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HANNAH

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Ein Facebook-Freund von mir, ein Typ, den ich kaum kenne, der aber auf meine Schule geht – auf meine ehemalige Schule, muss man wohl sagen – hat gerade seinen Großvater verloren. In einem herzerwärmenden Post schildert er, was ihm sein Opa bedeutet hat, wie viel er von ihm gelernt hat und wie schlimm er ihn vermissen wird. Wenn ich so etwas lese, fühle ich mich wie eine Verräterin. Ich habe meiner Mum nie auf Social Media gedacht.

Wollte ich das nachholen, könnte ich in etwa schreiben: Ich habe gerade meine Mum verloren. Sie hinterlässt eine unvorstellbar große Lücke in meinem Leben. Seit sie nicht mehr da ist, fühle ich mich so leer.

Soweit würde alles der Wahrheit entsprechen. Wie es danach weitergehen soll, das wäre allerdings ein bisschen knifflig. Ich könnte schreiben: Meine Mutter war mein Fels in der Brandung, mein Vorbild, mein größter Fan. Das wäre gelogen.

Um bei der Wahrheit zu bleiben, müsste es ungefähr so weitergehen: Mit meiner Mum ist der Mittelpunkt meines Daseins verloren gegangen. Klingt doch schön, oder? Ja, das entspricht den Erwartungen. Das danach nicht unbedingt: Seit meinem zwölften Geburtstag habe ich mich um meine Mum gekümmert. Die meisten von euch haben keine Ahnung davon. Ich habe diesen Teil meines Lebens, so gut es ging, vor der Außenwelt versteckt. Und jetzt, wo Mum weg ist, weiß ich buchstäblich nichts mehr mit mir anzufangen. Was soll ich mit meiner Zeit anfangen, wenn ich nicht mehr für sie kochen, einmal am Tag mit ihr spazieren gehen oder ihr mitten in der Nacht ein Glas Wasser bringen muss, weil sie wieder brüllt, dass die Stimmen in ihrem Kopf aufhören sollen? Wenn ich nicht mehr ihre Klamotten waschen muss, damit sie, wenn sie aus dem Haus geht, nicht nach dem Alkohol stinkt, den sie sich im Suff über ihr Top gekippt hat? Wenn ich sie nicht mehr überreden muss, ihre Tabletten zu nehmen oder vom Dach runterzusteigen, statt zu springen?

Die Social Media wurden nicht erfunden, um andere Menschen am wahren Leben teilhaben zu lassen. Kein Mensch verfasst Twitter-Posts über seine Seelenqualen, kein Mensch berichtet auf Facebook von seinen tiefsten Leiden, kein Mensch lädt auf Instagram ein Foto von neulich hoch, als er zwei Stunden lang den Badezimmerboden schrubben musste, den seine Mum vollgeschissen hat, weil sie vor lauter Benebelung nicht mehr zur Toilette gefunden hatte.

Deshalb mache ich es so: Ich knipse ein Foto von dem gerahmten Foto von Mum und mir, das ich aus London mitgenommen habe, und stelle es auf Instagram. Das ist meine schönste Erinnerung an Mum. Streng genommen kann es keine richtige Erinnerung sein – auf dem Foto bin ich nur ein paar Tage alt und wer erinnert sich schon an seine ersten paar Tage. Aber ich gönne es mir, trotzdem so zu tun, denn manchmal macht sich im Leben einfach so viel Realität breit, dass man nur noch mit ein bisschen Selbsttäuschung durchkommt.

Es ist sieben Uhr früh. Ich sollte mich fertig machen, liege aber noch im Bett. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten habe ich geschlafen wie ein Stein. In meinem ganzen Leben habe ich nie in einem gemütlicheren Bett gelegen als hier in Dads Gästezimmer, auf der Matratze mit Visco-Schaum und unter der mollig warmen, aber federleichten Decke aus isländischen Eiderdaunen.

Bei meinen Besuchen übernachte ich immer im Gästezimmer. Es ist ein kleiner Raum mit Bett, schmaler Kommode und winzigem Flachbildfernseher. Diesmal hat Dad, oder wahrscheinlich war es Rósa, aber versucht, ein bisschen Leben reinzubringen. Auf der Kommode stehen neuerdings zwei Teelichthalter aus moosgrünem Glas. Auf dem Bett lag eine Tagesdecke. Über dem Fernseher hängt jetzt ein gerahmter Kunstdruck von den Mumins.

Es ist schön geworden, das muss ich zugeben. Es sieht nicht mehr unbedingt nach Gästezimmer aus, sondern mehr nach einem Zimmer, in dem jemand auf Dauer wohnt.

Auf Dauer. Der Gedanke trifft mich wie ein Faustschlag, der die Panik wellenartig durch meinen Körper schwappen lässt und mich so aus meinem friedlichen Halbschlaf reißt. Zum ersten Mal wird mir wirklich klar: Hier bin ich jetzt zu Hause.

Ich kann hören, wie Dad, Rósa und die Zwillinge ein Stockwerk höher Frühstück machen. Es wird in einer Pfanne gekratzt, es wird mit Besteck geklappert und gelacht. Es riecht nach Speck. Ein heimeliges Bombardement der Sinne, von dem ich mich irgendwie in die Defensive gedrängt fühle. In meinem alten Leben habe ich normalerweise bloß eine Schüssel Frühstücksflocken heruntergeschlungen, bevor ich zur Schule aufgebrochen bin, während Granny Jo ihren Kaffee meistens erst unterwegs getrunken hat. Meine Mum ist nur selten vor zwölf aus dem Bett gekommen.

Andererseits glaube ich kaum, dass in diesem Haus immer so ausgiebig gefrühstückt wird. Da oben laufen die Vorbereitungen für meine Willkommensparty. Die soll um 7.30 Uhr steigen. Im Wochenablauf der Familie, der mit Arbeit, Schule und den überaus zahlreichen außerschulischen Aktivitäten der Zwillinge vollgestopft ist, hat sich kein anderes Zeitfenster finden lassen.

Ich stehe auf, ziehe mich an und gehe um Punkt 7.30 Uhr hoch zur Küche. Zunächst bemerken mich die anderen nicht und von der Tür aus verschaffe ich mir einen Überblick. Rósa steht vor der lärmenden KitchenAid-Küchenmaschine, die kaum in Betrieb ist, aber als Ausdruck von Rósas Gespür für modernes Design stets auf der Arbeitsplatte thront. Dad platziert Erdbeeren in einer Glasschale mit breitem Stiel, einer Art Pokal. Ich erkenne, dass es sich um ein Produkt von Iittala handelt. Von dieser Designer-Glasschmiede ist Rósa derart begeistert, dass man das Haus fast mit deren Fertigungshalle verwechseln könnte. Jede Wette, dass die Teelichthalter in meinem Zimmer ebenfalls von Iittala sind.

Die Zwillinge sitzen jeweils mit einem iPad in der Hand am Küchentisch. Und Alda ist auch da. Mein Herz macht einen Hüpfer. Endlich ein freundliches Gesicht. Alda ist Dads große Schwester und soweit ich es beurteilen kann, können sich die beiden nicht ausstehen. Vielleicht sind Mum und Alda deswegen trotz allem immer so gut miteinander ausgekommen.

Alda, die bisher Zeitung gelesen hat, sieht hoch und bei meinem Anblick breitet sich auf ihrem komplett ungeschminkten Gesicht ein Strahlen aus.

»Hey!«, ruft sie und springt auf. »Schaut mal, wer aufgewacht ist!«

Sie stürmt auf mich zu und drückt mich so fest, dass ich definitiv eine Rippe krachen höre. Dabei haben wir uns erst vor ein paar Wochen gesehen. Aus Dads Familie ist nur Alda bei Mums Einäscherung aufgetaucht.

»Wie geht es dir?«

Ich zucke bloß mit den Schultern. Das ist leichter, als zu antworten: Meine Mum ist gerade gestorben und jetzt soll ich ausgerechnet hier am Abgrund der Hölle leben, aber ansonsten ist alles supi.

»Morgen, Hannah«, sagt Rósa, stellt die Küchenmaschine ab und dreht sich zu mir, ein gequältes Lächeln auf den Lippen. So lächelt man einen Wildfremden an, den man dabei ertappt, wie er einen auf der Straße anstarrt, damit er einen bloß nicht auch noch anspricht, sondern schön abhaut.

Alda wendet sich an die Zwillinge. »Und, wie findet ihr es, dass eure große Schwester jetzt endlich bei euch wohnt?«

Die Zwillinge machen sich nicht mal die Mühe, von ihren iPads aufzublicken, aber das sollte ich wohl nicht auf mich beziehen. Sie sind zwölf. Ísabella und Gabríel. Heimlich nenne ich sie Wednesday und Pugsley, denn sie sehen aus wie die Kinder aus der Addams Family, nur in blond. Schon als die beiden richtig klein waren, habe ich mich von ihnen immer ein bisschen eingeschüchtert gefühlt.

»Ihr könnt froh sein, dass ihr jetzt eine große Schwester habt, die auf euch aufpasst«, fügt Alda hinzu, obwohl die Zwillinge ihr allem Anschein nach nicht zuhören. »So wie ich auf euren Dad aufpasse. Jeder braucht eine große Schwester.«

Dad schnaubt. »Behauptest du.«

Alda ignoriert ihn.

Er stellt die Schale mit den Erdbeeren auf den Küchentisch. Dessen Oberfläche glänzt so weiß, dass es fast in den Augen wehtut. Das Zuhause von Dad und Rósa besteht praktisch nur aus weiß glänzenden Flächen, klaren Linien und Chrom. Der pure Minimalismus. Man fühlt sich eher wie in einem Ausstellungsraum als wie in einem Haus, in dem echte Menschen wohnen.

Dad sieht mich an. »Willst du so ins Büro gehen?«

Ich trage ein weißes T-Shirt, eine Lederjacke und eine Skinny-Jeans. In der Talkshow auf BBC habe ich neulich eine Journalistin in einem ähnlichen Outfit gesehen. Cooler Look, fand ich.

»Und diese violette Strähne in deinen Haaren …«, setzt Dad erneut an. »Rósa hat gesagt, sie nimmt dich gerne zu ihrem Friseur mit, um das in Ordnung bringen zu lassen.«

Jedes Mal, wenn ich Mut fasse und mir sage Hey, so schlimm wird es schon nicht werden, haut Dad so einen Spruch raus. Am liebsten würde ich ihn anschreien, aber nicht vor den Zwillingen.

»Dir ist schon klar, dass die Strähne Absicht ist?« Ich zwinge mich zu lächeln. »Ich war ja nicht eines Tages spazieren und plötzlich hat mir eine Taube eine Ladung Intensivtönung auf den Kopf gekackt, die zufällig zu einem Streifen verlaufen ist.«

Das tut Dad ständig. Dauernd mäkelt er an meinem Aussehen herum. Er spricht es nicht direkt aus, macht aber abfällige Bemerkungen oder mustert mich mit einem Ausdruck stillen Grauens.

»Ganz wie du willst.« Damit wendet er sich ab, um die übrigen Speisen aufzutragen, als wäre das alles keine große Sache, als hätte ich auf einen harmlosen Vorschlag vollkommen überreagiert.

Die violette Strähne hat mit meiner Suche nach mir selbst zu tun, genauer gesagt mit der Suche nach meinem eigenen Stil. In den letzten paar Jahren habe ich bewusst verschiedene Richtungen ausprobiert. Die erste war ein harter Beinahe-Gothic-Look. Ich färbte mir die Haare schwarz und malte mir immer, also wirklich immer, die Lippen rot. Dann kam der Nerd-Look. Ich holte mir eine runde Fensterglasbrille von Topshop und zog einen karierten Rock und Kniestrümpfe an. Danach probierte ich etwas aus, das ich inzwischen »Clown-Look« nenne. Die Idee hatte ich von ein paar Leuten auf Instagram. Sie trugen einen Mischmasch aus Klamotten, der streng genommen überhaupt nicht zusammenpasste, aber insgesamt trotzdem ein fantastisches Outfit für Augenblicke ergab, in denen man lässig an Straßenecken posierte, egal ob auf Fotos in den Social Media oder im Now Magazine. Wenn man aber auf dem Bahnsteig stand und auf die nächste U-Bahn wartete, machte man sich mit diesem Look einfach nur lächerlich.

Dad kehrt mit einem riesigen, mit Rührei und Räucherlachs beladenen Servierteller zum Tisch zurück.

»Setzt euch doch.« Er stellt den Teller ab. »Ich habe bei der Arbeit angerufen und Bescheid gesagt, dass Hannah und ich eine Stunde später kommen.«

Wow. Er gibt sich wirklich Mühe und das ist nicht ironisch gemeint. Dads Job ist sein Ein und Alles. Für ihn ist es ein großes Opfer, eine Stunde Arbeitszeit aufzugeben, höchstens vergleichbar mit einer Organspende. Dads und Rósas Streits drehen sich immer um seine Arbeit. Er ist nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause gekommen. Sie hat extra einen Babysitter besorgt, aber sie haben trotzdem die Aufführung von Mahlers Zweiter im Harpa-Konzerthaus verpasst (Dad hasst klassische Musik und ich habe den Verdacht, dass Rósa auch nicht viel davon hat, doch sie besteht darauf, jeden zweiten Monat dem Isländischen Sinfonieorchester zu lauschen, denn wer kultiviert und wichtig erscheinen will, trifft dort auf andere Leute, die kultiviert und wichtig erscheinen wollen).

Ich setze mich neben Ísabella, die immer noch gebannt in ihr iPad glotzt. Alda nimmt gegenüber von mir Platz. Dad trägt immer mehr Essbares auf: Schweineleberpastete, Brotaufstrich aus Lammfleisch, Speck, Skyr mit Blaubeeren, Müsli. Auf isländischen Partys muss es immer zehnmal so viel geben, wie es braucht, um alle Gäste satt zu bekommen.

»Und, Alda, findest du, ich sollte Rósas Angebot annehmen und sie zu ihrem Friseur begleiten?« Um Dads große Geste zu würdigen, schlage ich einen versöhnlichen, fröhlichen Ton an.

Alda zuckt nur mit den Schultern. »Mach ruhig. Oder auch nicht. Ist egal.« Wenn man sich den struppigen grauen Haarwust, der ihr vom Kopf bis zur Hüfte hängt, ihre senffarbene Strickweste und ihre knittrige Bluse so ansieht, war sie wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch nie beim Friseur oder in einem Geschäft, in dem kein Second-Hand-Kram für den guten Zweck verkauft wird.

»Ich meine, ich will ja hier reinpassen.« Was ich zur Hälfte ehrlich meine, was zur anderen Hälfte aber Dads unbedingten Willen zur Konformität befriedigen soll. »Vielleicht sollte ich das Ganze als Chance sehen, mich neu zu erfinden. Hier kennt mich niemand. Ich kann sein, wer ich will.«

Alda stöhnt auf. »Warum sind die jungen Leute von heute alle so besessen davon, wer sie sind? Statt immer irgendwer sein zu wollen, könntest du doch einfach mal nur sein. Lass deine verschiedenen Ichs durch dich fließen. Lass sie nacheinander zum Vorschein kommen, von alleine, ganz natürlich, wenn ihnen danach ist. Du darfst nicht ständig versuchen, irgendwer zu sein. Du musst lernen, niemand zu sein, das ist die Kunst.«

Alda greift nach der braunen Lederaktentasche auf dem Boden. Die hat sie, seit ich denken kann, und wüsste ich es nicht besser, würde ich ihr unterstellen, damit ihren Status signalisieren zu wollen: Professorin der Geschichte an der Universität Island. Aber natürlich hat sie sich die Tasche ohne Hintergedanken ausgesucht. Für Alda haben Äußerlichkeiten, wie Kleidung und Accessoires, keine Bedeutung.

Aus einem silbernen Etui nimmt sie eine Zigarette und steckt sie zwischen die Lippen. Sie kommt aber nicht dazu, sie anzuzünden – Dad schreitet ein.

»Wie oft denn noch? Bei uns wird nicht geraucht.«

»Ist ja gut.«

Dad trägt die Schlagsahne, die Rósa vorhin gemacht hat, zum Tisch. »Dass du überhaupt noch rauchst! Hast du nicht mitbekommen, welches Jahrhundert wir haben? Hat dir niemand gesagt, dass man daran sterben kann?«

Alda zieht eine Grimasse. »Du redest wie Dad.«

»Woher willst du wissen, wie Dad heutzutage redet? Wann hast du unsere Eltern das letzte Mal besucht?«

»Halt’s Maul, Eiríkur.«

Mein Körper verkrampft sich. Völlig grundlos, wie ich weiß. Das ist noch gar nichts. Das ist ein ganz normales Gespräch zwischen Dad und Alda. Und trotzdem ist da dieses Gefühl, weil ich bin, wo ich bin, und wegen der Erinnerung an das ewige Geschrei zwischen meinen Eltern, als ihre Liebe zu Ende ging und Mum und ich von hier wegzogen, von Island zurück nach London, ich mit meinen vier Jahren.

Ich muss der angespannten Atmosphäre entkommen. Als Vorwand schnappe ich mir ein leeres Glas vom gedeckten Tisch und stehe auf.

»Ich brauche was zu trinken.«

Ich gehe zum Wasserhahn und hole mir etwas. Doch auf dem Rückweg rutscht mir das elegant geformte Glas irgendwie durch die Finger und landet auf dem Boden, wo es mit einem Knall in eine Million Stückchen zerschellt.

Jetzt habe ich meinen Willen: Es wird still. Alle sehen mich an. Dad, Alda, Rósa, die vor der Kaffeemaschine steht, einen Löffel frisch gemahlenen Kaffee in der knapp über dem Filterhalter erstarrten Hand. Sogar die Zwillinge blicken von ihren iPads auf.

»Tut mir leid, es tut mir so leid.« Überall auf dem grob gemaserten Parkettboden aus hübscher Weißeiche haben sich Wasser und Scherben verteilt. Gebückt klaube ich die ersten Teile mit spitzen Fingern auf und lege sie in meine Handfläche.

»Nicht!« Rósa eilt zu mir. »Du schneidest dich noch.« Sie dreht meine Hand herum, das aufgesammelte Glas fällt wieder herunter. »Ich hole den Staubsauger.«

Ich weiß, was sie alle denken: Das ist der Fluch.

Ich kenne die Symptome: Halluzinationen, Selbsttäuschung, Verwirrtheit, Rückzug aus dem sozialen Umfeld, Antriebslosigkeit, irrationales Denken, Wahnvorstellungen, Stimmen im Kopf. Ich kenne die Fakten und Statistiken: Im späten Jugend- und frühen Erwachsenenalter liegt die Wahrscheinlichkeit eines Ausbruchs des Fluchs am höchsten. Bei 40 Prozent der Männer und 23 Prozent der Frauen, die vom Fluch betroffen sind, tritt er noch vor dem 19. Geburtstag in Erscheinung. Und über die Ursachen weiß ich ebenfalls Bescheid: Der Fluch kann sowohl vererbt als auch durch Umweltbedingungen begünstigt werden.

Doch ich kann noch so lange recherchieren – ob ich verflucht bin oder nicht, werde ich so nicht herausfinden.

Als ich vom Highbury College geflogen bin, hat Dad es zwar nicht laut gesagt, aber er hat es ohne Zweifel gedacht: Es ist so weit. Es geht los. Der Schule verwiesen zu werden, genau so ein Desaster wäre auch Mum zuzutrauen gewesen.

Dass Mum so spontan und sprunghaft war, dass man bei ihr immer mit allem rechnen musste, das hatte Dad so gut gefallen, als sie sich kennengelernt hatten. Später jagte sie ihm deswegen Angst ein. Noch später hasste er sie deswegen. So hat Granny Jo es mir zumindest geschildert.

Rósa kehrt mit dem Staubsauger zurück.

Ich starre auf die Glasscherben in der Wasserpfütze. Sie sehen aus wie Eisschollen auf einem weiten Meer. Auch Tollpatschigkeit ist ein erstes Anzeichen des Fluchs.

Mit einem riesigen Knäuel Küchenpapier wischt Rósa das Wasser auf.

Dad streckt die Hand nach dem Radio am Tischende aus, schaltet es ein.

»Dad«, sagt Ísabella mit nöliger Stimme, »kannst du mir das neue iPhone kaufen? Sandra hat das neue iPhone schon und Guðrún auch.«

Gabriel fischt eine Erdbeere aus der Glasschale mit Stiel. »Wenn Ísabella ein neues Handy kriegt, will ich ein neues Fahrrad.«

»Schhhh!« Zischend zeigt Dad auf das Radio. Es ist acht Uhr, die Nachrichten fangen an. Wenn Dad Nachrichten hört, wird nicht gesprochen.

Mein Hals schnürt sich zu. Von der merkwürdigen Geruchsmixtur aus süßen Erdbeeren und rauchigem, ein bisschen angebranntem Speck wird mir übel. Ein leichtes Brennen in meiner rechten Handfläche. Ich öffne die Hand. Sie blutet. Ich habe mich an einer Scherbe geschnitten.

Dad dreht das Radio auf. Es dröhnt, als hätte er mir eine Bohrmaschine an den Kopf gesetzt. »Premierminister Sigmundur Benediktsson hat auf Vorwürfe reagiert, seine Familie habe versucht, ein Millionenvermögen auf Offshore-Konten zu verschieben.« Wieso muss Dad die Nachrichten immer in maximaler Lautstärke hören?

»Weiter zu den Meldungen aus aller Welt«, brüllt der Nachrichtensprecher oder so kommt es jedenfalls bei mir an. »Vom militärischen Nachrichtendienst Großbritanniens konnte ein russischer Cyberangriff auf das britische Ministerium für Gesundheit und Soziales verhindert werden.«

Ich muss definitiv möglichst schnell hier raus. Ich gehe auf mein Zimmer. Doch als ich mich gerade auf dem Absatz umgedreht habe, verstummt der Sprecher. Erst nach einer kurzen Pause geht es weiter.

»Es gibt neue Erkenntnisse zu dem Toten, der gestern in einer Felsspalte in Hvassahraun aufgefunden wurde.«

In der Küchentür bleibe ich stehen. Ein Toter in Hvassahraun? Da sind wir auf der Fahrt vom Flughafen vorbeigekommen, an dem Lavafeld.

»Die Leiche wurde inzwischen identifiziert. Es handelt sich um den 42-jährigen Mörður Pórðarson.«

»Nicht zu glauben!«, platzt Alda heraus. »Den kenne ich. Er arbeitet auch an der Universität. Hat ein eigenes Forschungslabor, das heißt DataPsych oder irgend so was Albernes.«

»Schhhh«, macht Dad.

Der Nachrichtensprecher fährt fort. »Pórðarson lebte in Reykjavík. Er hinterlässt seine Ehefrau und zwei kleine Kinder. Die Polizei zieht die Möglichkeit in Betracht, dass es sich nicht um einen natürlichen Tod gehandelt haben könnte.« Noch eine Pause. »Und nun zum Wetter.«

Ich gehe zum Küchentisch und setze mich wieder hin. Das heißt doch, es war Mord, oder? Wieso sollte man sonst diese »Möglichkeit in Betracht ziehen«?

Der Gestank des angekokelten Specks und das Dröhnen des Radios stören mich nicht mehr. Ich achte nicht mehr darauf, wie verbissen Alda ihr Nikotinkaugummi bearbeitet, ich blende das Gezänk der Zwillinge aus. Es ist, als hätte ich einen Krimi aufgeschlagen: Um mich von meinen eigenen Sorgen abzulenken, versuche ich, Zusammenhänge herzustellen und der Wahrheit näherzukommen, bis der Mörder entlarvt ist, und begrabe so mein Leid unter dem Leid anderer.


Foto: Auf einer abgenutzten Tischplatte steht ein leeres Whiskyglas.

Filter: Gingham

Bildunterschrift: Wenn dir das Leben Zitronen gibt … dann bestell dir besser einen Whisky Sour.

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Wie die Bildunterschrift hätte lauten sollen …

Option 1: Auf meinem ersten Instagram-Foto überhaupt war ein Pint Bier zu sehen, das ich in der Union Bar in Cambridge getrunken habe. Das Bier war lauwarm und der Tisch, an dem ich mit lauter anderen Erstsemestern saß, war alt und wackelig. Aber es war ein Gefühl, so frisch wie die ersten Blätter im Frühling. Obwohl ich nur zwanzig Follower hatte, ploppte schon Sekunden nach dem Posten des Fotos mein erstes Instagram-Like auf. Als die Benachrichtigung mit dem kleinen roten Herz aufleuchtete, spürte ich ein angenehmes Kribbeln in meinem eigenen Herzen. Ich wurde gesehen. Ich wurde gehört. Durch diese Anerkennung von außen wirkte der Moment irgendwie größer. Er hatte Bedeutung. Er war fast realer. Schon diese allererste Dosis Insta-Liebe machte mich abhängig.

Option 2: Bin ich süchtig nach Bestätigung durch Menschen, die ich nicht kenne?

Option 3: Oder geht es mir nur ums Geld?

Das dunkle Flüstern der Schneeflocken

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