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FÜNF WOCHEN ZUVOR IN LONDON IMOGEN

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Imogen Collins betrachtet sich im Spiegel. Ihre Haut sieht heute wirklich gut aus, kein Vergleich zu noch vor einem Jahr. Da hat sie jeden Morgen damit verbracht, Pickel und Unreinheiten mit einer Foundation zuzukleistern, die dick wie Wandfarbe war. Ob die Nachtcreme für unreine Haut, die sie von den L’Oréal-Leuten zugeschickt bekommen hat, tatsächlich die Lösung war? Oder liegt es an weniger Stresshormonen und größerem Abstand zwischen ihr und dem Monster?

Shit. Da ist es wieder. Das Monster. Andauernd schleicht es sich an und drängt sich ungefragt, gegen ihren Willen in ihre Gedanken. Ein Jahr ist seitdem vergangen und trotzdem will sein Schatten nicht verschwinden, nicht einmal an einem sonnigen Tag wie heute. Vielleicht sollte sie sich doch Hilfe suchen. Sich ein paar Tabletten besorgen oder so.

Draußen knarren Bodendielen. Auf der anderen Seite ihrer geschlossenen Zimmertür hört Imogen Schritte – leise, behutsame Tapser. Das kann nur Anna sein. Wenn Steph und Josh früh aufstehen, denken sie nie daran, dass andere eventuell noch schlafen. In fünf Minuten ist also der Kaffee fertig. Anna macht immer auch eine Tasse für Imogen. Imogen liebt Anna. Wäre Anna ein Mann, würde Imogen sie daten. Ach was, sie würde sie heiraten. Mit keinem anderen Menschen lebt es sich so angenehm wie mit Anna. Sie ist ruhig, sie kocht gerne, sie kann einen heftigen Mojito mixen. Der perfekte Partner. Was will man mehr?

Ein bisschen was würde Imogen schon einfallen: Augen, die irre braun und durchdringend sind; ein freches Lächeln, dessen Strahlen Stoff für ganze Nächte aus leicht peinlichen erotischen Träumen bietet; und steinharte Bauchmuskeln (die sie versehentlich gestreift hat, als sie beide gleichzeitig an die Latzugmaschine im Fitnessstudio wollten).

Heute Abend ist ihr Date mit Callum. Imogen hat ihn gefragt, nicht andersherum. Sie kennt ihn nicht wirklich. Im Gym haben sie sich ein paarmal kurz unterhalten, und seitdem ist Imogen sich ziemlich sicher, dass sie nicht das Geringste gemeinsam haben. Er arbeitet abends als Barkeeper und tagsüber als freiberuflicher Tätowierer. Doch sie will nach vorne blicken, endlich aus dem Schatten treten. Hör auf damit, Imogen. Wieso muss sich immer alles um ihn drehen? Wieso muss er immer alles besudeln? Kann ein Date nicht einfach ein Date sein und kein Versuch, nach vorne zu blicken, zu vergessen, neu anzufangen, einen neuen Weg zu finden oder sonst irgendein Scheiß? Eigentlich geht es ihr doch gut. Sie sollte glücklich sein. Ständig erklärt ihr irgendwer, was für ein fantastisches Leben sie doch habe. »Ich wünschte, ich könnte es dir nachmachen«, sagen sie, legen den Kopf schief und lächeln dabei, als würden sie sich unendlich für sie freuen, während sich in ihren eiskalten Augen unbewusst der Neid spiegelt.

Erst gestern ist sie in Covent Garden auf der Straße von einem staunenden Fan angesprochen worden.

»Bist du Imogen Collins?«, fragte das Mädchen. Es war höchstens zehn Jahre alt und in Begleitung einer erwachsenen Frau unterwegs, vermutlich seiner Mutter.

»Ja, ich bin Imogen«, antwortete Imogen und schenkte dem Mädchen ein professionelles Lächeln, das sie sich extra antrainiert hatte, um a) Offenheit auszustrahlen (weil es ebenso wichtig ist, bestehende Follower zu binden wie neue zu gewinnen), b) Überraschung auszudrücken (um das Mädchen glauben zu machen, sie wäre etwas ganz Besonderes, nämlich der erste Mensch überhaupt, der Imogen auf der Straße erkannt hat) und c) nett zu wirken (denn wer folgt schon gerne dem perfekten Leben einer arroganten Bitch?).

»Können wir ein Selfie machen?«, fragte das Mädchen.

Imogen war auf dem Rückweg von einer längeren Mittagspause und hatte es eilig, ins Büro zu kommen. »Aber natürlich, Süße.«

Als sie danach weiter die King Street hinunterlief, hörte Imogen die Mutter noch fragen: »Wer war das denn?«

Imogen legt die Hände flach auf den Schminktisch und atmet tief ein, eine Methode der Angstbewältigung, von YouTube. Manchmal funktioniert sie, manchmal nicht. Doch Imogen mag das Gefühl der kühlen Holzplatte unter ihrer feuchten Haut. Sie liebt ihren Schminktisch. Er ist aus Walnussholz gefertigt, passt aber trotzdem gut in die heutige Zeit: ein Spiegel ohne Rahmen, Schubladen ohne Griffe. Anna, Josh und Steph hat Imogen erzählt, sie habe ihn in einem Trödelladen entdeckt. Tatsächlich hat sie ihn von Heal’s und 3.299 Pfund dafür bezahlt. So viel verdienen die anderen nicht mal in zwei Monaten. Imogen kann es sich leisten. Sie könnte es sich beinahe leisten, allein in dem Vier-Zimmer-Haus in Bloomsbury zu wohnen statt mit drei anderen. Doch sie hat gerne Gesellschaft. Sie braucht Gesellschaft. Alleinsein bekommt ihr nicht mehr so gut. Sobald sie allein ist, wächst der Schatten, wird dunkler –

Hör auf damit. Hör einfach auf.

Imogen öffnet eine der Schubladen und entnimmt ihr eine Dose mit Puder, einen Pinsel und Wimperntusche. Alle glauben, sie würde sich jeden Morgen stundenlang zurechtmachen, sich schminken, Kleidungsstücke auswählen. Tut sie nicht. Tatsächlich interessiert sie sich gar nicht so sehr für Make-up und Klamotten, oder jedenfalls nicht mehr als alle anderen auch. Ihre Social-Media-Karriere hat sie nur aus einer Laune heraus gestartet, dann drehte sich die Spirale immer schneller und Imogen verlor die Kontrolle, wie so oft in ihrem Leben. Was sie auch tut, irgendwie gerät sie jedes Mal in eine solche Spirale.

Aus der Küche ist ein schrilles Piepen zu hören. Eins, zwei, drei, Kaffee ist fertig. Eilig schmiert Imogen sich die Wimperntusche drauf. Das Zeug klumpt. Egal. Die Instagram-Fotos für diese Woche sind alle schon gemacht.

Imogen greift zu ihrem Flakon Coco Mademoiselle und sprüht sich eine großzügige Ladung auf die Haut – das Einzige, was in ihrer Morgenroutine nicht fehlen darf, ohne geht sie nicht aus dem Haus. Dann klappt sie ihren Laptop auf und stellt ihn vorsichtig auf den Schminktisch.

Sie will jeden Tag möglichst zwei Posts platzieren, einen vor der Arbeit und einen am Nachmittag. Gestern Abend hat sie vor dem Schlafengehen das Bild für heute Morgen ausgesucht und die Bildunterschrift verfasst. Es ist ein bezahlter Beitrag. Auf dem Foto steht Imogen an einem grauen Regentag auf einer belebten Londoner Straße, in ein schönes pinkfarbenes Sommerkleid von Topshop gehüllt. Die Bildunterschrift lautet: »Sommer ist eine Einstellungssache.«

Das Bild stammt vom letzten Wochenende. Auf dem Foto lächelt Imogen. Es sieht aus, als würde sie einen tollen Tag erleben, aber sie weiß noch, wie elend ihr zumute war. Ihr war kalt und sie hatte einen üblen Kater, weil sie am Vorabend zu viele von Annas Mojitos erwischt hatte. Auf dem Foto schirmt Imogen sich mit einer Ausgabe des Guardian von den dicken Regentropfen ab – als sie wieder zu Hause war, war von der Zeitung nur noch ein unlesbarer Klumpen Papierpampe übrig gewesen. Imogen kauft sich jeden Samstag den Guardian, er erinnert sie an zu Hause. Daran, wie Mum und Dad sich immer um den Kulturteil gestritten haben. Mit ihren Eltern hat sie … wie lange nicht mehr gesprochen? Jetzt ist August. Ihr epischer Skype-Streit war im März. Also: März, April, Mai, Juni, Juli … Mit ihren Eltern hat Imogen seit fünf Monaten nicht mehr gesprochen. Wow. Dass es schon so lange her ist, hätte sie nicht gedacht.

Auch das hat das Monster ihr genommen. Ihre Eltern hatten kein Verständnis für ihre Entscheidung. Imogen wollte es ihnen nicht erklären. Ergebnis: Stillstand.

Und wenn schon. Sie hat ein fantastisches Leben. Jede junge Frau würde liebend gern mit ihr tauschen. Alle wollen es ihr nachmachen. Sie hat Glück. Sie ist stark. Sie ist nicht kaputt.

Doch wenn sie sich nicht beeilt, wird sie trotzdem gefeuert. Verlässt sie nicht in spätestens acht Minuten das Haus, kommt sie zu spät zur Arbeit. Zu Fuß braucht sie 17 Minuten. Zur Hauptverkehrszeit, wenn auf den Straßen besonders viel los ist, sogar 20.

Imogen steht von ihrem Stuhl auf, einem zum Schminktisch passenden Walnussholzmöbel von Heal’s. Sie müsste nicht arbeiten gehen. Instagram allein bringt ihr doppelt so viel ein, wie sie bei London Analytica verdient. Doch der Influencer-Job kann keine echte Karriere ersetzen, zumindest nicht auf Lebenszeit. Es ist wie beim Fußball: Nach ein paar guten Jahren ist man fertig und raus. Heute ist man ein Star, morgen weiß niemand mehr, wie man eigentlich heißt. Aber darauf bereitet Imogen sich vor und deshalb hat sie alles unter Kontrolle. Es fühlt sich jedenfalls so an.

Die Türen ihres Kleiderschranks stehen offen. Er ist so voll, dass sie nicht mehr richtig zugehen. Seit Imogen in Sachen Follower die Millionen-Marke geknackt hat, schicken ihr die ganzen Firmen bergeweise Klamotten. Wahrscheinlich wird sie nie wieder waschen müssen.

Imogen wählt nach dem Zufallsprinzip ein Oberteil aus: eine weiße Schluppenbluse mit roten Blumen drauf. Sie reißt das Etikett ab, schlüpft hinein und sammelt schnell ihre Jeans vom Boden auf.

Wie sie sich auf den Kaffee freut, auch wenn sie ihn wahrscheinlich to-go trinken muss. Vor einem Monat hat sie auf Instagram ein Foto von ihrem alten Thermobecher gepostet, einem chromfarbenen Bodum-Teil, das sie vor den A-Levels von ihrer Mum geschenkt bekommen und mit Aufklebern verziert hatte, die offenbarten, was ihr damals, vor gefühlt ewig langer Zeit, noch nicht peinlich gewesen war: etwa ihre unsterbliche Liebe zu One Direction, Hello Kitty und Taylor Swift. Seit diesem Post schicken ihr Hersteller aus aller Welt neue Thermobecher.

Gerade als Imogen ihre Jeans zuknöpft, durchbricht ein kaum hörbares Summen die morgendliche Stille. Über Nacht stellt sie ihr Handy immer auf schwache Vibration. Sie hat Fans auf der ganzen Welt, auch etliche in Australien und den Vereinigten Staaten. In manchen Nächten bekommt sie mehr als eintausend Benachrichtigungen.

Imogen scrollt durch die Meldungen. In der Zeitung hat sie mal gelesen, dass die Anzahl der Likes, die man auf Social Media erhält, Einfluss auf das Selbstwertgefühl habe. Das hat ihr sofort eingeleuchtet. Ihr Post von gestern Abend, ein Foto ihrer Bettlektüre, war ein Erfolg. Sie spürt, wie sich ihre Stimmung aufhellt, wie sich der Schatten abschwächt.

Das Beste an ihrer Zufallskarriere auf Instagram sind nicht die Geschenke. Auch auf das Geld kommt es ihr nicht so sehr an. Das Beste ist das Kribbeln beim Aufwachen, das Gefühl, gesehen zu werden, gehört und geliebt. Es wirkt belebender als jeder Kaffee und es macht genauso abhängig.

Wann immer sie inmitten all der Botschaften von Instagram, TikTok und WhatsApp, diesem endlosen Strom aus Liebe und Anerkennung, eine vereinzelte Benachrichtigung von Gmail entdeckt, denkt Imogen zuerst: Wie putzig. Abgesehen von der Arbeit kontaktiert sie eigentlich niemand mehr per Mail und diese Mail ging nicht an ihre Arbeitsadresse, sondern an ihre private. Also ist der Absender alt. Nur alte Leute schreiben noch E-Mails. Die Generation 35 plus.

Sie liest den Namen – und ihre Freude über diese aus der Zeit gefallene Flaschenpost im digitalen Ozean wird von einem finsteren Tsunami verschlungen. Für einen Moment hält sie es für möglich, dass sie allein durch die Gedanken an ihn seinen Geist heraufbeschworen hat. Mit Vernunft hat das natürlich nichts zu tun. Aber das hat er aus ihr gemacht.

Was will er? Und wieso jetzt, nach über einem Jahr? Was will er ihr denn noch nehmen?

Sie kann die E-Mail nicht öffnen. Sie wird sie nicht öffnen.

Doch in der Benachrichtigung ist der Betreff zu lesen.

Jugend + Verunsicherung = scheiße viel Geld

Was soll das bedeuten? Es ergibt überhaupt keinen Sinn. Will er sie verhöhnen?

Hör auf damit, Imogen. Hör auf. Sie weigert sich, seinetwegen zusammenzubrechen. Er hat ihr alles genommen. Dass sie trotzdem nicht umgekippt ist, ist alles, was sie noch hat. Das Einzige, worauf sie wirklich stolz ist. Alles andere, die Massen von Gratisklamotten, die schicken Möbel, das dicke Bankkonto, die vielen fremden Bewunderer, die unzähligen hübschen Fotos, all das würde sie opfern, wenn dafür nur alles wieder so wäre wie früher, als sie von ihren Eltern jede Woche ein mageres Taschengeld zugeteilt bekam. Wenn dafür nur alles wieder so wäre wie vor zwei Jahren, bevor sie auf die Uni gegangen und ihm begegnet ist – ihm, dem Monster.


Foto: Am Rand einer zugeschneiten Straße stehen drei Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht. Dahinter erstreckt sich ein weites Lavafeld.

Filter: Nicht nötig

Mögliche Bildunterschriften …

Option 1: Und so trete ich meine Haftstrafe an … Nur ein Scherz, die suchen jemand anderen. Also, soweit ich weiß.

Option 2: Irgendwie wäre es mir fast lieber, sie würden nach mir suchen – im Gefängnis ist es bestimmt angenehmer als da, wohin die Reise für mich geht.

Option 3: Wieso denke ich wie eine Besessene darüber nach, was für ein Verbrechen hier geschehen sein mag?

Tatsächliche Bildunterschrift …

Düsterer Skandinavien-Thriller in echt.

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Das dunkle Flüstern der Schneeflocken

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