gerade noch auf die Zunge beißen. Das wird ein Friedensangebot sein. Ich sollte es annehmen.

»Ich habe dir schon einen ersten Auftrag organisiert.«

Ach, das.

Wenn man bedenkt, wieso ich der Schule verwiesen wurde, hat meine Strafe eine gewisse Ironie, die meinen ehemaligen Rektor vermutlich ziemlich auf die Palme bringen würde: Ich wurde zu einem Praktikum bei der Zeitung meines Dads verdonnert.

Mein Blick zuckt zu ihm. Er schaut starr auf die Straße. Es ist kaum jemand unterwegs und unsere Geschwindigkeit liegt deutlich über dem Tempolimit.

»Was für ein Auftrag?«

Jetzt blickt er etwas milder drein. »Ein Interview.«

Okay. Okay, das könnte ganz gut werden. Interviews machen mir Spaß.

»Mit einer sehr bekannten Influencerin.«

Irrtum. Es wird eine Qual.

»Ich hasse Influencer.« Mit Wucht lasse ich mich gegen meine Lehne fallen. Mir doch egal, wenn ich mich aufführe wie eine schmollende Vierjährige, die keinen Lolli bekommen hat. »Influencer sind so dumm. Wegen denen steht meine Generation als lauter Hohlköpfe da. Als würden wir alle glauben, Duckface-Machen wäre ein echter Job, Belfies auf Instagram wären ein wichtiger Aspekt der Selbstfindung und Erfahrungen im Photoshoppen von Thigh Gaps wären ein großes Plus im Lebenslauf.«

Dad überhört meine Schimpftirade. »Sie heißt Imogen So-und-So. Schon mal von ihr gehört?«

»Millionen Menschen bilden sich ein, sie wären Social-Media-Stars. Wieso soll ich ausgerechnet von der gehört haben?«

»Na ja, sie ist genau wie du …«

Ist sie sicher nicht.

»Sie kommt aus Großbritannien, ist aber gerade nach Island gezogen.«

Mein Blick zuckt zu Dad. Da ist doch was faul. Das stinkt zum Himmel.

»Diese Imogen macht bei Cool Britannia 2.0 mit, einer Konferenz an der britischen Botschaft zur Stärkung der kulturellen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Rest der Welt. Sie spricht da über Mode oder Make-up oder Selbstverwirklichung … irgendwas in der Richtung.«

Irgendwas in der Richtung?

»Und dafür, dass wir ein Interview mit ihr bringen, hat sie sich bereit erklärt, dir unter die Arme zu greifen.«

Da ist sie schon, die Ursache des fauligen Geruchs: Mein Dad hat Hintergedanken und die stinken schlimmer als Harðfiskur, diese isländische Delikatesse aus getrocknetem Fisch, die den Duft eines alten Müllsacks verströmt.

»Sie soll mir wobei unter die Arme greifen?«

»Beim Einleben. Beim Ankommen in einem neuen Land.«

»Ich brauche keinen Babysitter. Ich habe jeden Sommer meines Lebens in Island verbracht.«

Das will Dad mit einem lässigen Schulterzucken abtun, es wirkt aber wahnsinnig steif und bemüht. Ihm ist durchaus bewusst, wie dumm sein Plan ist. »Es ist alles vorbereitet. Das Interview soll morgen über die Bühne gehen. Dann kannst du mal mit jemandem über alles reden. Nutz die Chance.«

»Nicht zu fassen. Du hast irgendeine blöde Social-Media-Tussi bestochen, sich mit mir zu unterhalten? Es ist kaum zu glauben.«

»Mein Gott, ich wollte dir einen Gefallen tun.«

»Dann lass mich ein richtiges Interview führen. Das wäre was gewesen.«

»Das ist ein richtiges Interview.«

»Ist es nicht. Es ist Werbung. Genau genommen bezahlt diese Imogen dafür, dass du ihren Auftritt in deiner Zeitung promotest, zwar nicht mit echtem Geld, aber mit einem Beratungsgespräch – und deshalb ist dieses Interview kein echter Journalismus, sondern eine Werbeanzeige.«

»Warum musst du immer alles so verdrehen?«

»Ist es nicht verboten, Werbung als echten journalistischen Inhalt auszugeben? Also zu Hause in Großbritannien darf man das nicht.«

Jetzt ist es Dad, der sich krachend gegen die Lehne fallen lässt. »Wie du das immer wieder hinkriegst, Hannah.«

Der Schneeregen ist zu richtigem Schnee geworden. Die Scheibenwischer schrubben wie wild über das Glas und kommen trotzdem kaum hinterher.

»Was? Was kriege ich immer wieder hin?«

Dads Gesicht färbt sich rot. »Du kriegst es immer wieder hin, dass sich alle schlecht fühlen.«

Uff. Das ist – selbst für seine Verhältnisse – hart. »Willst du jetzt wirklich darüber reden? Ich würd’s mir überlegen.« Irgendwo in meinem Hinterkopf droht der gesammelte Giftmüll aus 16 Jahren Bitterkeit zu explodieren.

»Worüber reden?«

Ich weiß genau, was ich ihm zu sagen habe. Ich habe meinen Vortrag ewig geübt. »Dass du nicht mit dir selbst klarkommst, ist nicht meine Schuld.«

Ich zögere. Will ich wirklich so in mein sogenanntes neues Leben aufbrechen? Ganz klar: Nein, will ich nicht. Doch meine Worte sind wie ein Felsbrocken, der einen Abhang hinunterrollt: Sie haben sich zu ihrem Ziel aufgemacht und ganz egal, was sie unterwegs zerquetschen, es steht nicht mehr in meiner Macht, sie aufzuhalten.

»Auch wenn dich die bloße Tatsache, dass es mich gibt, an deine Unzulänglichkeiten, deine moralischen Defizite und deine Selbstsucht erinnert, hast du kein Recht, mir die Schuld daran zu geben. Mum zu verlassen, war deine Entscheidung. Mich mit ihrer Scheiße allein zu lassen, war deine Entscheidung. Dafür bist nur du verantwortlich. Du fühlst dich schuldig? Dann mach das gefälligst mit deinem Gewissen aus und lass mich in Ruhe.«

Es ist raus. Endlich. Eine Mischung aus Wut, Angst und Erleichterung lässt mein Herz pochen.

Jeden Moment wird Dad mich anschnauzen.

Oder auch nicht.

Sekunden verstreichen. Werden zu Minuten. Scheiße. Die Stille im Wagen dröhnt mir in den Ohren. Ich sehne mich beinahe danach, angeschnauzt zu werden.

Bin ich zu weit gegangen? In Gedanken lasse ich meinen Vortrag noch einmal ablaufen. Und noch mal und noch mal. Mit jeder Wiederholung wirken meine Worte lauter und schärfer, gehässiger. Die ersten Schuldgefühle regen sich, aber warum eigentlich? Wieso sollte ich mich schuldig fühlen?

Ich ertrage Dads ausdruckslosen Blick nicht mehr. Das ist typisch mein Vater. Nie stellt er sich den Problemen. Immer wartet er ab, während sich das Unausgesprochene aufstaut, während es gammelt und fault und zu einem Höllengestank wird, der sich nie wieder aus der Welt schaffen lässt.

Will er das? Kann er haben. Ich wende mich ab, drehe mich zum Seitenfenster.

Ein Panorama, das kaum weniger hart und kalt ist als Dads Schweigen, nimmt mich in Empfang. Es heißt manchmal, die Fahrt vom Flughafen Keflavík nach Reykjavík führe durch eine magische Landschaft, man fühle sich wie auf den Mond versetzt (dieser Spruch kann eigentlich nur aufs Konto des Fremdenverkehrsamts gehen). Ich sehe bloß eine Einöde aus rauen, kahlen Lavafeldern, die Hinterlassenschaft von Vulkanausbrüchen vor Hunderten von Jahren.

Dass hier überhaupt jemand lebt, muss man als Wunder bezeichnen. Seit vor über eintausend Jahren die ersten Menschen nach Island gekommen sind, hat sich die Insel redlich bemüht, sie wieder umzubringen. Im Lauf der Zeit ist sie immer und immer wieder nur knapp daran gescheitert, den Homo sapiens durch eisiges Wetter, brodelnde Lava, Erdbeben, Überschwemmungen, Lawinen oder Seuchen von diesem Brocken aus Vulkangestein knapp unter dem nördlichen Polarkreis zu vertreiben. Im 18. Jahrhundert, nachdem eine Reihe von Naturkatastrophen einen erheblichen Teil der Bevölkerung ausgelöscht hatte, hat man sogar darüber nachgedacht, das ganze Land nach Dänemark zu verlegen.

Hätte man das doch nur getan.

Dad schweigt stur. Was soll ich hier eigentlich? Hier ist für mich nichts zu holen. Niemand will mich hier haben. Dad nicht. Rósa bestimmt nicht. Die Zwillinge nehmen kaum Notiz von mir und Grandma Erla und Grandpa Bjarni werden bei meinen Besuchen jedes Mal etwas blass um die Nase. Ich glaube, in mir sehen sie meine Mum. Und für sie wird Mum immer die Frau sein, die um ein Haar das Leben ihres Sohns zerstört hätte.

Inzwischen fällt der Schnee dichter und dichter. In Island ist Schnee eine echte Gefahr. Selbst auf den Straßen der Hauptstadt erfrieren immer noch Menschen.

Der Verkehr verlangsamt sich. Höchstens einen Meter vor uns, durch die wirbelnden Flocken nur schemenhaft zu erkennen, taucht ein Auto auf.

»Diese verdammten Touristen«, knurrt Dad und steigt auf die Bremse. Aus 130 Stundenkilometern werden binnen Sekunden 30. »Wenn sie keine Ahnung haben, wie man bei Schnee fährt, wieso nehmen sie nicht das Shuttle?«

Die Wange ans Fenster geschmiegt, lasse ich den Blick über die träge vorwärtskriechende Autoschlange schweifen. Na super. Jetzt dauert die Fahrt des Grauens noch länger.

Ein paar Wagen weiter vorne entdecke ich etwas am Straßenrand. Ein blaues Blinken. Ich würde sagen, in diesem Fall stockt der Verkehr nicht wegen der mangelnden Fahrkünste irgendwelcher Touristen.

Wir rollen weiter. Jetzt sind die Streifenwagen klar zu erkennen, gleich drei davon parken am Straßenrand. Die Luft ist erfüllt vom Heulen einer Sirene. Aus der Gegenrichtung nähert sich ein Rettungswagen dem Ort des Geschehens.

In Island gibt es kaum Verbrechen, aber jetzt ist mal was los. Ich zücke mein Handy und schieße ein Foto.

Urplötzlich macht unser Auto einen Schlenker nach rechts. Dad muss auf dem Eis die Kontrolle verloren haben. In Todesangst klammere ich mich ans Armaturenbrett.

Genauso abrupt hält Dad an, stellt den Schalthebel auf Parken und öffnet die Tür. Den Motor lässt er laufen.

Ich wundere mich. »Wohin willst du?«

»Bin gleich wieder da.« Er knallt die Tür zu.

Ich beobachte, wie er zu den Streifenwagen eilt. Er muss sich gegen heftigen Wind stemmen. Es sieht aus, als wollte er mit dem Kopf durch eine Backsteinwand.

Mein Blick fällt auf vier Polizisten und zwei Sanitäter, die gemeinsam eine Trage über das Lavafeld zur Straße schleppen. Ohne weiter darüber nachzudenken, ziehe ich am Türöffner und springe aus dem Wagen. Eine Windbö presst mir die Luft ins Gesicht, keuchend renne ich Dad hinterher. Seine Haare, normalerweise oberhalb der sauber rasierten Schläfen akkurat zur Seite gekämmt, wehen trotz der großen Portion Gel, die er sich bestimmt immer noch jeden Morgen genehmigt, wild durcheinander.

Ich habe ihn fast eingeholt, da steigt vor ihm eine Frau aus einem der blau blinkenden Wagen. Sie trägt eine schwarze Daunenjacke mit dem Wappen der isländischen Polizei am Oberarm, einem gelben Stern.

»Zurück.« Sie fuchtelt mit den Händen. Ihr rundes Gesicht hat sich in der Kälte gerötet, ihr blonder Pferdeschwanz flattert im Wind.

Dad hört nicht auf sie, er hört auf niemanden. »Was ist hier vorgefallen?«

»Bitte einen Schritt zurücktreten, Sir. Das gilt auch für dich, Miss.«

Dad fährt herum. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst im Auto bleiben.«

Wieso soll ich auf dich hören, wenn du nicht mal auf die Polizei hörst? Aus meiner Sicht wäre das eine absolut schlüssige Argumentation.

Vielleicht kann ich Dad ablenken, indem ich ihn auf die Truppe mit der Trage aufmerksam mache. »Schau mal.«

Es klappt, er wendet sich wieder an die Polizistin. »Hat es hier einen Unfall gegeben?«

»Bitte zurücktreten, Sir«, wiederholt sie bloß.

Die Polizisten und Sanitäter klettern die geschotterte Straßenböschung hinauf, über den frischen, lockeren Schnee. Auf der Trage liegt jemand, abgedeckt mit einem burgunderroten Tuch. Die Polizistin hat alle Hände voll zu tun, Dad aufzuhalten. Ich nutze die Gelegenheit und husche an ihm und ihr vorbei zu ihren Kollegen, die sich immer noch die Steigung hinaufquälen.

»Hey!«, ruft die Polizistin.

So unauffällig wie möglich schiebe ich die Hand in die Tasche, ziehe mein Handy hervor und knipse ein paar Fotos von den Leuten mit der Trage.

Die Frau reißt mich an der Schulter herum. »Entweder ihr zwei verschwindet sofort von hier oder ich lasse euch hier und jetzt festnehmen.«

Ich ernte einen bösen Blick von Dad, als dürften wir nur meinetwegen nicht bleiben, und wir trollen uns.

Zurück im Auto, fischt Dad sein Handy aus der Innentasche seines dunkelblauen Slim-Fit-Sakkos. Man kann nicht behaupten, dass er dem Wetter entsprechend gekleidet wäre, aber darauf achtet hier kein Mensch. Sonst müssten die Isländer das ganze Jahr über in Daunenjacken und Skihosen herumlaufen, und so modebewusst, wie sie sind, siegt im Zweifel immer die Eitelkeit über den Komfort. Wer in Wanderschuhen durch Reykjavík stiefelt, kann nur ein Tourist sein. Ich habe Rósa auf 15 Zentimeter hohen Absätzen über spiegelglattes Eis spazieren sehen.

»Eiríkur hier«, meldet sich Dad am Handy. »Ich bin auf der Reykjanesbraut unterwegs. Hier ist Polizei. Sind bei euch irgendwelche entsprechenden Meldungen reingekommen?«

Am anderen Ende sagt irgendjemand irgendetwas. Ich spitze die Ohren, der Ton ist aber zu leise. Wäre er lauter, würde ich die Antwort verstehen, denn ich spreche fließend Isländisch, Dad und ich unterhalten uns immer in der Landessprache. Manchmal ärgere ich mich fast darüber, dass ich das kann. Wie viel kostbaren Platz diese Sprache, die nur rund 300.000 Menschen sprechen, in meinem Gehirn einnimmt! Es wäre so viel nützlicher, Deutsch oder Spanisch zu können, oder meinetwegen Chinesisch. Andererseits wurde ich nun für meine Verbrechen zu einem Leben in der Verbannung verurteilt und hierhergeschickt wie ein ungezogener Russe nach Sibirien und da ist es vielleicht doch ganz praktisch, mit den Einheimischen kommunizieren zu können.

»Okay«, erwidert Dad. »Ruf unseren Kontakt bei der Hauptstadtpolizei an. Ich bin in einer Stunde wieder im Büro, hoffentlich.«

Er wird also nicht den Tag mit mir verbringen, mir dabei helfen, mich einzurichten, mich in den Arm nehmen und mir versprechen, dass alles gut wird und dass er immer für mich da sein wird. Wer hätte das gedacht.

»Halt mich auf dem Laufenden.« Damit legt er auf.

Dad legt den Gang ein und steuert in einer scharfen Kurve zur Straße.

Wir reihen uns wieder in den zähen Verkehr ein. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und öffne die Fotos von den Leuten mit der Trage.

»Und, wissen die was?« Jetzt kommen wir direkt an dem abgesperrten Bereich am Straßenrand vorbei, also blicke ich noch einmal von meinem Handy auf. Drüben schieben Polizisten und Sanitäter die Trage in den Rettungswagen.

»Nein.«

»Was glaubst du, was da passiert ist?«

»Wahrscheinlich hat sich nur irgendein Tourist wehgetan. Hat angehalten, um Fotos zu machen, hat sich zu weit rausgewagt und ist auf dem Eis ausgerutscht.«

»Aber da war kein Auto.«

»Was?«

»An der Straße stand kein Auto. Da waren nur die Polizei und der Rettungswagen. Und ein Tourist wäre doch mit einem Mietwagen unterwegs gewesen, oder?«

Dad wirft einen Blick über die Schulter.

Seine Theorie hat sogar noch andere Schwachstellen. Ich begutachte noch einmal meine Handyfotos. Zoome die Trage heran. Das burgunderrote Tuch wurde über ihre ganze Länge gebreitet. Von dem Menschen darunter ist nicht das Geringste zu sehen. So deckt man keinen Verletzten zu. So deckt man eine Leiche ab.

Ich wische zum nächsten Foto. Auf den ersten Blick unterscheidet es sich nicht vom ersten. Dann fällt mir ganz am Rand des roten Tuchs etwas Weißes auf. Irgendetwas guckt darunter hervor. Ich vergrößere es. Der gemusterten Webkante nach zu urteilen ist es ein Handtuchzipfel. Und da sehe ich sie. Mir kommt die Galle hoch. Unter dem Handtuch sehe ich dunkelblaue Finger hervorragen. So ergeht es einem also, wenn man erfriert?

Der Verkehr fließt allmählich wieder im üblichen Tempo. Durch die Fahrbewegung wird mir immer schlechter, je länger ich auf das Foto starre. Ich stecke das Handy ein, doch die blauen Finger kriege ich nicht aus dem Kopf. Mein Gehirn ist längst dabei, immer neue Erklärungen für diesen Vorfall zu konstruieren. Und wie ein Suchhund, der sich hechelnd, sabbernd, atemlos auf die Jagd macht, wird es nicht aufgeben, bis es am Ziel ist.

Statistisch betrachtet hat es fast immer denselben Grund, wenn sich hierzulande so viel Polizei an einem Ort versammelt: den tragischen Kältetod eines verirrten Touristen. Doch irgendetwas stört mich an der Sache. Vielleicht, dass kein Suchtrupp zu sehen war, kein Einziger der Freiwilligen, die normalerweise zuerst verständigt werden, wenn Gäste auf Abwege geraten. Oder dass die Polizistin so ein großes Interesse daran hatte, uns schleunigst vom Ort des Geschehens zu entfernen.

Das Verlangen zu wissen, wie es wirklich war, ergreift Besitz von mir. Es ist ein Gefühl, das ich kenne und liebe. Ich spüre einen Energieschub, als käme ich direkt aus dem Fitnessstudio (nicht dass ich jemals eines betreten hätte). Für einen Moment, und wenn er nur von kurzer Dauer ist, bin ich wieder ich selbst, mein wahres Ich, bin ich genau da, wo ich hingehöre, und tue ich genau das, was ich kann.

Woher kommt dieser Drang, immer alles wissen zu wollen? Warum gibt es mir so viel, die Wahrheit aufzudecken?

Ob es wirklich Mord gewesen sein kann? Wohl kaum. Praktisch nirgendwo auf der Welt ist die Mordrate so niedrig wie hier. In Island wird so gut wie nie ein Mensch umgebracht. Doch was so gut wie nie vorkommt, passiert hin und wieder – sehr selten – eben doch. Das ist reine Statistik.

Ich muss an meine Sitznachbarin im Flugzeug denken, an ihre Reiselektüre. Ein düsterer Skandinavien-Thriller mit blutbesudelter Schneelandschaft auf dem Cover. Wieso lesen die Leute so gerne Geschichten über Mord und Totschlag? Gibt es ihnen vielleicht auch einen Kick, der Wahrheit auf die Schliche zu kommen? So wie es mir in meiner Zeit bei der Schülerzeitung ging?

Bei meinem Rauswurf habe ich dem Rektor erklärt, ich hätte aus Überzeugung gehandelt. Wenn ich tief in mich hineinschaue, glaube ich allerdings, ich hatte eher andere Gründe. Welche das sein könnten? Da bin ich mir selbst nicht so sicher.


Foto: Auf einem Konferenztisch steht ein Silbertablett mit einer Flasche Voss Artesian Water und einigen auf Hochglanz polierten Gläsern.

Filter: Juno

Bildunterschrift: Auf der Arbeit. Vorbereitungen für eine Präsentation. Aufregend! #liebemeinleben

2409

Wie die Bildunterschrift hätte lauten sollen …

Option 1: Die Welt ist voller Trigger. Heute war es ein Glas Wasser. Morgen wird es etwas anderes sein.

Option 2: Ich dachte, ich kann selbst über mein Leben bestimmen, kann selbst darüber entscheiden, welchen Weg ich gehen will. War das ein Irrtum?

Option 3: Heute sieht mein Gefängnis aus wie ein Aquarium, aus dem irgendwer das Wasser gelassen hat, und ich bin der Fisch.

Das dunkle Flüstern der Schneeflocken

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