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03 EINTRITT IN DIE HAIFISCHBRANCHE ~ DIE PHILIPS-JAHRE 1962–1966
ОглавлениеFür meinen neuen Job bei PHILIPS zog ich von Hannover nach Hamburg – das endgültige Ende für den »New Orleans Club« und meine Band The Red Onions, aber der Anfang einer aufregenden Zeit: Bald sollte ich die Chance erhalten, meine erste Schallplatte zu produzieren. Das möblierte Zimmer in Hamburg-Billstedt war eine deutliche Verschlechterung meiner Wohnverhältnisse, doch die neuen Aufgaben sollten mir ohnehin wenig Zeit zum Wohnen lassen.
PHILIPS & CO. war 1891 von Gerard Philips im holländischen Eindhoven gegründet worden und hatte zunächst Glühlampen hergestellt. Mit dem ersten Radiogerät stieg PHILIPS 1927 in die Unterhaltungselektronik ein, kurz darauf begann der systematische Ausbau der Aktiengesellschaft zu einem der größten weltweit operierenden Unternehmen der Elektroindustrie. Das populärste Philips-Produkt in Deutschland war in den 50er-Jahren der Philishave-Trockenrasierapparat.
PHILIPS’ Einstieg in das Schallplattengeschäft 1950 geht zurück auf die Idee eines Mitarbeiters der zentralen Werbeabteilung in Eindhoven. Der Konzern gab jährlich Millionen aus, um PHILIPS als Marke zu positionieren. »Nimm doch Philips« war der populäre Slogan. Neben den bereits erfolgreichen Plattenspielern auch Schallplatten anzubieten, würde die Marke im Bewusstsein der Konsumenten weiter verankern. Dass die Produktion von Schallplatten anfangs in der Zuständigkeit der Werbeabteilungen lag, zeugt davon, dass die Musik in der Unternehmensstrategie nur eine funktionelle Bedeutung hatte.
Der deutsche Philips-Ableger, die ALLDEPHI (Allgemeine Deutsche Philips Verwaltungs GmbH), befand sich in der Mönckebergstraße in einem dieser klassischen Hamburger Bürohäuser mit Paternoster. Die Musikabteilung residierte im fünften Stock, dort bezog ich als Ressortleiter Jazz ein eigenes Büro. Ich saß Tür an Tür mit all den wichtigen Produzenten, die PHILIPS zu seiner Größe im deutschen Schallplattengeschäft verholfen hatten. Erfolgreichster Hitlieferant war Ernst Verch, der für Heidi Brühl (Wir wollen niemals auseinandergehn), Gerhard Wendland (Tanze mit mir in den Morgen) und Nana Mouskouri (Weiße Rosen aus Athen) verantwortlich war. Theo Knobel hatte gerade mit der Berliner Produktion von My Fair Lady den ersten deutschen Musical-Hit gelandet. Lutz Sternberg, der als Wortproduzent Wolfgang Neuss und auch die Münchner Lach- und Schießgesellschaft betreute, sollte mit dem unglaublichen Erfolg von Adolf Tegtmeier alias Jürgen von Manger deutsche Comedy-Geschichte schreiben. Leo Leandros, selbst ein bekannter Sänger, stellte 1965 seine noch minderjährige Tochter Vicky vor, und Fred Weyrich, der für die Rundfunkpromotion zuständig war, aber wie viele andere nebenbei deutsche Schlagertexte verfasste, wechselte das Fach und wurde Produzent von Dorthe (Wärst du doch in Düsseldorf geblieben) und der unvergessenen Alexandra. Über den Philips-Produzenten thronte die graue Eminenz Wolfgang Kretzschmar, der diesen Kreativpool zusammenhielt und selbst die eine oder andere eigene Komposition unterzubringen wusste, vor allem bei den internationalen Erfolgen von Horst Jankowski und seiner Schwarzwaldfahrt.
Der Gesamtumsatz der Branche betrug damals nur knapp 300 Millionen DM, sie war damit ein unbedeutender Wirtschaftsfaktor. Marktführer war POLYDOR / DEUTSCHE GRAMMOPHON, gefolgt von ELECTROLA und TELDEC, Schlusslicht war PHILIPS. Geld wurde mit Schlagern gemacht, und da das als nicht besonders seriös galt, nannte man die Schallplattenindustrie gern abfällig die »Haifischbranche«.
Bei PHILIPS wurden wie bei den Konkurrenten rund 70 % des Schallplattenumsatzes mit deutschen Produktionen generiert, 8 % mit Klassik. Der Rest war internationales Repertoire, für das ich nun zuständig war. Zunächst machte ich mich in einer schalldichten Abhörkammer bis spät in die Nacht hinein mit dem Repertoire der zahlreichen Labels bekannt: Ray Charles (ABC PARAMOUNT), Xavier Cugat, Quincy Jones (MERCURY), Cannonball Adderley (RIVERSIDE), Junior Mance (JAZZLAND), Gerry Mulligan, Chet Baker (WORLD PACIFIC JAZZ), André Previn, die im Feuerwehrmann-Look auftretenden Fire House Five Plus Two (CONTEMPORARY JAZZ), Gene Chandler (VEE-JAY) und viele andere. Die Musik dieser Jazzlabels sollte den nahenden Verlust des großen Columbia-Katalogs kompensieren, was ich schon damals eher lächerlich fand. Aber ich war voller Tatendrang und entwickelte als erstes einen Werbeslogan: »Philips For Jazz«.
Meinen ersten großen Auftritt mit diesem Programm hatte ich im Oktober 1962 auf dem Deutschen Amateur-Jazzfestival in Düsseldorf. Dort durften wir exklusiv für unsere neuen Platten werben und stifteten als Gegenleistung für den Festivalsieger einen Wanderpokal in Form eines Schlagzeugbeckens sowie die Produktion und Veröffentlichung einer Schallplatte. Meinem Chef Hans Schrade hatte ich die Zustimmung abgerungen, dass ich diese Aufnahmen selbst produzieren durfte. Es gewann die Six Sounds Jazzband aus Bremen, und mit »Philips For Jazz« galten wir schlagartig als die führende Schallplattenfirma in Sachen Jazz.
Folgenreich war das Wiedersehen mit Klaus Doldinger, der mich einige Jahre zuvor als Amateur so beeindruckt hatte und der jetzt als Profi in Düsseldorf mit seinem neuen Quartett auftrat. Mit dabei: Ingfried Hoffmann (B3-Hammondorgel), Helmut Kandlberger (Bass) und Klaus Weiss (Schlagzeug). Ein spektakuläres Konzert. Saxophon und Orgel verschmolzen zu einer spannungsreichen, brodelnden Musik mit einem sensationellen Gruppensound. Doldinger war ein Könner mit ganz eigenem Ton und unverwechselbarem Charakter. Ich bot ihm sofort einen exklusiven Plattenvertrag an – ein Akt von Größenwahn, denn ich war in keiner Weise dazu berechtigt. Doch ich musste einfach handeln, und Doldinger sagte erfreut zu.
Nun musste ich das Ganze nur noch meinem Chef beibringen. Damals stand gerade Desafinado an der Spitze der amerikanischen Charts, die Komposition von Antonio Carlos Jobim in der Einspielung von Stan Getz und Charlie Byrd. Erste Bossa-Nova-Aufnahmen waren zwar schon 1953 entstanden, als der Gitarrist Laurindo Almeida in Los Angeles mit Jazzmusikern experimentierte. Mit Desafinado und dem Album Jazz Samba wurde die Bossa Nova auf der ganzen Welt bekannt, und berühmt wurde die neue Musik ein Jahr später mit The Girl from Ipanema in der Einspielung von Stan Getz sowie Astrud und João Gilberto. Im Bossa-Rhythmus erhielt der Jazz einen gewaltigen Popularitätsschub und ich den nötigen Rückenwind für mein Doldinger-Projekt (dem auch zugute kam, dass wir mit dem Gitarristen Charlie Byrd einen der wichtigsten Vertreter dieser Musikrichtung auf dem Label RIVERSIDE im Repertoire hatten). Schrade genehmigte die Produktion einer EP unter der Bedingung, dass Doldinger Bossa Nova spielen müsse. Damit hatte ich ein Problem gelöst und ein neues am Bein, denn das musikalische Konzept des Klaus Doldinger Quartetts hatte mit dieser Modeerscheinung aus den USA nichts am Hut.
Als ich Doldinger in Düsseldorf von den mir aufgenötigten Plänen berichtete, war er alles andere als begeistert. Allerdings spielten nicht nur Getz und Co. den Bossa Nova, sondern auch Dizzy Gillespie, und mit der verehrten Bebop-Legende hatte Klaus Doldingers Quartett beim Jazzfestival von Antibes im Juni 1962 auf derselben Bühne gestanden. Das erleichterte meine Mission enorm. Doldinger ließ sich überzeugen, und am 10. Dezember 1962 befand ich mich zum ersten Mal in meinem Leben in einem Aufnahmestudio. Dort produzierte ich mit dem Klaus Doldinger Quartet + Afro Cuban die Stücke Recado Bossa Nova, Copacabana und Chega de Saudade. Am Folgetag war ich erneut am Start, um die EP mit der Six Sounds Band aufzunehmen.
Das Studio von PHILIPS befand sich in der Friedrich-Ebert-Halle in Harburg. Da die Band auf der Bühne stand und die Aufnahmegeräte im Keller installiert waren, gab es zwischen Musikern und Technikern keinen Sichtkontakt, sondern nur eine Sprechverbindung. Die Aufnahme auf Viertel-Zoll-Band musste in einem Rutsch absolviert werden. Nachträgliche Korrekturen waren nur möglich, indem man die besten Passagen aus mehreren Versionen zusammenschnitt, aber das ging nur bei absolut identischem Tempo.
Der wunderbare Tonmeister Hans Georg Dozel stand dem blutigen Anfänger in großartiger Weise zur Seite, sonst wäre meine erste Produzententätigkeit vielleicht schon die letzte gewesen. Beide Platten erschienen im Februar 1963. Die von Klaus Doldinger war erfolgreich, die andere nicht, aber wie die Amerikaner so schön sagen: »One out of two ain’t bad.« Wie Francis Wolff, mein großes Vorbild, hatte ich meine Rolleiflex-Kamera dabei und nahm in guter Blue-Note-Tradition nebenbei auch die Fotos fürs Cover auf.
1959 erschien die erste Nummer von »twen«. Die Zeitschrift war frisch, frech, sinnlich, bestechend in der Gestaltung, kompromisslos modern und voller Lust auf Leben. Einmal im Monat war »twen« für 3,00 DM zu haben und kam nie über eine Auflage von rund 100.000 Exemplaren hinaus (während etwa von »Stern« und »Quick« zum Preis von 50 Pfennig damals wöchentlich je 1,2 Millionen Stück weggingen). Gleichwohl kann die Bedeutung von »twen« für seine Zeit nicht unterschätzt werden. Von seinen Erfindern, dem Journalisten Adolf Theobald und dem Grafiker Willy Fleckhaus, als Jugendzeitschrift konzipiert, fand sie schnell die Aufmerksamkeit weiter Kreise. Sie überwand den Mief der Adenauer-Zeit und erweiterte Horizonte, war geistige Befreiung, Trendwende und Ausdruck einer neuen Zeit. »twen« war das Kultobjekt der 60er-Jahre – die letzte Ausgabe erschien 1971.
Seit 1961 gab »twen« eine Schallplattenserie heraus, die von Joachim Ernst Berendt redaktionell betreut wurde. Das Repertoire – Jazz, Chanson, oft in Kombination mit Literatur, später Blues und Anverwandtes – kam von PHILIPS. Wir präsentierten ein erfolgreiches und in der Rückschau noch immer beeindruckendes Crossover: Die erste gemeinsame Produktion war die Nussknackersuite von Tschaikowski in einer Version von Duke Ellington. Ab der 12. Folge (Alfred Andersch: Der Tod des James Dean mit Musik von Miles Davis, 1962) war ich bei PHILIPS für diese Serie zuständig und kam in ständigen Kontakt mit der Kölner »twen«-Redaktion und mit Joachim Ernst Berendt – eine außerordentlich prägende Erfahrung. Ich durfte mit dem Jazzpapst zusammenarbeiten, außerdem wurde nebenher mein Interesse für bildende Kunst geweckt.
Nach der Bossa-Nova-Produktion wollte ich unbedingt ein ganzes Album mit Klaus Doldinger produzieren. Fleckhaus und Köper, das neue Chefredakteur-Team von »twen«, waren rasch von der Idee überzeugt und schrieben entsprechend an meinen Chef. Und nun war es auf einmal seine Idee, mit Doldinger etwas anderes zu machen als Bossa Nova. Also war ich im Januar 1963 wieder im Studio, und es entstand Doldinger – Jazz made in Germany. In der Edition von PHILIPS und »twen« erschien es als Nummer 15 mit einem sehr schönen Cover von Verena Loewensberg. Das Album wurde die erste Produktion einer deutschen Jazzgruppe, die auch international beachtlichen Erfolg hatte. Unter dem Titel Dig Doldinger veröffentlichte es MERCURY in den USA. Nur ein halbes Jahr später erschien bei CBS ein weiteres deutsches Jazz-Album, das international Furore machen sollte: Tension vom Albert Mangelsdorff Quintett aus Frankfurt. Jazz aus Deutschland ließ die Hörer in aller Welt aufhorchen.
Im Studio mit Klaus Doldinger, 1962
In der Hamburger Musikszene herrschte damals Aufbruchsstimmung. Im April 1962 hatte der »Star-Club« auf der Großen Freiheit eröffnet, in den ersten Wochen spielten dort vier junge Liverpooler namens The Beatles. Im Oktober machte das erste »American Folk Blues Festival« von Lippmann + Rau im Audimax der Universität Station: mit John Lee Hooker, Memphis Slim, T-Bone Walker, Willy Dixon u.a. Das war nicht nur für mich, sondern für alle Blues-Fans in Europa die erste Chance, einige der Giganten des Blues leibhaftig auf der Bühne zu erleben. Noch in der gleichen Nacht fuhren die Musiker in das Studio der DEUTSCHEN GRAMMOPHON nach Rahlstedt und machten Aufnahmen. Ich hatte mich mit einem Kollegen dort angefreundet – er nahm mich mit: Es war die wildeste Nacht meines bisherigen Lebens. Kaffee gab es keinen, aber irgendwoher kamen größere Mengen Bier und Scotch, eine fatale Mischung. Auch der Kritiker Werner Burkhardt war dabei. Morgens um fünf war die Session beendet, keine Ahnung, wie ich nach Hause fand. Erst am späten Nachmittag wachte ich auf und musste feststellen, meiner Arbeit unentschuldigt ferngeblieben zu sein. Aber den Anpfiff meines Chefs war’s mir wert gewesen.
Das Album The Original American Folk Blues Festival erschien beim Label BRUNSWICK, nur hatten die Freunde von der DEUTSCHEN GRAMMOPHON die Aufnahmen ohne Absprache mit dem Konzertveranstalter Horst Lippmann gemacht. Der hatte aber keineswegs einfach ein paar Stars zusammengemietet, ganz im Gegenteil: Joachim Ernst Berendt hatte vorher Grundlagenforschung betrieben, in den Ghettos und in Südstaaten-Käffern wochenlang intensiv nach Musikern des authentischen Blues geforscht und sie mühsam überzeugt, nach Europa zu kommen (und mit der Zeit vielen von ihnen erst zu Wohlstand und Anerkennung verholfen). Die bahnbrechende, international gefeierte Konzertserie »American Folk Blues Festival« war seine Erfindung, und Lippmann + Rau haben sie realisiert. Diese Leistung und auch die Tour mit keinem Wort auf der LP zu erwähnen, war daher ein Frevel. Das brachte Ärger, und ich bekam die Chance, mir die Schallplattenrechte an künftigen Projekten von Lippmann + Rau zu sichern. Von 1963 bis 1966 produzierte ich die Alben des AFBF für PHILIPS. Diese Produktionen waren nicht nur sehr erfolgreich, sondern auch der Beginn einer wunderbaren Freundschaft mit Horst Lippmann und seinem Partner Fritz Rau.
In Hamburg stand mir zunächst nicht der Sinn nach Besuchen auf der Reeperbahn, denn ich verbrachte lange Abende mit dem Abhören und Bewerten der neuen Jazzkataloge. Aber die knalligen Plakate »Die Zeit der Dorfmusik ist vorbei! Am Freitag, dem 13. April eröffnet der Star-Club« waren nicht zu übersehen. Zur Eröffnung war der Laden rappelvoll.
Mit Duke Ellington
Die Beatles waren erstmals 1961 in Hamburg aufgetreten, erst im »Indra«, später im »Kaiserkeller« und im »Top-Ten«. Den Vertrag für das erste Gastspiel im »Star-Club« hatte noch der Schlagzeuger Pete Best mit unterschrieben. Für eine Gage von 500 DM pro Mann und Woche spielten sie von Mitte April bis Ende Mai 1962 zwischen 18 Uhr abends und 5 Uhr morgens sechsmal je eine Stunde. Als die Beatles am Vortag der Eröffnung mit ihrem neuen Manager Brian Epstein in Hamburg ankamen, hatten sie Ringo Starr statt Pete Best dabei und erhielten gleich eine Horrormeldung: Ihr einstiger Bassist Stuart Sutcliffe, der sich in Astrid Kirchherr verliebt hatte und in Hamburg geblieben war, war in der Nacht zuvor an einem Gehirntumor gestorben. Ein harter Auftakt für die Band, die damals für ihr umfassendes Beiprogramm an Spaß und Blödeleien bekannt war.
Ich habe die Beatles bei ihrem zweiten und letzten Engagement im »Star-Club« im November 1962 zum ersten Mal erlebt. Aber nicht die jungen Bands aus Liverpool lockten mich in die Große Freiheit 39, sondern die Rhythm & Blues-Stars Fats Domino und Little Richard. Bei der Gelegenheit geriet ich eher zufällig an die Beatles, die ich mir dann noch mehrmals begeistert anhörte. Mir wurde klar, dass hier eine neue Form der Popmusik entstand, die den Rhythm & Blues eines Chuck Berry mit Rockabilly à la Everly Brothers oder Buddy Holly verband. Während die Lieblingsnummer der Mädels A Taste of Honey war, gesungen von Paul McCartney, fuhren die Jungs mehr auf die harten Stücke ab, die meist John Lennon sang. Kurz vor dem letzten Hamburger Gastspiel war in England die erste Single der Beatles erschienen: Love Me Do, Auftakt der bald alle Grenzen sprengenden Beatlemania.
Chris Curtis, The Searchers im Star Club, 1963
Während des zweiten Gastspiels der Beatles verabredete ich mich mit »Star-Club«-Eigentümer Manfred Weissleder. Der ehemalige Elektriker aus dem Ruhrpott, ein Hüne von einem Mann, war mit seinen diversen Etablissements zum neuen König der Reeperbahn aufgestiegen. Weissleder residierte im Vorderhaus des »Star-Club« unter dem Dach, und mir war einigermaßen mulmig zumute, als ich morgens die Treppe hinaufstieg, um im Erotic Night Club, in dem es bereits zu dieser Stunde Pornos zu sehen gab, eine halbe Stunde auf den Boss zu warten. Dann erhielt ich Audienz beim König und schlug Weissleder vor, in seinem Club Aufnahmen zu machen. Er erkannte sofort die Werbewirksamkeit für seinen neuen Laden und zeigte mir die Garderobe hinter der Bühne, in der wir unsere Technik aufbauen könnten. Auf dem Weg wieder rauf in sein Büro ging Weissleder hinter mir, packte mich plötzlich an den Oberarmen, hob mich drei Stufen die steile Treppe hinauf und sagte: »Merken Sie sich eines, mit Manfred Weissleder spielt man nicht!«. Wieder im Büro, machte er Nägel mit Köpfen: Ich konnte eine Woche lang Tag und Nacht alle dort gastierenden Bands aufnehmen. Den Musikern müssten wir nichts bezahlen, dafür würde er sorgen, aber unter der Bedingung, dass von den Aufnahmen verbindlich eine Langspielplatte erschiene. Und sollten von ihr mehr als 10.000 Stück verkauft werden, hätte er gern eine kleine Lizenzgebühr. Na gut, wer dachte denn schon, dass das im Bereich des Möglichen sein könnte. Mit dem Angebot ging ich zu Hans Schrade, um ihm mein neues Produktionsprojekt vorzuschlagen. Er konnte sich nach meiner Beschreibung unter dieser Musik nichts vorstellen und dachte, es gehe wieder um Jazzaufnahmen. Und er sagte: »Wenn es außer der Technik nichts kostet, dann machen Sie mal.« Die Rechtsabteilung setzte eine Vereinbarung auf, die Unterschriften waren Formsache.
Als wir dann endlich mit der billigsten Aufnahmetechnik, die PHILIPS zur Verfügung hatte, in die Garderobe des »Star-Club« einzogen, spielten in der Woche gerade die Rattles, Sounds Inc., Peter Nelson & The Travellers, The Searchers und Tony Sheridan. Letzterer war bereits ein richtiger Star. Er hatte mit My Bonnie einen ersten Hit gelandet, den er mit den Beatles als Begleitband (unter dem Namen The Beat Boys) für POLYDOR eingespielt hatte.
Wir schnitten am ersten Tag von sechs Uhr nachmittags bis fünf Uhr morgens alles mit, aber unser Tonmeister war mit der Aufnahmequalität unzufrieden und schlug vor, wir sollten die Gruppen für den Rest der Woche tagsüber im leeren Club aufnehmen und abends die Technik nur wegen der Live-Atmosphäre mitlaufen lassen. Alle Gruppen waren einverstanden, zum Nulltarif auch noch tagsüber für uns zu spielen. Insbesondere Chris Curtis von den Searchers bat mich, möglichst viel Material aufzunehmen. Er versprach sich davon, zurück in England leichter einen Plattenvertrag zu bekommen. Wir haben insgesamt 23 Titel mit den Searchers aufgenommen, darunter auch ihren späteren Nummereins-Hit Sweets for My Sweet.
Nach dieser Woche hatten wir Unmengen von Bändern bespielt, es war eine Höllenarbeit, daraus eine LP zu montieren. Da ich tagsüber am Schreibtisch saß, verbrachte ich die Nächte im Schneideraum. Und da Tony Sheridan Exklusivkünstler der POLYDOR war, ich aber unbedingt die tolle Live-Version von Skinny Minnie mit dabei haben wollte, dachten wir uns ein Pseudonym aus: als »Star Combo mit Dan Sherry« war Sheridan auf der Platte vertreten.
Schließlich hatte ich das ganze Material für eine LP zusammen und ging damit stolz in die wöchentliche Abhörsitzung, in der alle neuen Produktionen verabschiedet werden mussten. Wir begannen mit dem Hören, und erst wurde das Gesicht von meinem Boss immer länger, dann folgten die Gesichter der anderen Direktoren. Bei Shimmy, Shimmy von den Rattles platzte Schrade der Kragen, und er rief: »Stopp! Dieser Schrott wird auf keinen Fall veröffentlicht.« Ich war geschockt und dachte sofort an Manfred Weissleders Drohung und die Folgen für mich, sollte die versprochene Platte nicht erscheinen. Ich hatte gehörigen Respekt und ein bisschen Angst vor dem ungekrönten König der Reeperbahn. So warf ich mich weiter ins Zeug, und da die Rechtsabteilung auf den bestehenden Vertrag verwies, hatte mein Chef doch noch ein Einsehen. Er genehmigte die Veröffentlichung in der kostengünstigsten Variante: Schwarzweiße Hülle, nur Schrift, kein Bild. Als ich meine selbstgeschossenen Fotos zur kostenlosen Nutzung anbot, bekam die Hülle auch noch ein Bild. Der Titel meiner ersten LP: Twist im Star-Club.
Kurz nach dieser Repertoirekonferenz fuhren wir zur Tagung aller Philips-Vertriebsmitarbeiter nach Bad Homburg. Da trafen sich rund 200 Vertreter, die neben Schallplatten auch Glühlampen, Rasierer, Radios und Fernseher verkauften. Ich stellte erstmals vor großem Publikum die Jazz-Neuheiten vor und traute mich am Schluss, auch einen Ausschnitt aus Twist im Star-Club vorzuspielen. Am Ende des Tisches sah ich das Gesicht von Hans Schrade schon wieder rot anlaufen, doch die gesamte Vertriebsmannschaft applaudierte begeistert, verlangte aber auch nach Singles. Schrade machte ganz auf Herr der Situation, erhob sich und verkündete: »Meine Herren, wir wissen doch, was der Markt verlangt. Während Sie hier sitzen und debattieren, laufen in Hannover bereits die Single-Pressen.« Des einen Enthusiasmus war des anderen Geschäft, das Eis war gebrochen. Die LP erschien und gleichzeitig eine ganze Serie von Singles.
The Searchers bekamen tatsächlich nach ihrer Rückkehr in England einen Vertrag. Sweets for My Sweet erreichte nach Love Me Do von den Beatles als zweite Single einer Gruppe aus Liverpool die Spitze der UK-Charts. Manfred Weissleder erzählte mir daraufhin, er habe für die noch nicht veröffentlichten »Star-Club«-Aufnahmen der Searchers ein Angebot des englischen Agenten Don Arden erhalten, der sie für 20.000 Pfund an DECCA verkaufen könne. Da er mit PHILIPS ja nur einen Vertrag über eine LP gemacht hätte, sollte ich ihm die Bänder besorgen, und wir würden halbe-halbe machen. 10.000 britische Pfund entsprachen damals über 100.000 Mark – ein verlockendes Angebot für einen jungen Mann mit einem Monatsgehalt von 880 Mark. Aber ich lehnte dankend ab und stellte aus dem Material selbst ein Searchers-Album zusammen. Leslie Gould, der englische Philips-Chef, traute seinen Ohren nicht, als ich ihm erzählte, dass er von seinen deutschen Kollegen ein ganzes Album mit dem derzeitigen Nummer-eins-Hit bekommen würde. Von den Aufnahmen im »Star-Club«, der Arbeit einer einzigen Woche, entstanden unterm Strich drei Alben plus diverse Singles, von denen sich insgesamt weit über eine Million Stück verkauften. Weissleder bekam seine Lizenz von 5 % des Großhandelspreises, die Musiker und auch der Produzent gingen leer aus. Mir bleibt die Ehre, dass diese Aufnahmen auch nach über 40 Jahren noch erhältlich sind.
Doch Weissleder hatte mir nicht verziehen, ihm das Searchers-Geschäft mit der DECCA versaut zu haben. In München war bereits Hans Beierlein aktiv, der umtriebige Verleger und Manager von Udo Jürgens und Alexandra. Der roch das Geschäft mit diesem neuen »unorganisierten Lärm« und bot dem Eigentümer des »Star-Club« für alle künftigen Aufnahmen gutes Geld. Die verhökerte er dann mit Aufschlag weiter an die ARIOLA.
Nach einem Jahr allerdings wurde Weissleder klar, dass es bei Musik nicht nur ums Geld geht, und reumütig kehrte er zurück. Ich war wieder Hausproduzent aller »Star-Club«-Künstler und startete das Label STAR-CLUB RECORDS für PHILIPS. Die Rattles wurden die erfolgreichste deutsche Beat-Band, aber auch die Rivets, Liverbirds, Lee Curtis, King Size Taylor and The Dominos und meine Lieblingsband Ian and The Zodiacs gehörten zu meinen Schützlingen.
Dass die Beatles ihre Karriere in Hamburg begonnen hatten, sprach sich bald herum, daher wollten nun viele internationale Stars im »Star-Club« spielen. Höhepunkt dieser Gastspiele war der Auftritt von Ray Charles und den Raeletts. Kein Konzertveranstalter hatte den Mut, den König des Soul auf dem Höhepunkt seiner Karriere für die geforderte Gage nach Deutschland zu holen. Manfred Weissleder jedoch zahlte ohne mit der Wimper zu zucken den Rekordbetrag von 60.000 Mark, um Ray Charles, der sonst nur in den größten Konzerthallen auftrat, für eines seiner ganz seltenen Clubgastspiele zu gewinnen. Für den genialen Grenzgänger zwischen Blues, Gospel, Rock und Jazz verwandelte Weissleder die Bühne in ein Blumenmeer und vergrößerte sie, um der kompletten 24-Mann-Bigband Platz zu bieten. In dieser Nacht des 10. Mai 1963 ging es ausnahmsweise richtig feierlich zu: Alle lauschten dem Meister hingegeben. Ich hatte das große Glück, Ray Charles bereits am Flughafen begrüßen und hinter der Bühne auch fotografieren zu können.
Mit den Rattles im Star Club, 1963
Ray Charles im Star Club, 1963
Nach diesem großartigen Konzert landete ich in meinem Büro wieder auf dem Boden der Tatsachen. Ray Charles war ein Weltstar, gefeiert für seine Hits I Got a Woman, Mess Around und What’d I Say, die alle von Ahmet Ertegun und Jerry Wexler produziert und auf ihrem legendären Label ATLANTIC veröffentlicht worden waren. 1960 wechselte Ray Charles zu ABC PARAMOUNT, um für den US-Markt sehr erfolgreich Country & Western zu spielen, den in Deutschland nur leider niemand hören wollte. Ich war für die Vermarktung der neuen Songs verantwortlich und konnte den Amerikanern nicht erklären, warum sich die US-Megahits in Deutschland nicht verkauften. Als sich das Jahre später geändert hatte, war ich längst nicht mehr bei PHILIPS.
Der »Star-Club« war nun Anlaufstelle für die Superstars des Rock ’n’ Roll und Rhythm & Blues: Fats Domino, Bill Haley, Gene Vincent, Little Richard, Chubby Checker, Chuck Berry, Bo Diddley, auch die neuen englischen Beat-Größen gaben sich die Klinke in die Hand: die Walker Brothers, Pretty Things, Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick and Tich, Merseybeats und die Spencer Davis Group.
Zu Spencer Davis entwickelte ich eine besonders enge Freundschaft. Seine Band wurde 1964 von Chris Blackwell entdeckt. Von ihrer ersten Single Every Little Bit Hurts war ich total begeistert. Die ersten Island-Produktionen der Spencer Davis Group erschienen bei uns damals auf FONTANA, einem Unterlabel der PHILIPS. Ich flog nach Birmingham, der Heimat der Band, um die Jungs kennen zu lernen. »Twisted Wheel« hieß der Club, in dem die Band auftrat, mit dem 17-jährigen Stevie Winwood als Sänger, Gitarrist und Organist. Es war einer dieser Abende, die man gegen nichts auf der Welt tauschen möchte. Nach dem Konzert ging ich hinter die Bühne, um mich mit meinem damals sehr ausbaufähigen Englisch als ihr deutscher Labelmanager vorzustellen. Spencer Davis antwortete mit breitem Berliner Dialekt: »Du kannst ruhig deutsch mit mir sprechen, ick habe det studiert.« Spencer war von Beruf Deutschlehrer. Die Band habe ich sofort an den »Star-Club« vermittelt. Als sie nach Hamburg kam, war gerade Keep on Running erschienen, der erste Hit der Gruppe, der sie weltweit bekannt machen sollte. Das nennt man ein perfektes Timing.
Nach dem Auftritt sagte Spencer zu mir: »Siggi, hier ist doch die Herbertstraße um die Ecke. Wir müssen Stevie zum Mann machen.« Also nahmen wir den »angehenden Mann« in unsere Mitte und rückten nach Mitternacht in das Zentrum des Sündenbabels ein. Eine Dame war bald gefunden, die sich freute, mal eine »Entjungferung« vornehmen zu dürfen. Wir lieferten Stevie also ab und warteten im strömenden Regen geduldig auf seine Rückkehr. Nach einer dreiviertel Stunde trat ein strahlender junger Mann zu uns auf die Straße. Es war vollbracht. Am nächsten Tag flogen wir nach Berlin, um Spencer für die »Bravo« in seiner alten Studentenbude fotografieren zu lassen. Und in meinem Enthusiasmus produzierte ich mit Spencer auch noch eine deutsche Single mit dem Titel Det war in Schöneberg, über die man heute lieber den Mantel des Schweigens ausbreiten sollte.
Nach dem großen Erfolg der Spencer Davis Group in Deutschland entwickelte sich eine persönliche Beziehung zu Chris Blackwell. Blackwell war in London geboren und in Jamaika aufgewachsen und hatte 1959 ISLAND RECORDS als Label für die populäre Musik Jamaikas gegründet. 1964 hatte er mit My Boy Lollipop von Millie einen Nummer-eins-Hit und Megaseller. Seither entwickelte er sich zu einem der wichtigen Produzenten der Popmusik. Nun wollte er Millie unbedingt im »Star-Club« auftreten lassen. Das Problem war nur, dass die kindliche junge Dame aus Jamaika keine Band hatte. Also bat mich Blackwell, eine Begleitband für den Auftritt seines neuen Stars aufzutreiben.
In meiner Not rief ich Klaus Doldinger an, mit dem ich unter dem Pseudonym Paul Nero’s Blue Sounds bereits eine Reihe von R & B-Aufnahmen gemacht hatte. Der Millie-Sound war nicht gerade seine Sache, aber Klaus sagte unter der Bedingung zu, dass er als Paul Nero auftrete und mit Perücke auf dem Kopf unerkannt bliebe. Am Vortag setzte ich, um das Ganze zu finanzieren, eine Plattenproduktion an. Blackwell sollte vorab die Noten für Millies 30-Minuten-Auftritt schicken. Zunächst kamen die Noten nicht, dann kam Millie erst am Tag des Auftritts, ohne Visum und immer noch ohne Noten. Die Einreiseformalitäten ließen sich regeln, und dann ging es direkt für einen Auftritt in der populären »Schaubude« ins Fernsehstudio. Derweil kam Chris Blackwell mit einer Anpressung der ersten Millie-LP unter dem Arm zu uns und schlug Klaus Doldinger vor, die Titel zu transkribieren. Wir hatten keine Wahl, Klaus machte sich an die Arbeit.
Doldinger traf Millie erstmals eine halbe Stunde vor dem Auftritt. Der »Star-Club« war komplett ausverkauft. Paul Nero’s Blue Sounds spielten 20 Minuten allein, dann betrat Millie die Bühne, brachte aber außer My Boy Lollipop keine einzige der mühsam einstudierten Nummern zustande. Also spielte die Band eine 25-minütige Version des Hits. Mit anderen Worten: Es war eine einzige Katastrophe. Wie durch ein Wunder kam es zu keinem Eklat, aber nach dem Auftritt sank mir Klaus ohnmächtig in die Arme. Mr. Blackwell konnte das alles nicht erschüttern, der Jamaikaner blieb »cool wie ein Swimmingpool«.
Stevie Winwood 1965
Klaus Doldinger als Paul Nero, 1964
Eine ähnlich peinliche Sache war meine erste Single mit Achim Reichel. Der Frontmann der Rattles wurde auf dem Höhepunkt des Erfolgs zur Bundeswehr eingezogen. Die Zeitungen waren voll mit Geschichten über den süßen wilden Sänger, die Mädels von Flensburg bis Passau lagen sich weinend in den Armen. Da hatte ich den Einfall, mit Achim den Titel Trag es wie ein Mann, eine deutsche Version des Walker-Brothers-Hits Take it Like a Man, einzuspielen. Klaus Doldinger schrieb das Arrangement und wir produzierten mit feinster Vier-Spur-Technik und großer Besetzung inkl. 40 Streichern im noblen Grunewald-Studio in Berlin. Das Unternehmen ging voll in die Hose, niemand wollte eine deutsche Single des Rock ’n’ Roll-Stars Achim Reichel kaufen. Und ich hatte etwas getan, das Ähnlichkeiten mit dem Wirken eines Schlagerproduzenten hatte, aber das war nun mal nicht meine Welt. Ich glaube, Achim Reichel hat mir diese Pleite lange persönlich übel genommen. Gute Freunde wurden wir aber doch noch.
Einsamer Höhepunkt meiner Arbeit für den »Star-Club« sollte der Mitschnitt einer Rock ’n’ Roll-Legende werden: Live at the Star-Club von Jerry Lee Lewis mit den Nashville Teens ist für mich die beste Aufnahme aus jener Zeit. Mit dieser Meinung bin ich nicht allein: Der amerikanische Biograf von Jerry Lee Lewis hat mich 2008 nach Einzelheiten dieser Produktion befragt und sagte, das Album sei das beste, das Jerry Lee Lewis je gemacht habe.
Ich war bereits für LIBERTY in München tätig, als ich die letzte Band für Manfred Weissleder und das Label STAR-CLUB RECORDS produzierte: die Remo Four mit dem famosen Sänger und Organisten Tony Ashton, eine Gruppe, die mit ihrer Mischung aus Jazz und Rhythm & Blues ganz meinem Geschmack entsprach. Die Aufnahmen entstanden nachts im Studio Maschen bei Hamburg. Als der Fotograf Kalle Köhler am nächsten Morgen kam, um Bilder fürs Cover zu machen, lagen die Musiker völlig fertig im Gras, unfähig, ein freundliches Gesicht zu machen. Sie schauten ziemlich grimmig drein, die Platte nannten wir Smile. Heute ist das Original eine absolute Rarität und unter Sammlern heißbegehrt. Das vereinbarte Honorar hat mir Manfred Weissleder nie gezahlt, und ich bestand nicht darauf. Das war das Ende meiner Arbeit für den »Star-Club«. Die nächsten vier Jahre lebte ich in München und habe keinen der letzten legendären Auftritte von Jimi Hendrix, Spooky Tooth, Vanilla Fudge oder Cream dort erlebt.
Eine neue Zeit war angebrochen. Rockstars traten nicht mehr in Clubs auf, sondern in großen Hallen. Manfred Weissleder zog sich zurück. Die Ex-Rattles Achim Reichel und Frank Dostal sowie der Ex-Rivet Kuno Dreysen versuchten das sinkende Schiff noch einmal flott zu machen, vergeblich. Am Silvesterabend 1969 fand im »Star-Club« das letzte Konzert statt, mit Hardin & York (Pete York war der Schlagzeuger der Spencer Davis Group). Eine Ära war beendet, ohne dass die Kulturverantwortlichen in Hamburg begriffen, dass in ihrer Stadt moderne Musikgeschichte geschrieben worden war.
Das »American Folk Blues Festival«, von Lippmann + Rau in ganz Europa präsentiert, löste Anfang der 60er-Jahre eine Welle der Begeisterung aus. Eine junge Garde britischer Rockmusiker zog es magisch in die Londoner Royal Festival Hall: Mick Jagger, Keith Richards, Brian Jones, Jeff Beck, Eric Clapton, Jimmy Page, Eric Burdon. Deren Musik hatte, im Gegensatz zum Mersey-Sound der jungen Kollegen aus Liverpool, ihre Wurzeln im amerikanischen Blues. Später wurden sie als Rolling Stones oder Yardbirds mit ihrer eigenen, englisch akzentuierten Version des Blues weltberühmt. Legendär waren die Sessions nach den AFBF-Konzerten im Londoner »Crawdaddy Club«. Hier jammten die Veteranen mit ihren englischen Jüngern. Eine dieser Nächte – mit Sonny Boy Williamson und den Yardbirds – wurde 1963 von Horst Lippmann aufgenommen. Lippmann erzählte mir später davon bei einem meiner vielen Besuche in seinem schönen Haus in Dreieich bei Frankfurt, das ich nicht eher verließ, bis wir die Bänder in seinem Keller gefunden hatten. Selig fuhr ich mit dem gehobenen Schatz nach Hamburg. Ein technischer Fehler – eine laute Störfrequenz zog sich durch alle Titel – ließ sich beheben, nicht aber unterschiedliche Meinungen in der Abhörkommission. Meine Chefs wollten diese Musik nicht, also bot ich sie Manfred Weissleder an, und der setzte durch, dass ich das Album auf dem Star-Club-Label veröffentlichen konnte.
Sunny Boy Williamson und Muddy Waters, 1963
Die Blues-Gemeinde in Hamburg, angeführt von dem großen Musikkritiker Werner Burkhardt, traf sich einmal im Monat bei Heinz Lukasz, der als Radiopromoter bei PHILIPS mein Kollege war. Jeder brachte seine neuesten LPs mit, und von Samstagabend bis Sonntagmittag hatten wir den Blues. Als Schmiermittel diente Wodka, als Grundlage dafür Paprikaspeck. Lukasz hatte eine große Etagenwohnung mit einigen »Kitzelkammern«, in die man sich zwischendurch mit einem weiblichen Blues-Fan zurückziehen konnte. Die Partys waren legendär.
Nicht weniger legendär und musikalisch noch aufregender waren die NDR Jazz-Workshops. Ihr langjähriger Leiter Hans Gertberg hatte seit 1958 mit unglaublichem Gespür führende in- und ausländische Solisten zusammengebracht, die sonst nie miteinander hätten spielen können. Einmal im Jahr war der Workshop zu Gast bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. Die Liste der Musiker liest sich heute wie ein Who’s Who des modernen Jazz. Ich hatte das Vergnügen, das 1964er-Konzert für PHILIPS aufzunehmen, u.a. mit Donald Byrd, Johnny Griffin, Sahib Shihab, Åke Persson, Albert Mangelsdorff und Klaus Doldinger. Die meisten Workshop-Gäste kamen aus Schweden, immer wieder auch der junge Pianist Jan Johansson, der 1962 damit begonnen hatte, schwedische Volksmusik für den Jazz zu bearbeiten. Damit lieferte er die Blaupause für die späteren Erfolge einer ganzen Generation von skandinavischen Jazzmusikern. Johansson starb 1968 mit 37 Jahren bei einem Autounfall. Sein Album Jazz på svenska (Jazz auf Schwedisch) ist heute nationales Kulturgut und aus keinem schwedischen Haushalt wegzudenken.
Meine spätere Affinität zu Jazz aus Skandinavien begann in dieser Zeit, als ich auch regelmäßig nach Kopenhagen ins »Café Montmartre« fuhr. Viele amerikanische Jazzgrößen lebten in den 60er-Jahren in Europa, meist in Paris, Stockholm und Kopenhagen. Hier habe ich sie hautnah erlebt: Stan Getz, Ben Webster, Coleman Hawkins, Bud Powell, Oscar Pettiford und immer wieder den großen Dexter Gordon. Schon als Jugendlicher spielte Niels-Henning Ørsted Pedersen, der spätere treue Sideman von Oscar Peterson, in der Rhythmusgruppe des »Montmartre«.
Mit dem einzigartigen Erfolg der Beatles begann 1964 der Siegeszug der Langspielplatte, deren Absatz sich seit 1960 von 3,4 auf 10 Millionen Exemplare verdreifacht hatte. Sie streifte den Charakter eines Nebenprodukts der Geräteindustrie ab und wurde das Medium der bewegten Jugend. Auch bei PHILIPS erkannte man die Zeichen der Zeit. In einer Presseerklärung las sich das so: »Die ständige Ausweitung des Schallplattengeschäftes führte in unserem Hause zu Überlegungen, die uns veranlassten, die bisher von der Musikabteilung der Deutschen Philips GmbH wahrgenommene Aufgabe der Schallplattenaktivitäten auf eine eigene Gesellschaft, die Philips Ton GmbH, zu übertragen.« Und ich stieg auf, nämlich um eine Tarifgruppe mit einem Bruttogehalt von nunmehr 1039,00 DM.
1964 hörte ich großartige Konzerte von Duke Ellington, Charles Mingus mit Eric Dolphy, Thelonious Monk und Chuck Berry. In Bremen machte Michael »Mike« Leckebusch seine erste Regieerfahrung: Siegfried Schmidt-Joos, Jazzredakteur bei Radio Bremen, überredete ihn zu einer Fernsehproduktion mit dem Saxophonisten Roland Kirk, und daran verzweifelte er fast. Später erfand Leckebusch den »Beat-Club« und hat sich nie wieder mit Jazz eingelassen.
Auf den internationalen Repertoiresitzungen im holländischen Baarn lernte ich Quincy Jones kennen, dessen Musik ich verehrte; bei MERCURY wurde er erster schwarzer Vice President eines großen amerikanischen Labels. Ich begegnete Bill Grauer und Orrin Keepnews, die Monk, Bill Evans und Cannonball Adderley auf ihrem Label RIVERSIDE groß gemacht hatten. Außerdem bekamen wir Besuch von Bob Thiele, einer weiteren Producerlegende des Jazz, der uns das Label IMPULSE vorstellte. Die ersten beiden Alben waren Africa/Brass von John Coltrane und Genius + Soul = Jazz von Ray Charles. Auch die aufwendigen Albumverpackungen in Klapptaschen waren etwas bisher nie Dagewesenes. Ich musste das Label in meinem Programm haben und bekam es.
»Philips for Jazz« gewann mehr und mehr an Profil. In Köln produzierte ich mit Gigi Campi den »Little Giant« Johnny Griffin. In Berlin entstand mit George Gruntz Jazz Goes Baroque sein erstes und erfolgreichstes Album. Mit Joachim Ernst Berendt, dem Rezitator Gert Westphal und dem Gitarristen Attila Zoller machten wir die großartige LP Heinrich Heine: Lyrik und Jazz. Klaus Doldinger spielte als Paul Nero Classics à la Twist ein, und für Star-Club Records entstanden Produktionen mit King Size Taylor & The Dominoes, Davy Jones, Mama Betty’s Band, Ian & The Zodiacs und den Merseybeats. Mit dem Schlagersänger Peter Beil flog ich nach London, um den aktuellen Top-Ten-Hit The Crying Game von Eden Kane mit dem deutschen Text Weitergehn einzuspielen. Den prägnanten Gitarrenpart spielte ein gewisser Jimmy Page. Die Rattles coverten den Small-Faces-Hit Sha-La-La-La-Lee, damit kamen wir noch vor dem Original in die deutschen Single-Charts. Um meine Sissy habe ich mich in der Zeit nicht gut gekümmert. Damit wir uns nicht verloren gingen, haben wir am 18. Dezember 1964 geheiratet.
Das neue Jahr begann mit einem Konzert des »Spiritual und Gospel Festival« in der Bremer »Glocke«, von Lippmann + Rau veranstaltet und von mir mitgeschnitten. Bishop Samuel Kelsey, Inez Andrews und die Original Five Blind Boys verwandelten den Saal in eine Südstaaten-Kirche. Derweil stieg in England Dusty Springfield zum neuen Superstar auf. Wegen ihrer für eine Weiße ungewöhnlich souligen Stimme galt sie bald als »White Queen of Soul«. Springfields Manager hatte auch die junge Kiki Dee unter Vertrag genommen und bei dem Schwesterlabel FONTANA untergebracht. Kiki Dee hat nie ähnlich groß Karriere gemacht wie Dusty Springfield. Möglicherweise hat sie ihr Manager bewusst klein gehalten, um seinen Star zu schützen. Unter Fachleuten galt Kiki Dee aber als die bessere Sängerin. Ihren internationalen Durchbruch schaffte sie erst Jahre später, 1976, mit dem Welthit Don’t Go Breaking My Heart im Duett mit Elton John.
Ich machte meine Aufnahmen nun am liebsten in Berlin. Die Ruine des ehemaligen Hotel Esplanade stand direkt an der Mauer, darin befand sich das Aufnahmestudio von PHILIPS. So würde man das heute nicht mehr nennen, denn die Musiker arbeiteten auf der Bühne des ehemaligen Ballsaals und die Technik befand sich einmal mehr ohne Sichtverbindung zu den Künstlern im Keller. Das Treppenhaus wurde als Hallraum benutzt. Hier sind viele große Hits entstanden, und Ingenieur Peter Kramper war ein Tonmeister im wahrsten Sinn des Wortes. Als ich mit meinen neuartigen, für manche befremdlichen Künstlern ankam, war er meine große Stütze. In einer Märzwoche produzierte ich dort vier Langspielplatten, deren musikalisches Spektrum nicht breiter hätte gefächert sein können. Es begann mit The Big Beat, einer geglückten Verbindung aus Jazz, Rhythm & Blues und Beatmusik. Für dieses Experiment versteckte sich Klaus Doldinger erneut hinter seinem Pseudonym Paul Nero. Dann kam The Horizon Beyond, das erste Album von Attila Zoller unter seinem Namen, mit Don Friedman, Piano, Barre Philips, Bass, und Daniel Humair am Schlagzeug. Führte Free Jazz später oft in die kommunikative Sackgasse, so waren hier echte Pioniere am Werk. Das Album gilt heute als frühes Meisterwerk freier Improvisation. Diesem Ausflug in die Zukunft folgte am nächsten Tag Jazz Goes Baroque 2, für das George Gruntz Musik u. a. von Vivaldi, Albinoni und Monteverdi bearbeitet hatte. Schließlich Doldinger in Süd-Amerika für die »twen«-Serie, in Vorbereitung auf Doldingers große Südamerika-Tour. Das Album erschien im September am Tag der Rückkehr des Klaus Doldinger Quartetts aus Rio de Janeiro. Doldinger erhielt eine große Geschichte im »twen« und eine gute Presse rund um die Tour. Heute wäre jeder Produzent so clever, ein Album derart punktgenau zu veröffentlichen, damals galt dies als Marketing-Coup.
Nach dem Mauerfall wurde der Kaisersaal des Hotel Esplanade unter Denkmalschutz gestellt. Für den Bau des Sony Center am Potsdamer Platz musste es mit Hubkränen zur Seite gefahren werden, um nach Fertigstellung des Hochhauses wieder an seine alte Stelle versetzt zu werden, als Mittelpunkt des neuen Gebäudekomplexes. Kaum jemand in Berlin wird wissen, dass in diesen Trümmern in den 60er-Jahren Musikgeschichte geschrieben wurde.
Im Juli holten Sissy und ich unsere Hochzeitsreise nach, wir fuhren nach Schweden. Da das Ersparte für die Anschaffung eines Fiat 1100 draufgegangen war, wurde es eine Reise über die skandinavischen Zeltplätze, was mir nichts ausmachte, aber nicht so richtig nach dem Geschmack meiner Angetrauten war. In Visby auf der traumhaft schönen Insel Gotland erlebten wir, dass die Schweden ihren Sommer nicht nur genossen, sondern ihn als Ausgleich für die langen Wintertage geradezu zelebrierten. In offenen Amischlitten fuhren die jungen Leute, bis auf den Fahrer alle ziemlich betrunken, in einem ständigen Autokorso durch die Stadt. Am Ende steuerten sie den Folkespark an, in dem die Hep Stars auftraten. Das war die erste schwedische Supergroup mit dem jungen Benny Andersson an den Keyboards, der später mit Abba zum Weltstar wurde. Die Hep Stars treten heute noch regelmäßig auf, allerdings ohne Benny Andersson, und auch die alten Straßenkreuzer sieht man im Sommer nur noch gelegentlich in den Straßen.
In Stockholm besuchte ich die schwedische Philips-Zentrale und lernte Göte Wilhelmsson kennen, den Chefproduzenten, einen unglaublich netten und gastfreundlichen Mann. Er lud uns spontan in sein Ferienhaus ein, wo wir seine Frau, die Sängerin Lily Berglund, kennen lernten. Göte spielte mir seine Produktion Old Folklore in Swedish Modern vor, die er mit Bengt-Arne Wallin gemacht hatte. Das war eine Übertragung der Idee von Jan Johansson, schwedische Volksmusik für den Jazz zu bearbeiten, nicht im Trio, sondern mit großem Orchester. Das Ergebnis war überwältigend, ich habe das Album sofort in Deutschland veröffentlicht.
Auf dem Rückweg die Westküste entlang lagen wir eines frühen Abends in Hunnebostrand in unserem Zwei-Mann-Zelt, als ich aus der Ferne eine Bassdrum hörte. Wir folgten dem Beat, er führte uns direkt in einen weiteren Folkespark, in dem Cliff Richard and The Shadows auftraten. Hier erlebte ich zum ersten Mal, wie junge weibliche Fans außer Rand und Band gerieten und ihrem Idol Höschen und BHs auf die Bühne warfen. Im »Star-Club« hatte es das nicht gegeben. Meine Sissy war schockiert, ich fand’s lustig.
Da die deutschen Radiosender den Erfolg der neuen Popmusik konsequent ignorierten, hörten die jungen Leute lieber die alliierten Soldatensender AFN und BFBS sowie Radio Luxemburg und den Piratensender Radio Caroline, der von einem Schiff in der Nordsee aus sendete. Der erste deutsche Fernsehsender, der ein Programm speziell für die Jugend einführte, war Radio Bremen. Mike Leckebusch entwickelte mit dem Disc-Jockey Gerd Augustin den »Beat-Club«. Am 25. September 1965 war Sendestart. Ich kannte Leckebusch seit seinem verunglückten Regiedebüt mit Roland Kirk und war deshalb von der ersten »Beat-Club«-Sendung an mit meinen Künstlern vertreten, unter anderem mit den Liverbirds aus Liverpool, der ersten Girlgroup der Welt. Der »Beat-Club«, angesagt von der attraktiven Uschi Nerke und Gerd Augustin (der nach wenigen Sendungen abgesetzt wurde), war vom Start weg erfolgreich. Bereits in der zweiten Folge kamen mit Sonny & Cher die ersten internationalen Stars nach Bremen.
Mit dem Erfolg der Beatles wuchs eine neue Generation von Künstlern heran und veränderte das Musikbusiness grundlegend. Bisher hatten die Schallplattenfirmen das Musikangebot komplett gesteuert und jeden Künstler fallengelassen, der an Erfolg einbüßte oder sich ihrem Diktat nicht unterordnete. Sie konnten das, weil der Markt sehr überschaubare Strukturen hatte und es keine Möglichkeit gab, abseits von ihnen Erfolg zu haben. Ein Mittel, die Nachfrage zu steuern, bestand darin, Radio-Discjockeys zu bestechen. Man muss sich vorstellen, wie das vonstatten ging: Die Radio-Promoter der Major Companies hatten die neuen Produktionen in der Tasche und verteilten an wichtige Redakteure die Autorenrechte der B-Seiten, ohne dass diese auch nur eine Zeile wirklich selbst getextet hatten.
Ob sie nun die Rechte gleichsam geschenkt bekamen oder selbst etwas dafür taten, hier war sehr viel Geld im Spiel. Ein Beispiel: Die ELECTROLA hatte beschlossen, die ersten Beatles-Singles auch auf Deutsch einzuspielen (Sie liebt dich, Komm gib mir deine Hand) – für die deutschen Texter eine Goldader, denn nach dem Verteilungsschlüssel der GEMA bekam ein deutscher Sub-Texter 12,5 % der in Deutschland anfallenden Urhebertantiemen, von allen Schallplattenverkäufen und allen öffentlichen Aufführungen der Werke, gleich ob es sich um die deutsche oder die Originalversion handelte. Sobald bei der GEMA ein deutscher Text registriert war, klingelte es bei den Sub-Textern in der Kasse. Als deutscher Texter der Beatles-Songs stehen auf dem Etikett Nicolas/Hellmer bzw. Nicolas/ Montague. Dahinter steckten dem Vernehmen nach der ehemalige Chefsprecher von Radio Luxemburg Camillo Felgen sowie Larry Yaskil. Über diesen Weg haben sich viele Texter ihre Villen im Tessin und auf Mallorca finanziert. Als ich später Geschäftsführer des United Artists Musikverlags wurde, ließ ich sofort prüfen, für welche internationalen Kompositionen bei der GEMA deutsche Texte gemeldet waren. Dabei kam heraus, dass es u.a. auch einen deutschen Text für die Filmmusik von The Good, the Bad and the Ugly mit Clint Eastwood gab. Es gab auf der ganzen Welt keine einzige Vokalaufnahme dieser Komposition, aber es gab einen deutschen Texter, der an jeder Filmaufführung prächtig mitverdiente. Ich habe einige solcher unlauteren Verlagsverträge sofort gekündigt und auf Einsprüche der Texter gewartet, um einen Musterprozess gegen diese Praxis führen zu können. Leider hat mir keiner diesen Gefallen getan, auch nicht die GEMA. Der entsprechende Verteilerschlüssel wurde nach langen Verteidigungskämpfen der Nutznießer geändert. Heute verdient ein Texter nur an der Verwertung seiner eigenen Leistung.
In den USA hatte es bereits 1959 den großen Payola-Skandal gegeben, bei dem es um verschiedene Formen der Bestechung von Discjockeys durch die Schallplattenfirmen gegangen war: »to pay for play«. Der Prozess schlug auch politisch hohe Wellen und endete 1962 mit der Verurteilung einiger besonders schwarzer Schafe. Aber so ganz aus der Mode gekommen ist die Bestechung im Schallplattengeschäft nicht. Noch 2005 zahlte Sony-BMG in den USA 10 Millionen Dollar, um einen neuen Payola-Prozess abzuwenden.
Mitte der 60er-Jahre nun befand sich der gesamte Schallplattenmarkt im Umbruch. Die Tage, in denen allmächtige Produzenten im Dienst ihrer Konzerne das große Geschäft mit den Singles bestimmten, waren gezählt. Der Langspielplatte gehörte die Zukunft und damit einer völlig neuen Produktionsphilosophie, bei der die Künstler immer größeren Einfluss gewannen. Die Konzerne büßten nach und nach die Kontrolle über die Inhalte ihrer Produkte ein. 1965 hatte sich der LP-Umsatz in Deutschland mit 16 Millionen Stück gegenüber 1960 verfünffacht. Im gleichen Zeitraum sanken die Single-Verkäufe von 33 auf 25 Millionen Stück.
Da ich bei PHILIPS der erste war, der diese neue Art von Popmusik angeschleppt hatte (obwohl ich nicht als Produzent angestellt war), wurde meine Position intern aufgewertet. Gegen den Widerstand von Produktionsleiter Wolfgang Kretzschmar bot mir Hans Schrade Ende des Jahres neben meiner Anstellung als Labelmanager International für 1966 einen Produzentenvertrag für zehn weitere LPs an, an deren Verkäufen ich mit einer Lizenz beteiligt werden sollte. Das konnte Kretzschmar nicht gefallen, zumal ich ihm in der Hierarchie nicht unterstellt war.
1963 hatte Esther Ofarim für die Schweiz beim Grand Prix d’Eurovision in London gesungen und den zweiten Platz gemacht – der Beginn der Karriere von Abi und Esther Ofarim in Europa. Sie wurden von der deutschen PHILIPS unter Vertrag genommen und sollten mit anspruchsvollen deutschen Liedern vermarktet werden. Das erwies sich als sehr schwierig, irgendwie bekamen die Produzenten die Sache nicht in den Griff. Da die Ofarims in ihrer Heimat Israel mit Folklore bekannt geworden waren, hatte Abi sich ausbedungen, dass sie neben den deutschen Produktionen eine LP mit Folklore aufnehmen konnten. Den Job bekam Milt Okun, erfolgreicher Produzent von Peter, Paul and Mary, die in den USA die neue Welle der Singer/Songwriter anführten.
Produziert wurde in Los Angeles, bezahlt in Hamburg. Als die große Abhörkommission beisammensaß und gespannt auf das Ergebnis wartete, gab es zunächst nur Bandsalat, weil die Telefunken-Maschinen das amerikanische Ampex-Band nicht abspielen konnten. Eine Woche später klappte es mit der Technik, doch je länger das Band lief, desto größer wurde die Enttäuschung: Wir hörten simple Folksongs, zumeist nur spärlich von Gitarre und Bass begleitet. Hans Schrade war fassungslos und wollte nicht einsehen, warum so wenige Instrumente so viel Geld gekostet hatten. Er entschied, dass die Platte nur international von PHILIPS in Holland veröffentlicht werden sollte. In Deutschland hatte man andere Pläne mit den Ofarims. Ich erlaubte mir noch die Frage, ob ich das Band vorher meinen Freunden von »twen« vorspielen dürfte. Ich durfte und nahm eine Kopie mit nach Köln. Fleckhaus und Köper waren begeistert und hatten mit Songs der Welt auch gleich einen passenden Titel parat. Willy Fleckhaus gestaltete eine schöne, dem Charakter der »twen«-Serie entsprechende Hülle. Im Eifer des Gefechts bekam Abi Ofarim erst das fertige Produkt zu sehen, und das missfiel ihm nachhaltig. Er setzte durch, dass die gedruckten Cover eingestampft und ein ihm gefälliges Foto verwendet wurde. Der Rest ist Geschichte: Von der LP wurden in einem Jahr über 500.000 Stück verkauft.
Als das nächste Album anstand, begann mit den Ofarims eine Diskussion über den Produzenten. Abi wollte etwas Neues probieren, und er hatte von mir gehört. Im Januar 1966 fuhr ich zu Esther und Abi nach München, die am Arabellapark in einem der neuen Promi-Wohntürme mit wunderschönem Ausblick über die Stadt lebten. Ich hatte mich gut vorbereitet und einige Platten mitgebracht mit Kompositionen, von denen ich dachte, sie könnten sich für das Duo eignen. Esther war besonders von meinen Alben mit elisabethanischen Songs angetan. Sie wollten mich nun als Produzenten, auch Schrade und Kretzschmar stimmten zu, und ich stürzte mich in die neue Herausforderung. Sogar die Bee Gees steuerten zwei Kompositionen bei. Als wir uns über die Titel verständigt hatten, buchte ich Arrangeure, Musiker und Studio für die Produktion in London.
Doch in der Zwischenzeit war einiges geschehen: SIEMENS und PHILIPS hatten beschlossen, ihre Schallplattenunternehmen zu fusionieren. Hans Schrade sollte nach Mexiko versetzt werden. Als sein Nachfolger wurde uns ein Herr Metaxas präsentiert, der mir noch bestätigte, alle mit seinem Vorgänger gemachten Absprachen blieben bestehen, und kurze Zeit später auf Nimmerwiedersehen verschwand. Neuer Kandidat für den Posten des Geschäftsführers war Hans Nietschke, ehemaliger Finanzchef der POLYGRAM, ein altgedienter Siemens-Soldat, der kurz vor seinem Ruhestand noch einen entsprechend dotierten Karrieresprung machen durfte. Nietschke empfing mich gemeinsam mit Kretzschmar, dem ich ohnehin ein Dorn im Auge war, und eröffnete das Gespräch mit der Bemerkung, er hätte sich die Akten aller Mitarbeiter angesehen und ihm wäre dabei mein außergewöhnlich hoher Spesenaufwand aufgefallen. Dazu passend eröffnete mir Kretzschmar, dass Abi Ofarim die nächste Produktion selbst machen werde. Dass er in seiner Eigenschaft als Produktionschef den Auftrag an mich persönlich unterschrieben hatte, spielte keine Rolle mehr. Am nächsten Morgen reichte ich meine Kündigung ein. Heute bin ich den Herren für ihr Handeln sehr dankbar. Wer weiß, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn es nicht zu dieser Trennung gekommen wäre.