Читать книгу Ein anderer Ort - Signe Langtved Pallisgaard - Страница 10

Sechs

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Zwischen damals und heute liegen Kontinente. Es ist früh am Morgen. Ein schallend leerer Sonntag. Ich liege auf der einen Seite des Bettes und lausche der Stille. Sie ist so massiv, dass ich sie mit meinen Nägeln in Stücke reißen könnte, wenn ich wollte. Die Stille ist Mattis, die Stille ist Mattis‘ Abwesenheit. Ich kann die Hand ausstrecken und die Leere berühren, wo er einmal war. Ich kann seinen Umriss sehen. Auf gewisse Weise ist die Trauer darüber, dass er weg ist, greifbarer, als die Freude darüber, dass er da war. Ich hasse es, alleine zu wohnen. Ich hasse die leeren Räume. Ich habe mich an sie gewöhnt, aber dadurch werden sie nicht weniger leer.

Wenn ich morgens aufwache, ist das erste, woran ich denke, all das, was fehlt. Deshalb erinnere ich mich selbst daran, was immer noch da ist: Die Morgensonne, die an der Wand flimmert. Der Duft frisch gebrühten Kaffees. Die Wärme unter der Decke. Aber es fällt schwer, einen Weg durch meine Tage zu finden. Das ist wie ein undichtes Boot durch ein Fahrwasser voller Riffe zu führen, also sollte ich meine Route kennen. Ich sollte wissen, was geschieht, und in welcher Reihenfolge. Wenn man sich verfahren hat, muss man eine Karte haben. Meine Karte besteht aus Wiederholungen und festen Plätzen.

Ich stehe auf, stecke die Füße in die Hausschuhe, die ich am Abend zuvor an der Bettkante gestellt habe und gehe in die Küche. Hier setzte ich Kaffeewasser auf, schalte P1 ein, und richte das Frühstück an. Es wäre viel einfacher, Joghurt und Müsli in eine Schüssel auf dem Küchentisch zu schütten, aber ich decke trotzdem auf. Es ist wichtig, sich selbst so zu behandeln, als wäre man ein anderer.

Nachdem ich gefrühstückt habe, lese ich die Zeitung, und nachdem ich die Zeitung gelesen habe, nehme ich ein Bad. Jeden Tag tue ich dasselbe. Die Routinen stehen wie ein Gerüst um das leere Haus herum, das ich bin. Die Wiederholungen füllen die leeren Räume langsam mit Möbeln. Die Routinen stehen wie Sachen im Raum und sagen: Du kannst das schaffen. Ein Schritt nach dem anderen.

An jenem Abend, an dem das Ganze in sich zusammenzubrechen begann, saß ich da und starrte durch ein dunkles Zugfenster. Der Zug stand immer noch am Hauptbahnhof, aber bald würde er sich in Gang setzen und mich zurück durch die vergangenen Jahre karren. Das machte mich glücklich, aber auf eine traurige Weise. Schon seit den Morgenstunden deprimierte mich jene Sorte Bewusstsein, die mir immer wie ein Schatten folgte, wenn ich von zu Hause wegfahren sollte. Je mehr Mattis sich anstrengte, um mir keine Schuldgefühle zu bereiten, desto mehr hatte ich. Und je mehr Schuldgefühle ich hatte, desto wütender wurde ich auf ihn, und je wütender ich wurde, desto mehr Lust hatte ich, von ihm wegzufahren.

Wir verbrachten einen schönen Abend, bevor ich abfuhr. Ein Abend, der besser als die meisten war. Obwohl wie sehr verschieden sind, Mattis und ich, sind wir uns immer über das meiste einig gewesen. Seit er zum ersten Mal meinen Nacken nach vorne gebeugt und ihn zärtlich geküsst hatte, habe ich ihn geliebt. Seitdem ich unter seinem Bogen aus Licht ging, seitdem ich mich unter die kühlende Birke gelegt hatte, die schweren Regentropfen, die warmen Nächte und all das andere, was er ist, habe ich gewusst, dass wir zusammengehören.

Bevor alles begann, schwer und verkehrt zu werden, war es einfach und richtig. Die Gefühle strömten wie ein Frühlingsbach. Ein Fluss aus Worten und Bedeutungen rauschte vom einen zum anderen. Aber er verlor langsam seine Kraft und begann auszutrocknen. Die Blicke wurden kürzer. Das Schweigen länger. Obwohl die Worte zwischen uns sich von ihren ursprünglichen Bedeutungen losgerissen hatten und wie zerfallene Steine in einer längst verlassenen Ruine zurückblieben, bleibt die Liebe bestehen, sagte ich zu mir selbst, als wir in der Küche saßen und jeder in seine Richtung starrte.

Als ich im Schlafzimmer stand und meine Reisetasche packte, konnte ich Mattis und Selma draußen in der Küche lachen hören. Ich eilte dahin. Mattis hatte sie auf den Küchentisch gehievt und hielt ein tiefgefrorenes Hähnchen in den Händen. Als er mich in der Tür stehen sah, legte er das Tier in eine feuerfeste Form und lächelte. Selma saß oben auf dem Küchentisch und schwang ihre in Strumpfhosen verpackten Beine vor und zurück wie Pendel. Die Teelichter auf dem Fensterbrett flackerten leicht im Zug des Fensters, das auf Kipp stand. Mattis lüftete immer. Er kam und küsste mich auf die Wange. Es waren alles kleine und gleichgültige Dinge, die groß und bedeutungsvoll werden würden, weil sie sich am letzten Abend abspielten, an dem alles heil war. Ich beugte mich zu Selma, um sie zu umarmen, aber die kleine pummelige Hand schubste mich weg. Sie hüpfte vom Küchentisch runter, sah mich beharrlich an und sagte:

„Lass uns spielen, Mama. Du bist ein Kind, und kennst mich überhaupt nicht.“

Der müde und fragende Ausdruck, der sich auf meinem Gesicht zeigte, brachte sie sofort dazu, das Gesicht zu verziehen, aber schon bevor es ihr gelang loszuschreien, gab ich nach.

„Ich bin ein Kind, und ich kenne dich überhaupt nicht?“

Sie drückte mir eine Puppe in die Hand und begann in einem Kreis um mich herumzulaufen, der mit jeder Runde kleiner und kleiner wurde, während ihr Erzählfluss mehr und mehr an Stärke gewann. Die Worttiraden im Kinderfalsett begannen unsichtbare Fäden in der Luft zu spinnen, die sich um meinen Hals wickelten. Ich versuchte nach ihr zu greifen.

Mattis kämpfte mit der Auflaufform am anderen Ende der Küche und lachte herzlich beim Anblick meiner fechtenden Arme auf dem Boden. Ich kann nicht spielen. Er schenkte Rotwein in ein Glas ein und reichte es mir herunter. Dann setzte er sich neben mich auf den Boden. Das Inferno um ihn herum konnte ihm gar nichts anhaben, denn er hat die ganz besondere Fähigkeit, sich in allen Situationen, die das Leben einem abverlangt, ruhig zu verhalten. Wie meine Mutter zu sagen pflegte: Mattis ist nicht nur ruhig, er ist die Ruhe selbst.

„Sie ist so schön“, murmelte er und guckte dem Mädchen begeistert nach. Sie war in ihr Zimmer geeilt, so dass es plötzlich ganz still in der Küche war. Ich lächelte und nickte.

Ich habe die Sprache des Spielens vergessen. Ich kann mich an kein einziges Wort erinnern. Und wenn ich mich nichtsdestotrotz an ein paar gebrochenen Glossen versuche, klingt es so verkehrt, dass Selma mich im besten Fall verwundert anschaut. Zwischen mir und dem Spielen hat sich eine Kluft geöffnet, die zu breit ist, als dass ich drüber springen könnte. Mir wird schwindelig, wenn ich mich ihr nur nähere. „Maaama, komm jetzt, komm jetzt und sieh her!“, rief sie von der anderen Seite der Kluft, aber ihre Stimme erreichte mich nur als fernes Echo. Ich legte den Kopf zwischen die Beine. Presste die Knie gegen die Schläfen. Ich hatte nicht die Kraft zu kommen, ich hatte nicht die Kraft zu sehen, ich hatte nicht die Kraft zu spielen. Mattis tätschelte leicht meine Schulter, stand vom Boden auf und murmelte: „Ich kümmere mich schon um sie.“

Endlich machte der Zug einen Ruck nach vorne. Just als das blassgelbe Licht des Bahnsteigs sich über mein Gesicht legte, erblickte ich mein Spiegelbild in der Scheibe. Während ich dasaß und mich selbst anstarrte, konnte ich plötzlich weit entfernt eine Stimme hören, die skandierte: „Du siehst eigentlich ganz okay aus, Anna, wenn deine Augen etwas größer und deine Wangen nicht so kugelrund wären.“ Ich wiederholte die Worte lautlos in der Scheibe, und etwas Dunkles begann sich in meinem tiefsten Inneren zu regen. Das Schlimmste daran Kinder zu haben, ist die Angst davor, dass sie dieselben Bürden mit sich rumtragen werden wie man selbst. Selma ist jetzt so klein, aber es dauert nicht mehr viele Jahre, bevor sie auf das offene Meer hinaus segelt und nicht länger in meiner Lee liegt. Es dauert nicht lange, bis sie selbst ihr Schicksal tragen wird.

Vielleicht war es der Gedanke an all das Unumgängliche, dass ich plötzlich auf den vernebelten Vormittag zu Beginn einer viertelstündigen Essenspause zu denken kam, als diese Worte gesagt wurden. Ich ging in die siebte Klasse. Monate, Jahre können verschwinden, und doch kann ein Satz wie dieser messerscharf zurückbleiben.

Das Mädchen hatte schönes, weißes Haar, das immer ordentlich mit Spangen hochgesteckt war, und dann hatte sie einen derart durchdringenden Sopranschrei, dass er sich einem einmeißelte, ohne dass man Widerstand leisten konnte, und der nicht wieder herausfinden konnte, wenn er erst einmal eingedrungen war. Wie eine aggressive Wespe in einem Marmeladenglas warf er sich einem gegen die Schädelwände. Aber sie war talentiert, das Mädchen. Sie konnte an einer Gruppe Jungs vorbei stolzieren, ganz langsam, ohne sich etwas anmerken zu lassen, und dann plötzlich stehenbleiben, sich ein wenig in der Sonne strecken und mit ihrem Wasserfall aus hellem Haar los peitschen. Selbst als wir Kinder waren, wussten wir beide, dass kein Junge mich jemals auf dieselbe Art ansehen würde wie sie, und das war im Grunde genommen gleichermaßen hart für uns beide.

Bevor die Worte ihren Lippen entschlüpften, hatte sie, ohne irgendeine Form von Ankündigung, Interesse für mich, deren Existenz sie sonst nur bruchstückhaft wahrgenommen hatte, gefasst. Ich stand vor dem Spiegel auf der Mädchentoilette und wusch mir die Hände als sie mit ihren Jüngerinnen im Schlepptau durch die Tür trat. Es war deutlich, dass sie mir etwas antun wollten, denn sie gingen zielsicher hin und stellten sich im Kreis um mich herum, während sie mein Spiegelbild anstarrten. Nach einer Weile trat das Mädchen vor, so dass sie genau vor mir stand. Sie hob einen ihrer kreideweißen Finger, legte vorsichtig eine Haarlocke hinter meinem Ohr zurecht, und sagte: „Du siehst eigentlich ganz okay aus, Anna, wenn deine Augen etwas größer und deine Wangen nicht so kugelrund wären.“ Dann kicherten sie. Laut und zischend. Der Klang breitete sich abwechselnd aus und zog sich wieder zusammen. Sie blieben eine Ewigkeit stehen und kicherten und kicherten, bevor sie plötzlich wieder gingen.

Als die Tür hinter ihnen zugeknallt war, fiel ich auf die Knie. Ich hielt mich mit beiden Händen an der Kante des Porzellanwaschbeckens fest und schnappte nach Luft. Dann begann ich vorsichtig, die Scherben meiner selbst vom Boden aufzusammeln, sie im Arm zu halten, und lief zum Fahrradschuppen. Hier warf ich sie von mir, in eine Ecke hinter einen Haufen Fahrräder, bis die Pausenglocke wieder klingelte und alle Kinder verschwanden, so dass ich mein Fahrrad finden und nach Hause fahren konnte.

Tränen liefen mir übers Gesicht als ich durch die Eingangstür, die Treppe hinauf, den Gang hinunter, in das Zimmer der Greisin und hin zur Ecke mit dem Sessel stürmte, in dem sie immer mit dem Rücken zum Zimmer saß und über das Wasser schaute. Ich ließ mich in ihre Arme fallen und schluchzte, dass der Stuhl sich bewegte. Sie wiegte mich in ihrer Sicherheit. Ihre Arme waren kraftlos, aber gleichzeitig stark. Sie wiegte mich und flüsterte: „Manchmal muss es wehtun, bevor es gut tun kann, mein kleiner Schatz, aber andere Male muss es nur wehtun, bis es wieder aufhört, und solch ein Tag, glaube ich, ist heute.“

Ich zog die braunen Gardinen vor die Scheibe und lehnte mich im Sitz zurück. Es standen immer noch Menschen im Gang, aber niemand kam in mein Abteil. Am selben Vormittag war ich alleine in der Wohnung gewesen. Nachts war eine dünne Schicht Schnee gefallen. Sie bedeckte die aschgrauen Halden, die an den Hausgiebeln und Bordsteinen lehnten. Am Vormittag aber begann der Regen zu fallen und sog langsam das Leben aus dem letzten Rest Schnee.

In einer Pause zwischen zwei Regenduschen, als die Wolken sich zur Seite zogen und einen Streifen blauen Himmel freilegten, nahm Mattis Selma mit auf einen Fahrradausflug. Ich konnte sie vom Fenster oben aus sehen. Sie saß in ihrem weißen Traktorsitz. Obwohl sie mich nicht sehen konnte, wie ich oben stand und winkte, war ich mir sicher, dass es etwas bedeutete. Ihre kleinen roten Finger umklammerten den Lenker, und ihr Gesicht strahlte vor Wichtigkeit. Das ist so ein Moment, an den sie sich vielleicht als Erwachsene erinnern wird, dachte ich und ging weg vom Fenster.

Ich hatte selbst beschlossen zu Hause zu bleiben. Ich hatte Mattis gesagt, dass ich an einer Aufgabe arbeiten wolle, aber die Wahrheit war, dass ich mich nach Anders‘ Anruf den ganzen Morgen umher gewälzt hatte und müde wie eine alte Eiche war. Nachdem ich ein langes Bad genommen hatte, nahm ich Kurs aufs Bett. Bevor ich es aber erreichte, klopfte es in jener bestimmten, knöcheligen Art an der Tür, in der Familienmitglieder an die Tür klopfen. Eine Art, die einen nie zweifeln lässt, wer da klopft, aber immer, ob man Lust zu öffnen hat oder nicht.

Meine Eltern standen Schulter an Schulter in der Tür. Eine massive Front, bereit, sich hinein zu quetschen, als ob sie es hindurch schaffen müssten, bevor sich das große Maul der Tür wieder schloss. Sie hatten die Angewohnheit, samstags unangemeldet zu Besuch zu kommen, wenn sie eh einkaufen waren.

„Wo ist mein Enkelkind?“, fragte meine Mutter.

„Sie ist mit Mattis zum Wasser gefahren um Enten zu füttern. Ihr hättet ja anrufen können, bevor ihr kommt.“

„Nun ja, wir dachten ja, ihr wärt zu Hause.“

Ich habe immer die Vorwürfe, die ich in der Stimme meiner Mutter hörte, ignoriert. Das bedeutete, dass ich ihr selten antwortete. Und als da meine Mutter fast immer redete, schwieg ich fast immer. Sie warf einen Blick auf das ungemachte Bett im Schlafzimmer.

„Das klingt ja toll, wärst du nicht gerne mitgegangen?“

„Ich reise heute Abend nach Norwegen, ich muss also noch ein bisschen packen.“

Sie versuchte, den Blick meines Vaters zu fangen. Er war blasser als sonst. Nichts beeinträchtigte seinen Teint. Weder Frost noch Hitze. Aber obwohl er ungewöhnlich blass war, konnte er immer noch etwas blasser werden.

„Warum fährst du jetzt rauf?“, fragte sie im selben nachsichtigen Tonfall, den man anwendet, wenn man mit einem Kind spricht.

„Ich will nur Anders und Hilde bei ein paar Problemen helfen“, antwortete ich sanft, aber ihre ungesagten Worte übertönten meine, und anstatt zu antworten, verzog sie unzufrieden das Gesicht. Diese Unzufriedenheit ist nur das Vorstadium zu dem, was ich die Verschmähung nenne. Die Verschmähung ist ein bösartiger Dämon, der sich blitzschnell, vom Inneren meiner Mutter ausgehend, auf alles um sie herum ausbreitet. Ich hasse die Verschmähung, ziehe sie aber dem ewigen Schatten, der sonst über ihr hängt vor; ziehe sie den Tagen, in denen ihr Blick ein ausgetrockneter See ist, vor.

„Ist Mattis dann zu Hause, um auf Selma aufzupassen?“

„Ja, selbstverständlich ist er dann zu Hause.“

Auf der Stirn meines Vaters zeichnete sich eine tiefe Furche ab. Viele Jahre lang hatte er keinen anderen Kontakt zu seinem erwachsenen Sohn gehabt als den, der über mich lief. Nichts konnte missglückter sein als das Verhältnis, aus dessen Asche Anders erstanden war, und kein Kind könnte unwillkommener sein als er es gewesen ist. Aber Anders existiert, und Anders hat einen Vater, und mein Vater hat einen Sohn, der Anders ist, und so kann man gewisse Dinge nicht ändern.

„Das Schlimmste ist nicht, an den Fehler zu denken“, hat mein Vater einmal gesagt. „Es ist immer ein Verbrechen, sein Kind zurückzulassen, aber das Schlimmste war der Stich, den ich für den kleinen Kerl fühlte, als er auf der Entbindungsstation in meinen Armen lag.“ Er hatte keinen ähnlichen Stich gefühlt, als seine späteren Kinder geboren wurden, fügte er hinzu und schickte einen Blick in meine Richtung. Aber da er trotz des Stiches dem Kind den Rücken zugewandt und es verlassen hatte, betrachtete er Anders als handfesten Beweis für alles, zu dem man nicht imstande war. Anders war sein Unvermögen. Viele Jahre schien es so, als würde es ihm physische Schmerzen bereiten, seinen Sohn anzusehen, aber mit der Zeit war eine befreiende Gleichgültigkeit von Anders‘ Seite langsam über meinen Vater gekommen. Jetzt sind es nur ich und der schwache Klang der Worte Vater und Sohn, die die beiden zusammenhalten.

„Wieso investierst du so viel Energie in dieses Paar, Anna? Ich verstehe das nicht.“ Murmelte er und suchte den anerkennenden Blick seiner Frau.

Wenn ich meinem Vater etwas sage, klingt es einfach anders, als es gemeint ist. Wir werden ganz einfach in endlose Reigen umeinander hineingesogen. Eine Frage zu seinem Leben und Lebensstil wendet sich unmerklich in der Luft und wird zu einem Verhör dritten Grades, und die Bitte um seine Meinung bezüglich einer Angelegenheit verwandelt sich in ein hilfloses Flehen. Eine nett gemeinte Handbewegung schubst ihn weg, und wenn ich ihn von mir wegstoße, springt er zurück in mein Blickfeld wie ein überspanntes Gummiband. Je härter ich kämpfe, um die sich zuschnürenden Bänder zwischen uns zu lösen, desto strammer werden sie, und wenn ich versuche sie zu straffen, geben sie nach.

Unsere Blicke trafen sich. Er sah gequält aus. Ich glaube, er dachte dasselbe über mich, allerdings ohne den Gedanken zu Ende zu verfolgen. Für einige Menschen ist es einfacher, ihr ganzes Leben lang einen schweren Wagen vor sich herzuschieben, als stehenzubleiben und sein Gewicht zu verringern.

Mein Vater hat sein Leben dem Schutz des literarischen Erbes gegen die Verderbnis der Gegenwart und verrohende menschliche Ansichten geweiht. Er benutzt seinen eigenen kleinen Buchverlag als Hochburg für dieses Projekt. Es kann vorkommen, dass er sich bei festlichen Gesellschaften als einen einsamen Wächter der Literatur bezeichnet, aber wenn man ihn nachher so nennt, wird er wütend wie ein Kaktus. Es gibt vieles, was ich von meinem Vater nicht weiß. Ich weiß nicht, wie viele Freunde er hat, und ob er mit denen, die er hat, spricht. Ich weiß nicht, wovon er träumt, und ich weiß nicht, was er fürchtet. Der wesentliche Teil seiner Welt geht mich nichts an.

Als ich Kind war, empfing er mich in den Arbeitszeiten nur zu Besuch, wenn ich mit Zeichensprache kommunizierte, denn er duldete keine Störungen. Trotzdem liebte ich es, in seinem Büro zu sein. Es hat schiefe Wände und liegt in der Vesterbrogade. Ich bin oft nach der Schule mit dem Fahrrad dahingefahren um in dem grünen Plüschsessel in der Ecke zu sitzen, lauwarme Cola aus dem Bierkasten hinter der Tür zu trinken und mir die Bücher anzusehen. Das feierliche, kitzelnde Gefühl, ein knisterndes neues Buch zum ersten Mal zu öffnen. Der Stolz im Gesicht meines Vaters.

„Meine Arbeit ist wichtig, Anna“, sagte er immer, wenn er sich am Feierabend ein Bier öffnete. „Wichtiger als du dir vorzustellen imstande bist. Ich leiste dem gnadenlosen Angriff der modernen Welt auf alles Geistvolle Widerstand, ich widerspreche den Sintfluten talentlosen Nonsenses, oberflächlichen Geschluders, gleichgültigen Palavers und unseriösen, nabelschauenden Blödsinns, mit denen die Horde berieselt wird.“

Ich nickte und errötete vor Freude darüber, dass er mir so feine Worte mitgab. Aber ich sagte nichts, weil ein Kind solchen Aussagen nicht viel entgegenzusetzen hat. Danach, als wir nebeneinander auf dem Fahrradweg nach Hause fuhren, kribbelte mein ganzer Körper vor Glück, weil er so mit mir gesprochen hatte. Als hätte er ganz vergessen, wer ich war. Als ob nichts zwischen uns stünde.

Das erste, was er machte, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, war ins Wohnzimmer zum Bücherregal aus dunklem Eichenholz an der Wand zu gehen. Ab und zu stellte er ein neues Buch hinein, und andere Male nahm er eins heraus. Das Regal, das sich mit der Zeit über alle lebenswichtigen Organe des Hauses ausgebreitet hatte, war mit sorgsam gesammelten Ausgaben der größten Meisterwerke der Literatur gespickt, ein goldgeränderter Klassiker nach dem anderen. Ich hatte vor langer Zeit aufgegeben, mich mit den Büchern meines Vaters zu messen. Am nächsten konnte ich ihm kommen, wenn ich unter der grünen Leselampe auf dem Børge-Mogensen-Sofa saß und ihm über die Schulter blickte, wenn er las. Das störte ihn nicht. Ab und zu konnte es ihm in den Sinn kommen, etwas leise vorzulesen. Lachen. Mich durch den Text hindurch einverstanden anzugucken und mir den Kopf zu tätscheln. Das waren festliche und seltene Augenblicke, die immer unterbrochen wurden. Entweder dadurch, dass meine Mutter klappernd durch den Raum ging, oder dadurch, dass er schlichtweg aus dem Konzept gebracht wurde. Und dann war er weg. Wie ein Blitzen am Sternenhimmel verschwand er, wurde abgelenkt, sah an mir vorbei, durch mich durch, bekam glasige Augen.

In den letzten Jahren hat sich der Abstand zwischen uns verfestigt. Er ist in unserem Blick, in der Berührung, wenn wir einander streifen. Er lauert in jedem Satz, der gesagt wird. Er hat sich wie eine unsichtbare Mauer aus Glas errichtet, gegen die wir immer laufen, wenn wir versuchen uns einander zu nähern.

„Warum fragst du ihn nicht einfach, wer er ist?“, hatte Mattis einmal gefragt. Aber ich schüttelte nur den Kopf, denn derartigem kann man sich nicht nähern, und wenn man das nicht versteht, versteht man nichts.

Es war deutlich, dass meine Eltern nicht vorhatten, sofort wieder zu gehen. Es hatte zu regnen begonnen. Sobald die ersten Tropfen gegen die Scheibe prallten, verschwand das Licht aus dem Zimmer hinter einem Gürtel dunkler Wolken. Meine Mutter tänzelte durch die Wohnung. Ab und zu blieb sie ein paar Sekunden bei einem Gegenstand stehen, als ob er sie an etwas erinnern würde. Ich ließ mich nicht von dem sichtbaren Ekel beeinflussen, der sich in ihrem Gesicht zeigte, als ihr Blick auf das Küchentuch fiel, das gräulich und glitschig auf dem Grund der Spüle lag. Ich guckte weg, konnte aber hören, wie sie es in dem Mülleiner warf und den Deckel zuknallte. Meine Mutter versteht mehr, als man glauben würde, aber sie lässt es sich selten anmerken. Sie hat sich entschlossen, in die andere Richtung zu gucken und sich ewig selbst zu übertönen. Meinen Vater machen ihr Lärm und Geklapper oft wütend, aber er sagt nie etwas. Es ist viel einfacher eine Augenbraue hochzuziehen und es geschehen zu lassen. Einfacher und natürlicher.

„Dass die kleine Selma ihre Mama jetzt nur nicht zu sehr vermisst, jetzt, da sie einfach so wegfährt“, sagte meine Mutter in einem Tonfall, der zwei Dinge darüber, wie sie die Welt sieht, in der sie lebt, offenlegt: Das eine ist, dass immer jemand Schuld ist. Und das zweite ist, dass es immer schade um jemanden ist.

„Warum muss immer jemand schuld sein, Mutter?“, rief ich einmal. Ich war vier, fünf Jahre alt, kann mich aber daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Ich stand vor der offenen Autotür auf der Straße mit den Einfamilienhäusern und rief es unverhohlen heraus. Sie hatten sich im Auto gestritten, meine Eltern. So sehr gestritten, dass die Worte aufhörten Worte zu sein, und die Stimmen ihre Hälse heiser rissen. „Das Ganze ist deine Schuld“, hatte meine Mutter meinem Vater mit einem Messer in der Stimme zugerufen. Schuld. Schuld. Schuld. Meine Mutter ist besessen davon, die Ursachen der Dinge zu benennen, das zuzuordnen, was nicht zugeordnet werden kann, und jemandem die Schuld zu geben.

Seit der Scheidung besuche ich eine Psychologin. Sie hat sehr viel Gewicht darauf gelegt, dass es just diese Worte waren, die ich an diesem Tag benutzt habe. „Das sind bedeutsame Worte“, sagte sie. Man sollte niemals ein gutplatziertes Warum unterschätzen. Sie sprach sehr langsam, die Psychologin. Die. Worte. Haben. Es. Sicherlich. Nicht. Eilig. Damit. Aus. Ihrem. Mund. Zu. Kommen. Es war nicht so sehr das, dass mein Vater sich entgegen jeder Gewohnheit meiner Mutter zuwandte und sagte: „Ja, das, was Anna sagt, ist richtig, warum muss immer jemand schuld sein?“ Nein, das wirklich Bedeutungsvolle, meinte die Psychologin und legte den Kopf ein wenig schräg, war, dass ich das eine Mal imstande gewesen sei, das zu sagen. Dass ich es nie wieder gesagt habe. „Das ist kein gesundes Zeichen“, sagte sie, dass ich danach aufgegeben habe. Das war ein Fingerzeig, dass es in mir vieles gibt, was nicht zu Gedanken werden will.

Zu Gedanken werden, dachte ich und nickte gedankenverloren. Es ist nicht einfach, aus Dingen Gedanken zu machen, und je mehr man darüber nachdenkt, desto schwieriger wird es. Plötzlich begann ich zu weinen, und das fühlte sich so befreiend an, dass ich nicht wieder aufhören konnte. Das war offensichtlich eine gute Sache. Die Psychologin reichte mir jedenfalls eine Hand, und wenn es auch nur war, um mir ein Kleenex anzubieten, fühlte es sich gleichwohl an wie eine ganz neue Welt, die sich öffnete.

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