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Vorwort EIN ECHTER CHARAKTER ~ VON TIM RENNER
Auf den ersten Blick erscheint heute als das größte Problem der Musikindustrie das Internet. Die Digitalisierung von Produktion, Kommunikation und Distribution jedweder Musik führt zu großen Turbulenzen: Wenn jeder die eigenen Kreationen im Heimstudio aufnehmen und dann weltweit verbreiten kann und die Konsumenten sich nicht mehr ganze Alben beschaffen müssen, sondern problemlos einzelne Songs herunterladen können, dann müssen sich die Geschäftsmodelle und -strukturen radikal verändern. Um diesen Wandel zu bewältigen, muss die Musikbranche den nun recht unabhängigen Künstlern einen echten Mehrwert jenseits hoher Vorschüsse und großer Apparate bieten können. Der Konsument wiederum erwartet Verlässlichkeit in der Auswahl und Pflege der Interpreten durch die Labels. Weshalb sonst sollte er sich noch ganze Alben kaufen? Eine solche Glaubwürdigkeit im Sinn eines langfristigen Aufbaus von Musikerkarrieren können aber viele der multinationalen Plattenfirmen schon lange nicht mehr vorweisen. Darum besteht in Wahrheit das größte Problem der Musikindustrie heute darin, dass in ihr Figuren wie Siggi Loch fehlen.
Was ihn groß gemacht hat, ist die eigentliche Grundlage des Musikgeschäfts: Man nennt es Artist & Repertoire Management – kurz A & R. Um einen Musiker und sein Werk entwickeln zu helfen, braucht es Menschen, die ebenso von Musik besessen sind wie er. Sie müssen ein Talent frühzeitig erkennen können, Vertraute und Sparringspartner der Künstler werden und den Spagat schaffen, sowohl deren Interessen als auch die des Labels zu vertreten. Sie sind so etwas wie der große Bruder: immer gut für einen handfesten Konflikt, aber auch der wichtigste Verbündete, wenn es gegen Dritte (etwa die eigenen Eltern) geht. Gute A & R-Manager dürfen nicht kurzfristig in Hits und kleinkarierten Zeiträumen wie den Quartalreportings ihrer Unternehmen denken, sondern müssen eine langfristige Vision einer Karriere entwickeln.
Es sind in der Regel ungewöhnliche Menschen, die sich in solche Jobs begeben. Meist haben sie, wie viele der von ihnen betreuten Künstler auch, eine gebrochene Biographie und wie diese erfahren, dass ein gewisses Quantum an Rebellion unabdingbar ist, wenn man denn schöpferisch tätig sein will. Einige der besten A & R-Manager wurden wahre Legenden – man denke an Clive Davis (er entdeckte Pink Floyd, Janis Joplin, Bruce Springsteen, Whitney Houston und viele andere), der einer bitterarmen jüdischen Familie aus Brooklyn entstammt und seiner glamourösen Vision von Pop bis heute hinterherjagt, oder auch an David Geffen (der mit Joni Mitchel, The Eagles, Aerosmith, Guns N’ Roses, John Lennon und anderen arbeitete), der als schwuler Manager in einer homophoben Gesellschaft auf seine Weise Erfolg haben wollte. Ein dritter – Ahmet Ertegun – brach als Sohn des türkischen Botschafters heilige Tabus, als er die 125. Straße in New York Richtung Norden überschritt. Mitten in der Zeit der Rassentrennung brachte er den Sound Harlems und anderer »Black Neighborhoods« in weiße Wohnzimmer. Künstler wie Ray Charles, Joe Turner oder Aretha Franklin verdanken ihm ebenso wie Neil Young ihre Karriere. Und Ahmed Ertegun war zusammen mit seinem Bruder Nesuhi auch Förderer des jungen Siggi Loch.
Loch kam als Verkäufer für den Importdienst der EMI Electrola in die Musikindustrie und sammelte ab 1962 erste Erfahrungen als Produzent und Jazzlabel-Manager bei PHILIPS. Mitte der 1960er Jahre war er dann als Deutschlands jüngster Plattenfirmen-Chef in der Position, an der Entwicklung deutscher Musik und Künstler arbeiten zu können. Er entdeckte und förderte Amon Düül und Can, produzierte die Debüt-Alben von Katja Ebstein, Sigi Schwab und Jean-Luc Ponty – immer auf der Schwelle vom Jazz zum Pop, immer auf der Suche nach etwas Eigenem und Besonderem. Nach vier Jahren an der Spitze von LIBERTY / UNITED ARTISTS entschloss sich Siggi Loch dann 1970 zur Kündigung, denn er wollte sein eigenes Jazz-Label gründen. Doch da sprach ihn Nesuhi Ertegun an, der internationale WEA-Chef, und machte ihm ein verlockendes Angebot: Er solle die WEA-Filiale in Deutschland aufbauen.
Siggi Loch bewunderte die Erteguns schon lange für ihre Jazz-Produktionen und die kluge Label-Politik mit ATLANTIC. Und er nutzte seine Chance. WEA Deutschland entwickelte sich prächtig – nicht nur wegen des starken internationalen Repertoires, sondern gerade aufgrund der Erfolge mit deutschen Künstlern: Passport von Klaus Doldinger, mit dem er zuvor schon als Produzent gearbeitet hatte, wurde die erfolgreichste deutsche Jazz-Band, Marius Müller-Westernhagen der erste deutsche Stadion-Star und Ideal erreichte die Spitze der Neuen Deutschen Welle. 1982 wurde Siggi Loch zum Präsidenten von WEA Europe ernannt, um die europäische Ausdehnung des Konzerns zu steuern. Ein Deutscher in dieser Position war damals eine echte Sensation.
Ein von Kunst Besessener wie Siggi Loch musste sich zwangsläufig auch Feinde schaffen, zumal sein Verständnis für Menschen, die seine Leidenschaft nicht teilten, durchaus begrenzt war. Ein Beispiel: In seiner Funktion als WEA-Chef war er auch für die Computerspiel-Tochter ATARI zuständig und musste selbstverständlich deren Präsidenten Ray Kassar zum Essen ausführen, als dieser in Deutschland weilte. Nach der Vorspeise ließ Loch seinen amerikanischen Gast unverblümt wissen, dass er Computerspiele für erheblich minderwertiger halte als Musik – den Spielen fehle einfach der künstlerische Ausdruck. Kassar schäumte, und ATARI trennte sich im Jahr darauf von der Mutterfirma, um bereits zwölf Monate später die WEA an Umsatz und Rendite deutlich hinter sich zu lassen.
Dass Kunst in jeder Form das Motiv und der Antrieb von Siggi Loch ist, kann niemand übersehen, der ihn kennen lernt. So ging es auch mir bei meinem ersten Besuch bei ihm zu Hause in Hamburg-Uhlenhorst. Das war 1988. Bevor ich ihm die Marketingkampagne für den damaligen Pop-Sänger Wigald Boning präsentieren konnte, den Siggi Loch auf seinem Label ACT unter Vertrag genommen hatte, zeigte er mir die Bilder seiner Sammlung: Die Wände waren geradezu tapeziert mit erlesenen Kunstwerken, und Lochs Erklärungen zu den Bildern waren für mich, der ich wenig beschlagen war in der Materie, einleuchtend und spannend.
Als Gründer der Phonoakademie und Vorstand des Phonoverbandes war Siggi Loch der Chef eines Käfigs voller Narren: Die Geschäftsführer der großen Plattenfirmen waren damals noch keine Betriebswirte oder Anwälte, sondern Rockertypen, die zur Verhandlung eines Vertrags auch mal mit der Harley vorfuhren und, um ihre Künstler zu motivieren, auch mal spontan eine goldene Rolex auf den Deal drauflegten. Es gab Society-Löwen, die eigene Tennisturniere veranstalteten, um die Bussi-Bussi-Gesellschaft mit Rock und Pop vertraut zu machen, und es gab ehemalige Sänger an der Spitze der Konzerne, über deren hautnahe Beziehungen zu ihren Künstlerinnen ausgiebig getratscht wurde. Sie alle hatten ihre Spleens und begründeten so den etwas anrüchigen Ruf der Musikindustrie als halbseidene Glamour-Branche – aber sie waren echte Charaktere, die neben dem Wunsch, Geld zu verdienen, auch den festen Willen hatten, das zu verbreiten, was sie für gute Musik und spannende Künstler hielten. Kurzum: Siggi Loch war der Anführer der deutschen Musikmanager – und leider sind Persönlichkeiten wie er heute keine Selbstverständlichkeit mehr.