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In dem Behördengebäude in Hannover-Linden, das wir bewohnten, gab es viele ungenutzte Kellerräume, einer wurde mein Musikraum. Dort konnte ich die »Negermusik«, die meine Eltern quälte, ungestört und in voller Lautstärke genießen und fand bald Freunde, die sich zum »New Orleans Club Hannover« zusammentaten. 1958 gründete ich die Red Onions, benannt nach einem Titel meines Helden Sidney Bechet, mit Banjo, Trompete, Klarinette, Posaune und mir am Schlagzeug. Erste Auftritte hatten wir im Musikpavillon am Maschsee. Dort spielte in den Sommermonaten sonntags ab elf Uhr eine Platzkapelle, wir bauten uns einfach eine Stunde früher auf und legten los. Später fuhren wir an den Wochenenden über Land und hielten auf den Dörfern nach Hochzeiten Ausschau, die wir spontan beschallten. Zu einem richtigen Konzert brachten es die Red Onions nur ein einziges Mal, als Vorgruppe der Old Heidetown Ramblers aus Celle, einer wahren Power-Truppe.

Zu dieser Zeit entdeckte ich auch die Fotografie für mich. Mit meiner Kamera nahm ich bei Konzerten Bilder auf. Das früheste gelungene Ergebnis ist ein Foto von Louis Armstrong in der Niedersachsenhalle.

Die Entwicklung des Jazz war inzwischen beim Cool Jazz von Gerry Mulligan, Chet Baker und des Miles Davis Capitol Orchestra angelangt, aber das nahm ich nicht wirklich zur Kenntnis. Die coolen Jazzfans in schwarzem Rollkragenpulli und mit Pfeife im Mund gaben sich existenzialistisch. Sie verkehrten in Hannover im »Tabu« und der »Kajüte« und fuhren zum Jazzfestival nach Frankfurt.

Das war nicht meine Welt. Mein Mekka war das Deutsche Amateur-Jazz-Festival in Düsseldorf, zu dem ich im Oktober 1958 erstmals fuhr – mit dem Moped meines Vaters. Im Jahr darauf hatte ich dort ein weiteres Schlüsselerlebnis meines Lebens. Die populärste traditionelle Jazzband waren damals die Feetwarmers aus Düsseldorf, die bereits Schallplatten aufgenommen hatten. Posaunist war Manfred Lahnstein, der später deutscher Finanzminister wurde, Star der Band war der Klarinettist und Sopransaxophonist Klaus Doldinger. Der spielte auf dem Festival nicht nur Dixieland, sondern mit Oskar’s Trio, begleitet von Bass und Schlagzeug, auch modernen Jazz auf dem Tenorsaxophon. Erstmals hörte ich mit offenen Ohren Modern Jazz. Ich bekam einen Begriff von seiner Logik und Bedeutung und verstand, warum ich beim Dixieland nicht stehenbleiben konnte. Und die Tage meiner Schlagzeuger-Karriere waren gezählt.


Louis Armstrong, 1955

In Hannover machten alle großen Jazztourneen Station, also besuchte ich nun Konzerte von Benny Goodman, Count Basie, Duke Ellington, Dizzy Gillespie, Coleman Hawkins, Roy Eldridge, Gerry Mulligan, Gene Krupa, Jimmy Giuffre, Cannonball Adderley oder Ella Fitzgerald. Man kann sich heute nicht mehr recht vorstellen, dass diese Jazzmusiker nicht in Clubs, sondern vor über 2.000 Besuchern in Deutschlands größten Hallen gastierten, im Berliner Sportpalast, in Hamburg in der Ernst-Merck-Halle, in der Grugahalle Essen, der Frankfurter Kongresshalle, der Kölner Messehalle und in Hannover in der Niedersachsenhalle. Zunächst waren es die Größen des traditionellen Jazz wie Louis Armstrong, Sidney Bechet, Mezz Mezzrow oder Kid Ory. Ab Ende der 50er-Jahre brachte Norman Granz mit seiner Konzertreihe »Jazz at the Philharmonic« regelmäßig einige der besten Jazzmusiker der Gegenwart nach Deutschland. Vor Ort war Horst Lippmann für sie zuständig. Der Musikagent schickte einen gewissen Fritz Rau als Tourmanager für das Oscar Peterson Trio. Rasch fand Norman Granz Gefallen an dem zuverlässigen jungen Rechtsreferendar und Amateur-Jazzbassisten und übertrug ihm 1961 die gesamte Tour-Organisation. Aus der Agentur Lippmann wurde bald Lippmann + Rau, die Konzertveranstalter-Legende mit Sitz in Frankfurt.

Zu den unvergesslichen Konzerten dieser Zeit gehörte die erste Tour des Miles Davis Quintetts mit John Coltrane. Der »Master of the Jazz Universe« persönlich stand in Hannover im eleganten Maßanzug und mit grüner Trompete auf der Bühne! Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Miles Davis bereits mit Coltrane überworfen, musste aber noch den Tourneevertrag erfüllen, was zu der kuriosen Situation führte, dass die beiden zu keinem Zeitpunkt des Konzerts gemeinsam auf der Bühne standen. Vor der großartigen Rhythmusgruppe mit Wynton Kelly am Piano, Paul Chambers am Bass und Jimmy Cobb am Schlagzeug spielten entweder Miles oder Trane. Es war dennoch ein denkwürdiges Konzert. Nach der Tour gründete John Coltrane sein berühmtes Quartet mit McCoy Tyner, Piano, Jimmy Garrison, Bass, und Elvin Jones am Schlagzeug. Auch die habe ich erlebt, 1961, als Vorgruppe zum Dizzy Gillespie Quintet. Damals gehörte es zu den Gepflogenheiten, dass die Stars später noch in den lokalen Jazzclubs mit einstiegen. Man musste nur wissen, wo, und möglichst schnell nach dem Konzert dort eintreffen. In Hannover war das aber kein Jazzclub, sondern die »Rote Mühle« am Steintor. Ihr Betreiber war ein Jazzfan, der dafür sorgte, dass die Stripperinnen Pause hatten und dafür die Star-Jazzer »after hours« jammen konnten. Ich hatte meine Kamera stets dabei.

Großes Aufsehen machte 1960 das Modern Jazz Quartet mit seiner ersten Europatour. Mit dem Kammermusikjazz der Alben Django und Fontessa hatte es weltweit Furore gemacht. Für diese Tour sollten es nicht die großen Hallen sein, sondern die klassischen Musiksäle. In Hannover war das der Mozartsaal in der Kuppelhalle. Als die vier elegant gekleideten Musiker John Lewis, Milt Jackson, Percy Heath und Conny Kay die Bühne betraten, herrschte ehrfurchtsvolle Stille. Das Modern Jazz Quartet spielte nicht, nein, es zelebrierte seine Kunst, und zwar ohne Verstärker und Lautsprecher – heute würde man sagen unplugged.

Einige Wochen später, ich war mit dem Fahrrad auf dem Heimweg, stand neben mir an einer Kreuzung ein VW-Bus und darin saß das komplette Quartett mit John Lewis am Steuer. Ich nahm die Verfolgung auf. Der Bus hielt am Kino Capitol, dort lief Odds Against Tomorrow mit Harry Belafonte. Die Band besuchte die Vorstellung, ich ging hinterher und ergatterte einen Platz direkt hinter ihr, wo ich dann sah, dass John Lewis die Musik zu diesem Film geschrieben hatte. Natürlich war ich viel zu scheu, um mich als Fan erkennen zu geben. Erst viele Jahre später, als ich John Lewis bei ATLANTIC kennen gelernt hatte, klärte sich das Geheimnis des Kinobesuchs auf: Das Modern Jazz Quartet war nur neugierig, den Film in der deutschen Synchronisation zu sehen.


Ende der 50er-Jahre gab es noch keine Schallplattenläden, wie wir sie kennen (und in naher Zukunft wohl nicht mehr haben werden). Platten wurden in Elektro- und Rundfunkgeschäften verkauft, aus einem einfachen Grund: Alle Produzenten von Schallplatten waren auch Gerätehersteller. Das Geschäft machte man im Wesentlichen mit Schlagern, veröffentlicht auf 17 cm-Singles. Nach der Entwicklung der EP (Extended Play) und der LP (Langspielplatte) kam auch für den ernsthaften Musikfreund ein zunehmend interessantes Angebot auf den Markt. Schallplatten zu hören und zu sammeln wurde ein Lebensgefühl.

In Hannover eröffnete am Hauptbahnhof »Die Schallplatte«, das erste Spezialgeschäft dieser Art in Deutschland. Ich wurde Dauergast, jeden Samstag verschanzte ich mich mit einem Berg neuer LPs in einer Abhörkabine, um am Ende des Tages vielleicht eine oder zwei Platten zu kaufen. Die BILD kostete 10 Pfennige, eine Kinokarte 1,50 DM, eine LP 22 DM. Otto Traupe, der Geschäftsführer, war von Beruf Kontrabassist. Ihm erzählte ich von meinem Kummer: Ein Profimusiker würde aus mir nicht werden, aber ich wollte mein Leben mit dieser Musik verknüpfen, am liebsten ein Jazzlabel wie BLUE NOTE führen. Deren Gründer Frank Wolff und Alfred Lion waren schließlich auch keine Musiker und hatten trotzdem das beste Jazzlabel der Welt. Nur: Wie bekam man Einlass in diese Welt?

Traupe schlug vor, ich solle bei der ELECTROLA in Hannover vorstellig werden, und er besorgte mir einen Termin bei Geschäftsstellenleiter Gerhard Gebhardt. Zufällig suchte ELECTROLA gerade einen Vertreter ohne festes Gebiet, der für den Auslands-Sonderdienst (ASD) in Deutschland noch unveröffentlichte Platten an die größeren Schallplattenläden verkaufte, eine Art Testpilot also (Importdienste nach dem Vorbild des ASD wurden danach von allen Major Companies gegründet, sie fielen aber Anfang der 90er-Jahre alle wieder dem Rotstift der Gewinnmaximierer in den Konzernen zum Opfer, inklusive dem ASD). Der 2. Januar 1960 war mein erster Arbeitstag in der Musikindustrie, mit einem Anfangsgehalt von 350,00 DM monatlich und einem VW Standard als Dienstwagen.

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