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IMOGEN

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Imogen hat schon so oft zugehört, wie ihre Chefin die Vorzüge der Agentur anpreist, dass sie den Vortrag auswendig kennt. Zum Glück, muss man sagen. Seit Wochen wurde dieses Meeting vorbereitet, es ist ein wichtiger Bestandteil von Ms Kendricks Masterplan, das Geschäftsfeld auf die Lebensmittelbranche auszuweiten. Doch Imogen kann sich beim besten Willen nicht auf das Geschehen im offiziellen Konferenzraum konzentrieren, einem stickigen Glaskäfig.

»Wir von London Analytica nehmen eine echte Vorreiterrolle ein.« Ms Kendrick steht vor einem großen Flachbildfernseher mit einer sorgfältig gestalteten PowerPoint-Folie. Weiße, futuristische Schrift auf stahlgrauem Grund, insgesamt fünf Stichpunkte:

Offenheit für Erfahrungen

Gewissenhaftigkeit

Extraversion

Verträglichkeit

Neurotizismus

Ms Kendrick trägt eine eng anliegende, maßgeschneiderte schwarze Hose und einen Tweed-Blazer von Chanel – ihr Markenzeichen. Sie besitzt einige davon, alle im klassischen Cardigan-Schnitt. Dieses Exemplar, eine Kombination aus grauer, schwarzer und pinkfarbener Wolle und goldenen Knöpfen, stammt aus der neuesten Kollektion. Offenbar läuft die Agentur gut. Imogen hat im Netz nach dem Blazer gesucht, er kostet fünf Riesen.

»Mit ein und derselben Botschaft auf alle Kunden abzuzielen, das ist Marketing von gestern«, fährt Ms Kendrick fort, um dann mit effektvoll aufgerissenen Augen hinzuzufügen: »Aus dem letzten Jahrhundert. Hier bei London Analytica finden Sie die Zukunft des Marketing.«

Am anderen Ende des langen Konferenztisches, gegenüber von Imogen und Ms Kendricks Stellvertreter Mark, sitzen die Kunden. Zwei Männer, CEO und COO eines Anbieters von Tiefkühlfisch. Beide sind kahl, haben fahle Haut und kratzen bestimmt schon an der 60. Zwei schlecht sitzende Anzüge, zweimal mürrisches Stirnrunzeln. Den Typ Mann kennt Imogen. Geschäftsleute, deren Firmen schon lange ihren Zenit überschritten haben, die jetzt aber noch einen letzten verzweifelten Versuch unternehmen, den alten Glanz wiederherzustellen. Angeblich sind sie bereit, sich auf die Zukunft einzulassen, einen großen Schritt ins 21. Jahrhundert zu wagen, ihr Gesichtsausdruck sagt aber etwas anderes. Am liebsten würden sie es sich tief in den 1950er Jahren gemütlich machen und ihre Werbeanzeigen weiter in einer anständigen Papierzeitung drucken lassen, um sie dann bei einer schönen Tasse Tee zu bewundern, während die Gattin eine Portion Fischstäbchen in den Ofen schiebt.

»Wir bieten Ihnen psychografisches Targeting – ein revolutionäres Verfahren, das es ermöglicht, jeden einzelnen potenziellen Kunden direkt durch maßgeschneiderte Botschaften anzusprechen.« Ms Kendrick tritt von einem Fuß auf den anderen. Die offensichtliche Skepsis der beiden Männer lässt sie nicht kalt.

Es läuft nicht optimal. Imogen ist aber zu abgelenkt, um mit ihrer Chefin mitzufühlen. Sie denkt pausenlos an die E-Mail. Kurz vor Beginn des Meetings hat sie sie geöffnet. Ihr war bewusst, dass ihre Konzentration darunter leiden würde. Doch zuvor, als sie sie noch nicht geöffnet und noch keine Ahnung gehabt hatte, was sie enthielt, hatte sie an diesem Arbeitstag rein gar nichts auf die Reihe gebracht.

»Immie«, sagt Ms Kendrick vorne. »Immie?«

Erst nach einer Weile begreift Imogen, wer gemeint ist. Im Büro heißt sie Immie. Sie hasst den Spitznamen, der ihr an ihrem ersten Arbeitstag verliehen wurde. Sich dagegen zu wehren, kam trotzdem nicht infrage. Auch Ms Kendrick heißt Imogen und irgendwie müssen die Kollegen zwischen ihr und der Frau an der Spitze unterscheiden. Mit dem Vornamen der Chefin treibt man keine Spielchen.

Ms Kendrick sieht Imogen über den Rand ihrer Cateye-Brille hinweg an. Wie oft hat sie schon nach ihr gerufen?

»Schön, dass du bei uns bist. Wenn du bitte nach vorne kommen und den Herren einen Überblick über die technischen Aspekte unseres Angebots geben könntest?«

Imogens Aufgabe ist es, das Fünf-Faktoren-Modell vorzustellen. Das FFM ist der wichtigste Eckpfeiler ihres Geschäftsmodells. Dabei ist es eigentlich nichts Neues. In der Psychologie kennt man es seit Jahrzehnten, ein Klassiker. Auch Imogen hatte schon vor ihrem Job bei London Analytica davon gehört, es tauchte in der Vorlesung »Einführung in die Psychologie« an der Uni Cambridge auf. Sie fand das Fünf-Faktoren-Modell großartig. Dann fand sie es schrecklich. Er hat es ihr kaputtgemacht.

Sie zwingt sich, nicht daran zu denken, an die E-Mail, die Vergangenheit, das Monster. Das muss warten. Solange das Meeting läuft, muss sie sich zusammenreißen.

Imogen steht auf. Neben ihr sitzt Mark, sein Stuhl ein bisschen zu dicht an ihrem. Als sie sich daran vorbeischiebt, bleibt sie mit dem Fuß an einem Stuhlbein hängen und gerät ins Stolpern.

»Alles okay, Immie?« Mark fasst sie an der Hand und verhindert so, dass sie auf die Nase knallt.

Mark ist Mitgründer von London Analytica. Anders als Ms Kendrick ist er durch den Erfolg der Firma aber nicht unglaublich steif und humorlos geworden. Anders als sie erinnert er nicht an eine frisch ausgestopfte Katze.

»Ja, alles prima. Danke, Mark.« Alles prima. Wie kommt sie darauf, so etwas zu sagen?

Am Konferenztisch entlang geht Imogen nach vorne zum Flachbildfernseher. Sie schwitzt. Im Sommer ist es in diesem Raum, den alle nur »das Aquarium« nennen, furchtbar heiß und stickig. Ob sie wohl einen Schweißfleck vorne an der Bluse hat? Imogen will nicht nachsehen. Im Zweifel würde sie so bloß die Aufmerksamkeit darauf lenken.

Jetzt steht sie neben Ms Kendrick, die ihr die Fernbedienung für die PowerPoint-Präsentation in die Hand drückt. Dabei zieht Ms Kendrick ihre schmalen, mit scharfem Strich aufgemalten Augenbrauen hoch. Es ist eine unmissverständliche Botschaft: Verkack es nicht.

»Vielen Dank, Ms Kendrick«, sagt Imogen in überraschend fröhlichem Ton – also in Anbetracht dessen, dass sie in Wirklichkeit am liebsten nach Hause rennen und in ihren Pyjama schlüpfen würde, um sich Pizza und Netflix reinzuziehen und nie wieder aus dem Haus zu gehen. Statt diesem Drang nachzugeben, dreht sie sich mit einem strahlenden Lächeln zu den Kunden.

Sie hat den Eindruck, ihr würden zwei Mumien entgegenstarren. Oh Mann. Das wird ein langer Tag.

»Ich bin Imogen Collins, Social-Media-Kampagnenmanagerin bei London Analytica. Ich erzähle Ihnen jetzt etwas über die Technik hinter unserer täglichen Arbeit – die Zaubertricks hinter der Magie, wenn man so will.«

Immer noch kein Lächeln, nicht mal eine Andeutung.

»In der Psychologie hat man erkannt, dass die Persönlichkeit des Menschen durch fünf voneinander unabhängige Dimensionen ausgeleuchtet werden kann: Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. Das sind die sogenannten Big Five – beziehungsweise die fünf Aspekte des Fünf-Faktoren-Modells, kurz FFM.«

Imogen kennt ihren Text Wort für Wort auswendig. Sie führt ihren Teil der Präsentation auf wie eine Schauspielerin, die eine selbstbewusste, aufstrebende junge Frau verkörpert, ausgestattet mit einer fast altmodischen Klugheit, aber dennoch mit dem Finger am Puls der Zeit. Manchmal hat sie das Gefühl, von früh bis spät als Figur auf einer Bühne durch ihr Leben zu laufen, in der Rolle der jungen Frau, die alles hat und der keiner etwas vormachen kann. Dabei hat sie keine Ahnung, was sie hier eigentlich tut, wohin sie will oder was sie an diesem Ort soll.

»Bis vor Kurzem hat sich zielgerichtete Werbung ausschließlich an demografischen Daten orientiert. Diese Praxis, ganze Marketingkampagnen an demografischen Kriterien auszurichten und etwa alle Frauen nur aufgrund ihres Geschlechts mit ein und derselben Botschaft anzusprechen, ist jedoch schlicht lächerlich.

Im Gegensatz zu den meisten Werbeagenturen, die sich zur Vermittlung der Botschaften ihrer Kunden immer noch der Demografie bedienen, setzen wir auf Psychometrie.

Wir von London Analytica haben anhand des FFM ein einzigartiges Modell zur Berechnung der Persönlichkeit fast jedes einzelnen Verbrauchers im Vereinigten Königreich entwickelt. Wir kennen die Träume und Hoffnungen, die Ängste und Bedürfnisse der Menschen und können ihr mutmaßliches Verhalten voraussagen. Also …«

Imogen legt eine Atempause ein. Nur eine kurze, sie will den Vortrag schnell hinter sich bringen. »Jetzt stellen Sie sich wahrscheinlich zwei Fragen: Wie? Und wieso?

Beginnen wir mit dem Wie. Unser Modell basiert auf handfester wissenschaftlicher Forschung. Mithilfe von Big Data vermessen wir den digitalen Fußabdruck einer Person und schließen daraus auf deren Persönlichkeit. Aus simpelsten Handlungen im Internet kann man erstaunlich präzise Schlüsse ziehen: Bei männlichen Facebook-Nutzern ist ein Like für die Musikgruppe Wu-Tang Clan etwa ein sehr deutlicher Hinweis auf eine heterosexuelle Orientierung. Wer der Sängerin Lady Gaga folgt, besitzt höchstwahrscheinlich ein extrovertiertes Wesen, während Freunde der Philosophie eher introvertiert sind.«

So perplex, wie die beiden Kunden dreinschauen, haben sie noch nie vom Wu-Tang Clan oder von Lady Gaga gehört.

»Einzelne Informationen reichen nicht aus, um eine zuverlässige Aussage zu treffen. Durch die Kombination von zehn, Hunderten oder Tausenden von Informationen erhält man jedoch Ergebnisse von bemerkenswerter Qualität.

Wie sich herausgestellt hat, kann man eine Person allein auf der Grundlage von zehn Facebook-Likes besser einschätzen als ein durchschnittlicher Arbeitskollege. Bei 70 Likes schlägt man sich besser als die Freunde der betreffenden Person. Bei 150: besser als die Eltern. Bei 300: besser als der Partner oder die Partnerin. Bei noch mehr Likes kann man sogar das übertreffen, was die Person über sich selbst zu wissen glaubt.«

Einer der Anzugträger fängt an zu husten. Imogen muss um die Aufmerksamkeit ihres Publikums kämpfen. Aber sie hat ohnehin nur ein einziges Ass im Ärmel: noch mehr aufgesetzte Begeisterung.

»Vielleicht fragen Sie sich jetzt, was das Vermessen der Persönlichkeit einzelner Personen mit Ihrem Geschäft zu tun haben soll – dem Verkauf von tiefgefrorenem Fisch. Ich sage es Ihnen: Alles!« Imogen merkt, dass sie in die schrille Stimmlage einer überdrehten Zeichentrickfigur verfallen ist. Aber was bleibt ihr anderes übrig?

»Und wieso? Weil sich das Verfahren umkehren lässt. Man kann nicht nur anhand von Datensätzen Persönlichkeitsprofile erstellen. Man kann auch in Datensätzen nach bestimmten Profilen suchen. Mithilfe des Modells, das wir hier bei London Analytica erarbeitet haben, können wir uns gezielt nach überlasteten Müttern mit Schlafmangel umschauen und diese mit einer Botschaft ansprechen: ›Das Abendessen von morgen ist kein Grund, heute schlecht zu schlafen.‹ Oder mit einer anderen Message auf introvertierte, fettleibige Männer abzielen: ›Schmeckt wie im Imbiss um die Ecke, nur bei dir zu Hause.‹«.

Der eine Kunde hustet wieder. Lauter diesmal. Sein dickes Gesicht färbt sich rötlich.

Imogen ist sich unsicher, wie sie reagieren soll. Sie entscheidet sich fürs Weitermachen. »Im Kern haben wir mit unserem Modell also eine Suchmaschine für Menschen entwickelt und die ermöglicht es –«

Der hustende Kunde hebt die Hand. »Entschuldigen Sie.« Noch ein Huster.

Imogen ist verstummt. Sie glaubt, er hat eine Frage. Hat er aber nicht. Beziehungsweise doch – aber es ist eine andere Frage, als sie erwartet hat.

»Wären Sie so lieb, mir ein Glas Wasser einzuschenken?«

Es ist, als würde sich die Welt um Imogen herum verlangsamen, als hätte sich das sogenannte Aquarium in ein echtes verwandelt. Sie will den Arm heben, kann ihn aber kaum bewegen. Ihr Gehirn befiehlt ihr, einen Schritt nach vorne zu machen, ihr Körper gehorcht aber nicht. Sie öffnet den Mund, hört aber keinen Ton. Sie ertrinkt.

Sie gibt sich Mühe, versucht, sich zu beruhigen. Die offensichtlich sündhaft teuren Mineralwasserflaschen – Voss Artesian Water – stehen direkt vor dem Kunden. Die Gläser ebenfalls. Er könnte ohne Weiteres zugreifen und sich selbst einschenken. Imogen ist keine Bedienung. Sie ist nicht zum Kaffeekochen bei London Analytica. Sie ist Social-Media-Kampagnenmanagerin, verdammt noch mal. Sie wurde nicht angestellt, um arroganten alten Säcken, die selbst zu faul dafür sind, ein Getränk zu kredenzen.

Der Konferenzraum rotiert vor ihren Augen. Oder ist es sie selbst, die sich dreht, gerät sie wieder in die Abwärtsspirale? Beruhig dich, Imogen. Es ist doch halb so wild. Er will doch nur ein Glas Wasser.

Alle starren sie an. Innerlich schäumt Ms Kendrick bestimmt schon.

Durch die Aquariumswände sieht Imogen, wie einige Kollegen das Großraumbüro verlassen. Mittagspause. Am Rand ihres Blickfelds entdeckt sie jemanden, der unmittelbar vor dem verglasten Konferenzraum stehen bleibt. Nur, um sie anzuglotzen, um nicht zu verpassen, wie sie sich zum Affen macht? Gucken die da draußen etwa alle zu und lachen sich kaputt? Weil sie sowieso der Meinung sind, dass Imogen nur wegen ihres Aussehens eingestellt wurde, wegen ihres langen dunklen Haars, ihrer schmalen Arme und ihres Dekolletés? Dass sie nie die nötigen Qualifikationen hatte und deshalb nur auf ganzer Linie versagen kann?

Hör auf damit, Imogen. Wie sie weiß, geht es hier längst nicht nur um den Kunden und seine Bitte um Wasser. Wie immer geht es um die E-Mail, um früher, um das Monster.

Kurz nach dem Öffnen der E-Mail ist ihr klar geworden, dass diese gar nicht für sie gedacht war.

Als sie die Stelle bei London Analytica bekommen hat, der heißesten Agentur für datengetriebenes Marketing weit und breit, hielt Imogen es für einen Wink des Schicksals, dass die Gründerin den gleichen Vornamen hat wie sie. Kein Zweifel, dieser Job war ihre Bestimmung, Teil eines großen göttlichen Plans. Es war die richtige Entscheidung, ihr Studium der Psychologie und Verhaltensforschung nach nur einem Jahr wieder abzubrechen. Es war die richtige Entscheidung, ihr Zuhause in Cambridge hinter sich zu lassen und mit drei Fremden in ein baufälliges Haus in London zu ziehen. Es war die richtige Entscheidung, den Plan aufzugeben, den sie ihr Leben lang verfolgt hatte, und, statt Kinderpsychologin zu werden, eine Karriere im Marketing anzustreben. Und als Influencerin zu arbeiten, um ihr Einkommen aufzubessern und ihren Namen bekannter zu machen, war auch die richtige Entscheidung.

Wie hätte sie ahnen können, dass sie 19 Jahre, nachdem ihre Eltern ihre neugeborene Tochter aus einer Laune heraus Imogen genannt hatten, nur wegen einer eigentlich bedeutungslosen Namensgleichheit plötzlich den Boden unter den Füßen verlieren sollte?

Die E-Mail war nicht für sie gedacht, sondern für ihre Chefin Imogen Kendrick.

Deren Stimme reißt Imogen jetzt aus ihrer Erstarrung. »Immie? Hast du den Herren nicht verstanden? Schenk ihm ein Glas Wasser ein.«

Mark springt auf. »Ich mache das schon«, sagt er und begibt sich auf den Weg zu dem Tablett mit den Gläsern und Wasserflaschen, obwohl er von allen Anwesenden am weitesten entfernt sitzt.

Imogen sieht zu, wie er den gesamten Tisch umrundet, bis er schließlich bei dem Kunden ankommt.

»Still oder mit Sprudel, Sir?«, fragt er.

»Mit Sprudel«, antwortet der Kunde. Inzwischen hustet er nicht mehr.

Mark greift an ihm vorbei, schraubt eine der zylinderförmigen Flaschen auf, füllt ein Glas und stellt es vor ihm auf den Tisch.

Der Kunde nimmt es in die Hand. »Danke.« Er drückt den Rand gegen seine dünnen Lippen. In seinen Mundwinkeln kleben weiße Speichelbläschen. Er schüttet das halbe Glas in sich hinein. Von der zischenden Kohlensäure tränen seine gelblichen Augen.

»Gern geschehen«, erwidert Mark und neigt den Kopf, eine fast schon übertrieben untertänige Geste.

Imogen fragt sich, ob das eine kleine Boshaftigkeit sein sollte – gegen den Mann, der zu wichtig ist, sich selbst ein Glas Wasser einzuschenken, oder gegen sie, weil sie ihm die Bitte verweigert hat? Auf dem weiten Rückweg zu seinem Platz gibt Mark ihr die Antwort: Am Tischende angekommen, sieht er Imogen an, verdreht die Augen und deutet mit einem leichten Nicken auf den Kunden, der gerade den letzten Schluck trinkt. Dann lächelt Mark sie an.

Sie hat einen Kloß im Hals.

Mark ist immer so nett zu ihr. Ganz im Gegensatz zu Ms Kendrick und den beiden anderen Mitgründern, die sie kaum wahrzunehmen scheinen. Wer so weit oben in der Befehlskette steht, hat offenbar Schwierigkeiten, Imogen auch nur zu sehen. Für die drei ist sie bloß ein Punkt in der Ferne. Aber Mark ist anders, er gesellt sich auch mal dazu, wenn die Angestellten in der kleinen Küche Kaffee trinken und den neuesten Büroklatsch austauschen. Er lacht mit ihnen, erzählt Witze, erträgt sogar den grausigen Instantkaffee, auf den man hier als Koffeinjunkie angewiesen ist. Ms Kendrick lässt sich zweimal am Tag einen Kaffee von Pret a Manger kommen.

An Imogens erstem Tag bei London Analytica sagte Mark ihr, dass sie ihn ruhig fragen könne, wenn sie etwas brauche. Ein paar Tage später konnte sie dann den Drucker nicht zum Laufen bringen. Sie war als junger Mensch mit Technikkenntnissen angeheuert worden, weil es davon in jeder Firma mindestens einen braucht, und jetzt war sie nicht in der Lage, ein einseitiges Dokument auszudrucken – peinlich. Doch Mark kam einfach vorbei und scherzte, der Drucker sei fast so alt, dass er noch mit Dampf betrieben werde, und die ordnungsgemäße Bedienung einer Dampfmaschine falle nun wirklich nicht in Imogens Aufgabenbereich.

Obwohl Mark immer so nett zu ihr ist, achtet Imogen genau darauf, seine Freundlichkeiten nicht zu erwidern. Sie ist nicht unhöflich, sie verhält sich nur professionell. Kein Lächeln, nie lachen oder scherzen. Diese Lektion hat das Monster sie gelehrt, unter anderem. Diese Narbe hat sie ihm zu verdanken, unter anderem. Sie kann das Gefühl nicht hinter sich lassen, dass sie irgendwie selbst schuld war. Dass sie neue männliche Bekannte nicht ermutigen sollte.

Ms Kendrick räuspert sich, ein geräuschvolles Abhusten von Schleim, das Imogen nur auf sich selbst beziehen kann. »Könntest du bitte fortfahren, Immie? Damit Mark noch dazu kommt, über die finanzielle Seite zu sprechen.«

Mark setzt sich. Nickt ihr aufmunternd zu.

Imogen öffnet den Mund, um ihren Vortrag fortzusetzen. Es kommt kein Laut heraus. Sie probiert es noch mal. Nichts.

Fische, hat sie mal gehört, atmen unter Wasser, indem sie es ins Maul ein- und durch die Kiemen wieder ausströmen lassen. So geht der Sauerstoff ins Blut über und gelangt in die Körperzellen. Wie sie so dasteht und ihren Mund öffnet und schließt, sich am Rande der Verzweiflung abquält, um die Worte irgendwie über die Lippen zu bekommen, sieht sie wahrscheinlich aus wie ein Fisch auf dem Trockenen, der noch für ein paar letzte Minuten nach Luft schnappt.

Imogen kann so nicht mehr leben.

Sie lässt die Fernbedienung für die PowerPoint-Präsentation fallen. Mit einem hohlen Aufprall landet sie auf dem Boden, das typische Klappern von Billigplastik auf edlem Massivholz.

»Imogen«, hört sie Ms Kendrick sagen, während sie den Menschen am Konferenztisch den Rücken zukehrt. Seit ihrem Vorstellungsgespräch hat Ms Kendrick sie nicht mehr so genannt. »Imogen, wir haben einen Zeitplan einzuhalten.«

Imogen stolpert dorthin, wo die Tür ungefähr sein müsste. Wo sie sich genau befindet, ist bei einer Wand aus Glas, Glas und noch mehr Glas nicht so leicht auszumachen.

»Tut mir leid«, murmelt sie und tastet ungeschickt nach dem Türknauf. Erwischt ihn, packt zu, spürt den kalten Stahl in ihrer Hand.

Sie dachte, sie hätte sich richtig entschieden. Dachte, es wäre ein Zeichen innerer Stärke, den Mund zu halten. Doch wann immer sie in der U-Bahn von irgendeinem Typen schweigend angegafft wird, wann immer sie einem alten Sack wie dem, der gegenüber am langen Tisch sitzt, einen Kaffee holen soll – oder ein Glas Wasser einschenken, egal – immer dann stürzt alles wieder auf sie ein.

Sie hat einen Fehler gemacht. Einen Riesenfehler.

Imogen reißt die Tür des Konferenzraums auf und flieht aus dem Aquarium.


Foto: Ein Foto eines Fotos, eines alten Schnappschusses von einer Frau, der flammend rotes Haar über die Schultern fällt und auf deren Gesicht ein Lächeln strahlt wie die Sonne. Im Arm hält sie ein Neugeborenes.

Filter: Time

Wünschenswerte Bildunterschriften …

Option 1: #liebe

Option 2: Du fehlst mir.

Option 3: Mutter und Tochter – die stärkste Verbindung.

Mögliche Bildunterschriften …

Option 1: Wenn ich mich doch nur daran erinnern könnte.

Option 2: Wenn ich doch nur behaupten könnte, du wärst mein Fels in der Brandung gewesen.

Option 3: Wenn ich doch nur niemals werde wie du. #sorrymum

Tatsächliche Bildunterschrift …

Es war einmal.

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Das dunkle Flüstern der Schneeflocken

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