Читать книгу Ein anderer Ort - Signe Langtved Pallisgaard - Страница 7

Drei

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Ich kann mit allen möglichen Stimmen lesen. Ich kann genau so sein, wie meine Tochter sie am liebsten hätte. Ich kann sie dazu bringen, vor Lachen zu glucksen, vor Freude zu beben und vor Unbehagen zu erschaudern, wenn ich ihr laut vorlese. Wie lesen viele Bücher zusammen, sie und ich, und ich denke mit Grauen an den Tag, an dem sie zu alt sein wird, um Geschichten zu hören. Ich weiß nicht, was ich an Stelle der Geschichten stellen kann. Ihr Vater hat einem Kind viel mehr zu bieten. Er hat alle Eigenschaften, die man braucht, um ein guter Elternteil zu sein. Einen sanftmütigeren und beruhigenderen Mann muss man lange suchen. Erst jetzt wird mir klar, wie viel Kraft es eigentlich kostet, derart sanftmütig und beruhigend zu sein.

Mattis kommt fast immer zu früh, wenn er sie abholt. Ich weiß nicht, ob er das mit Absicht macht. Wenn sie den Klang seiner Stimme in der Tür hört, wirft sie sich Hals über Kopf in seine Arme. Selma liebt ihren Vater, und das tue ich auch. Aber ich hasse ihn dafür, dass er sie mir wegnimmt. Ich habe gelernt damit zu leben, dass sie weg ist, aber trotzdem stirbt jedes Mal ein kleiner Teil von mir, wenn der kleine Rucksack im Treppenhaus um die Ecke verschwindet. Aber das ist die Bedingung. Das ist die Bedingung. Eigentlich war ich heute an der Reihe, sie zu haben, aber Mattis hat um Erlaubnis gebeten, sie einen Tag zusätzlich zu bekommen. Das klingt so grausam: Er hat um Erlaubnis gebeten, sie einen Tag zusätzlich zu bekommen. Sie ist nicht etwas, was man bekommt. Sie ist nicht etwas, was man hat. Sie ist einfach. Aber so ist die Sprache: unbarmherzig in ihren Entschleierungen. Selbst wenn sie am allermeisten irrt, hat sie Recht.

Es ist erst ein paar Stunden her, dass ich Selma und Mattis unten auf der Straße zum Abschied zugewunken habe. Aber es fühlt sich an wie Tage. Draußen ist es dunkel geworden, und mein Magen beginnt zu knurren. Also nehme ich eine Tüte tiefgefrorener Suppe aus dem Kühlfach, lege sie in eine Schale und stelle sie in die Mikrowelle. Es ist etwas mit Kürbis und Chili. Während die Suppe sich in einer einsamen Pirouette um sich selbst dreht, gieße ich Rotwein in ein Glas und mache es mir auf dem Sofa gemütlich, die Beine auf den Tisch gelegt und den Mac auf dem Schoß, um weiterzuschreiben.

Mattis war nicht erfreut darüber, dass ich nach Norwegen fuhr, ließ mich aber mit einem Achselzucken wegfahren. Es regnete draußen. Als ich runter zum Strandvejen lief, um ein Taxi herbeizurufen, umschloss die Abenddämmerung die Häuser. Vor dem Hauptbahnhof schlugen die kalten Regentropfen in Schneeregen über, und die Kälte lag wie eine klamme Hülle um meine Hände. Ich fand einen Kiosk, in dem ich eine Zeitung für die Reise kaufen konnte. Die Menschen standen dicht an dicht. Alle waren ihren eigenen Welten zugewandt. Ich nahm die Zeitung aus dem Regal und rollte sie zusammen, so dass sie zu einem robusten Knüppel in meiner Hand wurde. Dass ich jetzt nur nicht den Zug verpasse, flüsterte ich mir zu, als ich in der Schlange stand und mit dem Knüppel ungeduldig gegen den Schenkel schlug.

Ich war besorgt. Besorgt um diejenigen zu Hause, besorgt um das meiste. „Du sorgst dich zu sehr, Anna“, haben meine Eltern immer gesagt, als ich Kind war, und dann warfen sie einander eine Reihe besorgter Blicke zu, die in mir bloß eine weitere Sorge aufwarfen: die Sorge darüber, meine Eltern besorgt zu haben.

Es scheint fast so, wenn ich mich bloß ausreichend um das schlimmste Denkbare sorge, es eine Art Versicherung dagegen wäre, dass es eintrifft. Ich habe beispielsweise wirklich Angst davor zu fliegen. Oder eher gesagt: abzustürzen. Es sind nicht so sehr die tausende Meter freien Falls unter den Füßen, die ich wirklich fürchte, dass schlimmste Denkbare sind die Gedanken. Die letzten Gedanken. Die endlichen Gedanken. Das Undenkbare. Die eigentliche Bedeutung davon, nicht mehr da zu sein. Aber die Sorge an sich nimmt sozusagen der Tatsache, dass die Erde sich überall unter seinen Füßen öffnen kann, und das etwas, das aufzubauen ein halbes Leben gedauert hat, im Bruchteil einer Sekunde ausradiert werden kann, den Stachel.

Ich ging zielsicher zur Rolltreppe, die hinab zum Bahnsteig führte. Die Leute hatten einen unsichtbaren Kreis um zwei schäbige Existenzen gezogen, die in ihren zerrissenen Hosen dastanden und sich stritten. Eine schrille Frauenstimme und ein monotones männliches Röcheln vereinigten sich zu einer einmaligen Stimmlage wortlosen Brüllens. Eine Opernaufführung aus der Hölle. Niemand außer jenen, die es zu eilig hatten, um außen herum zu gehen, näherte sich dem schreienden Paar, und nur wenige streiften den Radius des ranzigen Gestanks, der es umgab. Der Geruch von Pisse und Wahnsinn. Trotzdem warfen die Leute dem Paar gierige Blicke zu, um einen Einblick in das Unglück anderer zu erhaschen und es mit ihrem eigenen Leben zu vergleichen. Etwas Schlimmeres als sie selbst, an dem sie sich während der kommenden Zugfahrt durch einen kalten Januarabend ergötzen konnten.

Schwärme grauer Tauben flatterten unter dem Gewölbe des Bahnhofs herum, und ein junger Mann mit einem großen Rucksack quetschte sich zur Rolltreppe durch, während er mit den Armen fuchtelte, als ginge er durch einen dichten Wald. Dem Geschrei zum Trotz war es still. In mir drin war es still. Das Einzige, was ich hören konnte, waren das Schweigen und der immerwährende Lärm der Gedanken.

Ich blieb unter der Anzeige mit den Zugabfahrtszeiten stehen. Es war noch fast eine Viertelstunde Zeit bis der Zug nach Oslo abfuhr. Also setzte ich mich auf eine Bank und sah den vorbeigehenden Leuten zu: Denjenigen, die sich vorbeugten, um die überfüllten Abfalleimer zu durchwühlen, und denjenigen, die darin den Inhalt ihrer Taschen entleerten. Ich ergriff den Riemen meiner Tasche und ging zur Rolltreppe. Ich trug meine eigene Welt in mir drin, wie alle anderen. Niemand wird mir glauben, dass daran etwas Besonderes ist. Alle waren nass, alle waren müde, alle waren auf dem Weg zu irgendeinem Ort. Das Gewölbe des Hauptbahnhofs war voller Gedanken an andere Orte.

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