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02 EIN KÄFER VOLLER PLATTEN ~ IM DIENST DER ELECTROLA 1960/61
ОглавлениеAm Anfang stand ein kleines Schaf: 1877 gelang es Thomas Alva Edison, Musik mit Hilfe eines Schalltrichters auf eine Walze aufzunehmen und auch wieder abzuspielen. Seine erste Aufnahme: das Kinderlied Mary had a little lamb. Edison hatte mit dem Phonographen die Urform des Abspielgeräts erfunden, aber mit der Walze noch keinen zukunftsweisenden Tonträger. Auf ihn kam der Erfinder und Industrielle Emil Berliner aus Hannover, 1870 in die USA ausgewandert, der sich 1887 die horizontale Schneidtechnik in eine Wachsplatte patentieren ließ – der Erfinder der Schallplatte. 1889 ließ Berliner in Deutschland erstmals Schallplatten in Serie produzieren, zunächst auf Hartgummi, was sich langfristig nicht bewährte. Im selben Jahr gründete er die AMERICAN GRAMOPHONE COMPANY, die zunächst erfolglos die Verwertung seiner Erfindung übernahm.
Grammophon und Schallplatte waren zukunftsweisende Erfindungen, doch wie Topf und Deckel voneinander abhängig. Beide mussten gleichermaßen praktikabel sein, um eine perfekte Einheit zu bilden. Bis Berliner aus seiner Erfindung einen wirklich tauglichen Tonträger gemacht hatte, der sich auf zuverlässigen und einigermaßen gut klingenden Geräten abspielen ließ, vergingen weitere Jahre der Entwicklung. Der entscheidende Schritt gelang 1896 mit der Verwendung von Schellack als Trägermaterial: Der Siegeszug der »Platte« begann und mit ihr die eigentliche Geschichte der Schallplattenindustrie. Berliner witterte das Geschäft und wollte es nicht den anderen überlassen: Er gründete die GRAMOPHONE COMPANY in England und die DEUTSCHE GRAMMOPHON-GESELLSCHAFT in Berlin. Mit der PATHÉ in Frankreich und CARL LINDSTRÖM in Schweden folgten weitere Schallplattenhersteller in Europa und mit der COLUMBIA GRAPHOPHONE COMPANY eine erste Konkurrenz in den Vereinigten Staaten. An dieser Stelle hätten sich die alteingesessenen Musikverlage engagieren müssen. In ihren Händen lag die Verbreitung von Musik und die Wahrung der Rechte an ihr: Sie verdienen Geld, wenn eine Komposition aufgeführt wird, wenn Noten verkauft oder vermietet werden. Doch die großen Traditionsverleger wie Breitkopf & Härtel (gegründet 1719) und Schott (1770) in Deutschland, Ricordi (1808) in Italien oder Boosey & Hawkes (1760) in England gaben sich auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit den Einkünften aus öffentlichen Aufführungen (Opernhäuser, Konzerte) sowie dem Verleih und Verkauf von Noten zufrieden. Das Potenzial der Schallplatte verkannten oder unterschätzten sie und führten lediglich das mechanische Vervielfältigungsrecht ein, das Verleger und Autor einen Anteil an der weiteren Verwertung sicherte. Ein historischer Fehler, denn die Musikverleger hatten damit ohne Not die Kontrolle über den Markt der Zukunft aus der Hand gegeben. Statt den Kuchen selbst zu backen, forderten sie nur ihr Stück. Das Geschäft mit der Schallplatte machte ein neuer Typus von Unternehmer. In der Folgezeit sollten sich ausschließlich Industrielle – die Hersteller von Geräten und Schallplatten – mit der Aufnahme, Vervielfältigung und dem Vertrieb von Musik befassen. Ich bin mir sicher, die Geschichte der Musikindustrie wäre anders verlaufen, wenn die Musikverleger die Zeichen der Zeit damals rechtzeitig erkannt hätten.
Ein Fahrradfabrikant stellt ein Produkt her, mit dem der Käufer sofort losfahren und glücklich sein kann. Das ist in der Musikindustrie anders: Wer Grammophone verkaufen will, braucht attraktive Schallplatten und immer genügend Nachschub. Also nahmen die Hersteller von Grammophonen die Produktion von Aufnahmen selbst in die Hand. Doch für sie, tendenziell eher Fabrikanten als Kulturinteressierte, war die Musikaufnahme vor allem ein notwendiges Produkt in einer Vermarktungskette. Musiker, Komponisten und Texter waren darin Mittel zum Zweck. So mangelte es an Gefühl dafür, dass mit dem neuen Geschäft auch eine vielseitige Verantwortung verbunden war, etwas, das sich bei Verlegern von Musik und Büchern über zwei Jahrhunderte entwickelt hatte. Denn mit künstlerischer Arbeit kann man nicht beliebig umgehen wie mit Patenten. Künstler und Autoren wollen mindestens ebenso umworben und gepflegt werden wie die Konsumenten – eine Erfahrung, die die Musik- und Literaturverleger verinnerlicht hatten. Aber Schallplattenfabrikanten hatten kein Verlegerbewusstsein.
Grammophone und Schellackplatten wurden in den USA und in Europa rasch beliebt, besonders beim Bildungsbürgertum. Für das gemeine Volk wurden die Musikboxen entwickelt. 1939 erfand Peter Carl Goldmark das Prinzip der Langspielplatte. Statt der bisherigen Spieldauer von drei bis vier Minuten pro Seite bei einer Abspielgeschwindigkeit von 78 Umdrehungen pro Minute konnte die LP bei einer Geschwindigkeit von 33 1/3 UpM bis zu 20 Minuten Musik aufnehmen. Vorläufer der Vinyl-Langspielpatte war die V-Disc. Das amerikanische Kriegsministerium versorgte über diese »Victory-Scheiben« die GIs im Zweiten Weltkrieg mit aktueller Musik. Auf V-Disc landeten viele musikalische Juwelen, Aufnahmen, die nicht in den kommerziellen Studios, sondern meist bei Truppenbetreuungskonzerten fürs Radio entstanden waren. Nach dem Krieg wurden V-Discs wertvolle Sammlerstücke.
1948 erschien bei COLUMBIA RECORDS die erste kommerzielle 30cm-Langspielplatte mit 33 1/3 Umdrehungen und einer Kapazität von rund 20 Minuten Musik pro Seite. Die Langspielplatte war auf dem Markt, wenn auch noch lange nicht durchgesetzt. Im Folgejahr brachte RCA VICTOR die 17cm-Single mit 45 UpM und großem Mittelloch – um 1960 hatte sie die Schellackplatte endgültig abgelöst. Die ersten LPs in Deutschland erschienen 1951 bei der DEUTSCHEN GRAMMOPHON GESELLSCHAFT. Und noch ein Datum: MERCURY RECORDS brachte 1958 die erste kommerzielle Stereo-LP heraus.
Dieser kurze Blick in die Geschichte der Musikkonservierung zeigt, dass es seit Edisons Schalltrichter zahlreiche technische Neuerungen gegeben hat, die sich wieder überlebten. Die Single als kleine schwarze Scheibe ist Vergangenheit und mit ihr der einstmals so riesige Markt für den physischen Absatz einzelner Songs. An den Plattenspielern verschwand irgendwann der Schalter, der ein Abspielen mit 78 UpM ermöglichte. Das Tonband, ob mehrere Zentimeter breit fürs Tonstudio oder in Form der Cassette für den heimischen Gebrauch, kam und ging. Inzwischen wird der CD auch kein langes Leben mehr zugetraut. Ich sehe das anders. Mögen ihre Tage als Massenkonsumartikel auch bald der Vergangenheit angehören, so bin ich doch fest davon überzeugt, dass der physische Tonträger sich neben dem gedruckten Buch weiterhin behaupten wird. Der Sammelinstinkt ist dem Menschen nicht auszutreiben.
Als ich 1960 meinen ersten Schritt in die Welt der Musikproduktion machte, sangen sich die dänischen Brüder Jan & Kjeld mit Banjo Boy in die Herzen der Deutschen; auf Platz zwei der Jahreshitparade landete Rocco Granata mit Marina. Noch vor Elvis Presleys It’s Now or Never (Jahrescharts Platz 15) etablierte sich Ted Herold mit Moonlight (Platz 11). Deutschland war Schlagerland, seine Helden hießen Freddy Quinn, Lolita oder Peter Alexander.
1960 waren in Deutschland vier große internationale Schallplattenfirmen als Anhängsel von Geräteherstellern tätig, POLYDOR / DEUTSCHE GRAMMOPHON GESELLSCHAFT gehörte zum Siemens-Konzern, TELDEC zur englischen DECCA, ELECTROLA zur ebenfalls englischen EMI, und auch der holländische Elektrokonzern PHILIPS veröffentlichte inzwischen Schallplatten. Dazu gesellt hatte sich 1958 der Buchkonzern Bertelsmann mit dem Label ARIOLA – das einzige Label, das nicht zur Elektroindustrie gehörte.
Daneben gab es zwei große Importeure, sie bezogen Schallplatten, die auf dem deutschen Markt nicht durch die vier Konzerne vertrieben wurden. Der jazzbegeisterte Ur-Berliner Bernhard Mikulski war nach New York gereist, um sich bei den Blue-Note-Eigentümern Francis Wolff und Alfred Lion die Importrechte an dem führenden Jazz-Label zu sichern. Auch die Musik der Jazz-Labels VERVE, RIVERSIDE und PACIFIC vertrieb Mikulski in Deutschland. Mit seiner Frau Anita baute er in Frankfurt ein respektables Unternehmen auf, das später verkauft und Basis der deutschen CBS-Tochter wurde. Neben Mikulski gab es in Bremen den Schallplattenimport Plötz, der sich auf europäische Jazzmarken wie VOGUE (Frankreich) und METRONOME /SONET (Skandinavien) konzentrierte.
Plötz musste die traurige Erfahrung machen, wie man mit einem Hit Pleite gehen kann. Er war Importeur der Platten von Papa Bue’s Viking Jazzband aus Dänemark, die Emil Knutson auf dem Label SONET veröffentlichte. Nach einigen mäßig erfolgreichen EPs produzierte Knutson mit Arne »Papa« Bue Jensen eine Dixieland-Version von Mozarts Schlafe mein Prinzchen. Die auf rotes Vinyl gepresste Single wurde ein Hit in Deutschland: Platz 9 der Jahrescharts! Um die extrem große Nachfrage zu bewältigen, erwarb Plötz die Lizenzrechte und ließ die Singles selbst in Deutschland pressen. Aber als Importeur verfügte er nicht über die notwendigen Kreditlinien bei einem Presswerk und seiner Bank. Für die Herstellkosten musste er in Vorleistung treten, doch die Händler bezahlten die Ware erst Monate später. Das wurde Plötz zum Verhängnis. Sein Unternehmen wurde insolvent und METRONOME /SONET gründete eine eigene Gesellschaft in Hamburg, um die Gewinne mit Papa Bue selbst einzufahren.
Mein erster Arbeitgeber in der Schallplattenindustrie, die ELECTROLA, war 1925 in Berlin gegründet worden und fusionierte später mit der schwedischen Carl-Lindström-Gesellschaft, um danach von der englischen EMI übernommen zu werden. Der deutsche Stammsitz und das Presswerk in Berlin waren im Krieg total zerstört worden, daher entschloss sich die EMI 1952 zur Neugründung der ELECTROLA Schallplatten GmbH in Köln. Dort entstanden ein modernes Presswerk sowie Aufnahmestudios, Lager und Verwaltungsgebäude, alles zusammen in einem Komplex am Maarweg in Köln-Braunsfeld.
Als ich 1960 bei der ELECTROLA begann, wurde der Umsatz hauptsächlich mit Schlagern gemacht. Die Stars des Hauses waren Fred Bertelmann (1958 Platz 1 mit Der lachende Vagabund, Conny Froboess, Ralf Bendix (Ciao Ciao Bambina) und Paul Kuhn, bald auch Rex Gildo und Gitte. Marktführer war die DEUTSCHE GRAMMOPHON, die ihr Geld aber nicht so sehr mit dem gelben Klassik-Label verdiente, sondern mit den Schlagern auf POLYDOR und deren Stars wie Freddy Quinn, Caterina Valente und Conny Francis. Der Branchenumsatz betrug 280 Millionen DM und setzte sich zusammen aus dem Verkauf von 33 Millionen Singles, 10 Millionen EPs, 3,2 Millionen 25 cm-LPs und 3,4 Millionen 30 cm-LPs. Der Anteil nationaler Produktionen lag bei über 70 Prozent.
Weiterhin war wie in den ersten Nachkriegsjahren das Radio das zentrale Medium für Information und Unterhaltung. Nur langsam entwickelte sich der Markt für Plattenspieler, zunächst wurden hauptsächlich preiswerte Geräte verkauft, die an das Radio angeschlossen wurden und zum Abspielen der 17 cm-Singles mit den aktuellen Schlagern genügten. Ende der 50er-Jahre wurde die Musikkommode mit Radio, Plattenwechsler und eingebauter Bar sichtbarer Ausdruck des neuen Wohlstands – ob bürgerlich-gediegen als Musiktruhe »Dominante« oder state of the art in der Phonokombination SK 4 von Braun, dem legendären »Schneewittchensarg«. Mit besseren Geräten stieg das Interesse an den Möglichkeiten der LP. Sie war wie geschaffen für Klassik-Hörer, doch die Welt der Unterhaltungsmusik ergriff ihre Chancen nur zögerlich: Bevor Anfang der 60er-Jahre die Alben der Beatles weltweit Furore machten, »dachte« der Markt noch ganz in Single-Dimensionen.
Die EMI war internationaler Marktführer mit einem weltweiten Netz von nationalen Gesellschaften, die alle eigenes Repertoire produzieren konnten: ein unglaublich großer Fundus an Musik, der von Werner Raschek, Programmdirektor International der ELECTROLA, auf seine Verkäuflichkeit für den deutschen Markt beurteilt werden musste. Für deutsche Musikfreunde, die sich mit dieser sehr beschränkten Auswahl nicht zufriedengeben wollten, gab es den Auslands-Sonderdienst (ASD). Er importierte EMI-Platten auf Festbestellung.
Der EMI brachte dieses kundenfreundliche Geschäftsmodell nur Verluste ein. Daher war der ASD den Electrola-Bossen ein Dorn im Auge und sollte geschlossen werden. August Batzem, sein Leiter, kämpfte um seine Zukunft und bat zur Rettung seiner Abteilung um Einstellung nur eines einzigen Vertreters, um beweisen zu können, dass auch mit seiner Abteilung Geld zu verdienen war. Dieser Testverkäufer wurde ich. Bislang mussten Kunden wochen- und monatelang auf ihre Bestellungen warten und nahmen sie dann oft nicht mehr ab, weil sie inzwischen das Interesse verloren hatten. Die neue Vorwärtsstrategie war, Platten selbst auszusuchen und zu importieren, von denen ich überzeugt war, dass ich sie auch verkaufen konnte. Es stellte sich bald heraus, dass in Deutschland ein Bedarf existierte, und dann trat Herr Raschek wieder auf den Plan und machte daraus eine reguläre Veröffentlichung.
Damals hörte ich unentwegt Musik, geradezu unglaubliche Mengen von Schallplatten. Der authentische Blues des Labels DELMARK und die Rhythm & Blues-Platten von Chuck Berry und Muddy Waters auf dem Label CHESS waren eine wertvolle und logische Erweiterung meiner Jazz-Begeisterung. Auch die berühmten Capitol-Sessions von Miles Davis und Aufnahmen von Stan Kenton und Frank Sinatra gehörten dazu. Aber die allermeiste Musik, die ich hören musste, entsprach nicht meinen bisherigen Vorlieben. Die Bandbreite reichte von Klassik und Filmmusik über Folk, Chanson, Blues und Gospel bis zur gerade aufkommenden Rockmusik. Mein musikalischer Horizont wurde explosionsartig erweitert. In jeder Minute meiner Freizeit hörte ich Musik und fasste das zu keinem Zeitpunkt als Arbeit auf. Auf diese Weise entdeckte ich die Welt des Flamenco, den frühen Bossa Nova aus Brasilien, argentinischen Tango, indische Raga-Musik von Ravi Shankar, und auch elisabethanische Musik aus England weckte mein Interesse.
Daneben ging ich ständig in Konzerte. Willkommener Nebeneffekt meines Jobs war, dass ich sie jetzt offiziell und auf Firmenkosten besuchen konnte. Das größte Festival seiner Art waren die Essener Jazztage. Ich machte die Bekanntschaft von Ulrich Zimmermann, einem gelernten Fotografen, der bei ELECTROLA die Hüllen gestaltete. Mit ihm teilte ich meine Begeisterung für Jazz und Fotografie. Unsere lebenslange Freundschaft nahm ihren Anfang in langen Nächten im Kölner »Kintop Saloon« (in dem die ersten Avantgardisten um Manfred Schoof zu hören waren) und gemeinsamen Festivalbesuchen. Im April 1960, ich war gerade drei Monate im Dienst, erlebten wir in Essen an einem Abend mit 8.000 begeisterten Zuschauern mehrere grandiose Auftritte. Den Auftakt machte das Michael Naura Quintett, gefolgt von einer Allstar-Besetzung mit Coleman Hawkins, Bud Powell, Oscar Pettiford und Kenny Clarke, dem schloss sich der erste Europaauftritt des Dave Brubeck Quartet an, und zum Schluss kam die Quincy Jones Big Band.
Wie eine ganze Reihe amerikanischer Jazzmusiker lebte der Bassist Oscar Pettiford damals in Kopenhagen, wo er wenige Monate nach seinem Essener Auftritt vom Fahrrad stürzte und starb. Das Konzert war zum Glück aufgenommen worden, bei PHILIPS konnte ich es später veröffentlichen. Für Pettiford sollten dies die letzten Aufnahmen seines Lebens sein. Die Essener Jazztage zogen später um und wurden zum Jazz Fest Berlin. Es ist bis heute eines der wichtigsten deutschen Jazzfestivals, auch wenn sein größter Saal nicht mehr die Philharmonie mit 2.400 Plätzen ist, sondern das Haus der Berliner Festspiele mit 800 Plätzen. Die Zeiten haben sich geändert.
Ich wurde im wahrsten Sinn des Wortes ganz Ohr und habe in dieser Zeit leider kaum einmal ein Buch in die Hand genommen. Eine Woche im Monat gehörte dem Dienst in der Zentrale in Köln und der Auswahl der zu importierenden Platten. Diese verstaute ich dann in Kisten bis unter die Decke meines VW-Käfers, dessen Beifahrer- und Rücksitz ausgebaut waren. Den Rest des Monats war ich in ganz Norddeutschland unterwegs, um diese Musik in den größeren Schallplattenläden anzubieten und gleich auszuliefern. Die Schallplatten hatten ihr Gewicht, es war ein Knochenjob. Aber er war erfolgreich und machte viel Spaß. Denn außerdem besuchte ich abends noch Jazzclubs, um meine Schätze vorzuspielen. Am nächsten Tag konnte ich die lokalen Händler gleich mit den so beworbenen Platten beliefern. Das hat sehr zu meiner Beliebtheit beigetragen, denn welcher Vertreter der Konkurrenz sorgte schon selbst für die Promotion?
Mit meinem Dienstwagen fuhr ich an den Wochenenden regelmäßig nach Hamburg, um auf der Reeperbahn im »Trichter« englische Bands wie Ken Colyer und Humphrey Lyttelton zu hören oder im »Barett« moderne Gruppen wie das Michael Naura Quintett mit Wolfgang Schlüter am Vibraphon. Meine Firma bezahlte mir ein Abo des amerikanischen Jazzmagazins »DownBeat«, so war ich über die wichtigsten Entwicklungen in Jazz und Blues ebenso im Bild wie über alles, was auf dem US-Markt geschah. Diesem Umstand verdankte ich meinen nächsten Job.
1958 war Porgy and Bess von Miles Davis und Gil Evans bei COLUMBIA in den USA erschienen. Mit anderer Hülle wurde das Album vom internationalen Lizenznehmer PHILIPS auch in Europa veröffentlicht und entwickelte sich zum ersten größeren Erfolg einer Jazz-Langspielplatte in Deutschland. Ende 1961 betrat ich das Musikhaus Mewes in Braunschweig, um die Einkäuferin zu besuchen, da sah ich, dass sie bereits Vertreterbesuch hatte. Ich war schon fast wieder zur Tür hinaus, als sie mich zu sich rief: Ein Kunde wollte die neue LP von Miles Davis bestellen, die in den USA angeblich schon erschienen war. Der für Miles Davis zuständige Philips-Vertreter behauptete nun, das könne nicht sein, über eine so wichtige Neuerscheinung hätte ihn seine Zentrale informiert. Nun hatte ich dank »DownBeat« einen Wissensvorsprung und erklärte dem Kollegen, dass es in der Tat ein neues Album von Miles Davis mit Gil Evans gebe, es heiße Sketches of Spain. Der Philips-Mann war keineswegs amüsiert. Der Vorfall fand offenbar Niederschlag in seinem Wochenbericht an die Zentrale in Hamburg, denn noch im Dezember erhielt ich von dort eine Einladung zu einem Gespräch.
Der Programmdirektor der Musikabteilung, eine der vielen Divisionen der deutschen PHILIPS, erklärte mir zunächst, warum der arme Kollege nichts von der neuen Miles-Davis-Platte wissen konnte. Die amerikanische COLUMBIA (CBS) war das größte Schallplattenunternehmen der USA, aber die Marke COLUMBIA war außerhalb der USA für die EMI geschützt. Über ein Jahrzehnt lang war PHILIPS der internationale Lizenznehmer und veröffentlichte das Pop- und Klassik-Repertoire der amerikanischen COLUMBIA mit großem Erfolg auf eigenen Marken. Die Stars waren in der Klassik Leonard Bernstein und im Popbereich Doris Day und das Ray Conniff Orchestra. Inzwischen hatten aber die Amerikaner beschlossen, den Vertrag mit PHILIPS nicht zu verlängern, sondern eine eigene internationale Organisation aufzubauen und ihr Repertoire unter der Marke CBS selbst zu vertreiben.
Die Herren in der Philips-Zentrale in Eindhoven bzw. Baarn mussten sich etwas einfallen lassen, um diesen enormen Repertoireverlust zu kompensieren. Es ergab sich, dass eine Gruppe junger, jazzbegeisterter Manager die Philips-Oberindianer davon überzeugt hatte, dass der Jazzmusik die Zukunft im internationalen Schallplattengeschäft gehöre. Welch kapitale Fehleinschätzung! Jedenfalls beschloss man den Kauf von MERCURY RECORDS in Chicago, damals mit Produktionschef Quincy Jones in der Geschäftsleitung, und machte außerdem Lizenzverträge mit der Interdisc-Gruppe, die einige der wichtigsten amerikanischen Jazzlabels wie RIVERSIDE, JAZZLAND, CONTEMPORARY JAZZ und WORLD PACIFIC JAZZ vertrat. So fühlte man sich gut gerüstet für den kommenden Jazzboom, und es erging der Erlass, dass die großen nationalen Gesellschaften einen fachkundigen Labelmanager für das Jazz-Repertoire einstellen sollten. Weil ich Informationen über Miles Davis hatte, über die scheinbar sonst niemand verfügte, kam man auf mich.
Ich kannte mich im künftigen Label-Repertoire aus und konnte den Programmdirektor überzeugen, der mich wiederum Hans Schrade vorstellte, dem Chef der Philips-Musikabteilung. Im Gespräch mit ihm wagte ich die Frage, ob ich in dem neuen Job die Chance hätte, selbst Jazzaufnahmen zu machen. Das wurde nicht sofort abgelehnt, man brauchte mich offensichtlich. Am Ende fragte Schrade nach meinem Alter und erfuhr, dass ich erst 21 war. »Einige lernen es eben früh und andere nie«, war sein Kommentar. Man bot mir monatlich 880 DM brutto, ich akzeptierte und sollte nach Ablauf meiner Kündigungsfrist bei ELECTROLA zum 1. Juli 1962 in Hamburg mein eigenes Büro beziehen. Ich war nun »Label Manager in spe für das Repertoire aller mit PHILIPS verbundenen Fremdmarken«.
Das Problem: Bei der ELECTROLA hatte ich bereits einen neuen Job als Verkaufsleiter des ASD mitsamt Versetzung von Hannover nach Köln angenommen. Dort rechnete ich mit Verständnis für meine Entscheidung, da ich überzeugt war, die neue Herausforderung bei PHILIPS werde mich meinem Ziel eines eigenen Jazzlabels einen großen Schritt näher bringen. Statt Verständnis gab es meine sofortige Entlassung und Hausverbot. Nicht schön, aber auch nicht weiter schlimm: Dafür konnte ich mit der neuen Arbeit in Hamburg bereits am 1. Februar 1962 beginnen.
Erroll Garner