Читать книгу Ein anderer Ort - Signe Langtved Pallisgaard - Страница 6
Zwei
ОглавлениеOben in der Wohnung ist es still wie in einem Wintergarten. Alles schläft, wenn sie nicht hier ist. Die Umgebung hält Winterschlaf. Ich schalte den Computer ein und zwinge mich, an die SMS-Katastrophe in Norwegen zurückzudenken. Wenn Anders ein wenig einfallsreicher gewesen wäre, hätte es nicht so weit kommen müssen. Hilde hätte sich damit begnügen können, zu erröten, wie man es so macht, wenn jemand Scherze mit einem treibt, oder sie hätte ihm das Telefon an den Kopf werfen können.
Während ich an jenem Morgen mit dem Handy in der Hand im Flur stand und Anders zuhörte, versuchte ich mir die Szene vom Vorabend vorzustellen, die mir geschildert wurde: Die zwei Teller auf dem Sofatisch, die darauf warteten, hinausgetragen zu werden, die Essensreste, die darauf warteten, weggeschabt zu werden, der lärmende Fernseher, der darauf wartete, ausgeschaltet zu werden, die stummen Gardinen, die rumhingen und auf das Licht warteten, und Hilde, die mit ihrem Telefon in der Hand zu begreifen versuchte. Wenn er ihr nur eine Geschichte über einen Diebstahl aufgetischt hätte. Dann hätte sie ihm mit zitternder Unterlippe und nassen Augen zurufen können, dass er dieses Mal mit seiner Nettigkeit wirklich über die Strenge geschlagen habe. Sie hätte die Tür zuschlagen können, dass die Bilder von den Wänden gefallen wären. Aber das hat sie nicht. Sie tat nichts.
Hilde ist ein einfältiger Mensch, aber nicht ganz so einfältig, wie man glauben möchte. Obwohl der Großteil ihres Wissens aus der Regenbogenpresse stammt, ist sie vielseitig interessiert. Beispielsweise brennt in ihr die Leidenschaft, anderer Leute Geheimnisse aufzudecken und unter anderen Umständen hätte sie diese Eigenschaft vielleicht weit gebracht.
„Wenn ich etwas mehr aus meinem Leben gemacht hätte“, sagte sie einmal, „dann hätte ich gerne alles gelesen, was über den Menschen und sein innerstes Wesen geschrieben steht. Ich hätte mich gerne in die Dinge eingelesen, mich in die letzten Winkel eingearbeitet.“ An diesem Punkt der Geschichte machte sie eine Bohrbewegung mit dem Zeigefinger, die mich vor Unbehagen erschaudern ließ. Aber alles in allem ist Hilde nicht einmal imstande, durch das Durchsichtigste hindurchzusehen, und in Wahrheit macht sie nicht viel anderes, als an all das zu denken, was sie hätte machen können, wenn die Dinge sich für sie anders ergeben hätten.
Ich schlich auf die Toilette und versuchte lautlos Pipi zu machen, das Telefon gegen das Ohr gepresst.
„Bist du am Pissen, Anna?“
„Nein, nein“, antwortete ich, und nach einem Augenblick misstraulichen Zögerns wandte Anders sich wieder seiner Geschichte zu. „Na ja, ich setzte mich also hin und lehnte mich an sie, kurz bevor das Unglück passierte.“ Es fiel mir schwer zu sehen, wie Glück und der Mangel an eben diesem ins Bild passen sollten, aber man sollte den Leuten erlauben, sich in Ruhe zu erklären.
„Wo war ich stehengeblieben?“, hustete er. Ich konnte richtig hören, wie der Schleim in seiner Kehle sich löste. „Ja, ich legte das Ohr an ihre Brust und lauschte ihrem Herzen, das klang wie Pferdehufen auf feuchtem Waldboden.“ Husten. „Und dann roch ich an ihrem Haar, und es erinnerte mich an Fallobst, süß und sauer gleichzeitig.“ Er spuckte die Worte aus, als wolle er sie loswerden, bevor die nächste Tränenwelle, oder vielleicht war es auch Husten, ihn erfasste.
Ich sah vor mir, wie Hilde dort auf dem Fußboden gestanden und gespürt haben muss, wie sich der Erdboden öffnete. Hilde ist hübsch. Das kann man nicht leugnen. Sie hat lange Wimpern und wellenblaue Augen, die die Nuance ändern, je nachdem, was sie ansehen. Das hat ihr Leben jedoch nicht viel einfacher gemacht. Alles in allem ist sie keine Person, die viel von sich selbst gibt, und deshalb dauert es nicht lange, bis auch andere sich nicht allzu viel von ihr wünschen.
„Bist Du da, Anna? Na, gut. Wo war ich stehengeblieben? Genau. Das war im selben Augenblick, als ich mein Telefon aus der Tasche fischte, um eine simple SMS an Kajsa zu schicken: Danke für gestern, Sexy, schrieb ich. So unschuldig war sie. Oh Gott, so großes Aufheben um so wenig.“
Später am Morgen musste ich Mattis erklären, dass es die Macht der Gewohnheit war, die Anders die Nachricht an Hilde auf dem Sofa anstatt an jene, die unten im Tal saß und ihr schweigendes Telefon in der Hand presste, hatte schicken lassen.
Das Bemerkenswerteste an Anders ist sein Mangel an Umsicht. Wenn sie nur ähnliche Namen gehabt hätten, die beiden Mädel, dachte ich, dann könnte man den Irrtum vielleicht verstehen. Aber sie haben ganz unterschiedliche Namen, Hilde, die helle, und Kajsa mit den schwarzen Augen, die in ihren Augenhöhlen glimmen wie zwei Stück Kohle.
Anders hatte mir bei mehreren Gelegenheiten von Kajsa erzählt. Er war ihr im Blumenladen des Einkaufszentrums begegnet, wo er jeden Freitag Blumen für Hilde gekauft hatte. Sie stand dort hinter der Kasse und lächelte so breit, dass alles für Anders zu einer höheren Einheit erhoben wurde, und dann war es Schlag auf Schlag gegangen, wie solche Dinge es oft tun. „Oh Herr im Himmel“, sagte er begeistert, als er mir zum ersten Mal von der neuen Bekanntschaft erzählte. „Sie hat die hübschesten Augen. Große, schwarze Puppenaugen, in denen es stürmt, wenn man sie auch nur anpustet.“
Bei einer späteren Gelegenheit beschrieb er, mit einer gewissen Sorge in der Stimme, wie er dagelegen und mit ihrem schmalen, sehnigen Körper auf einer Matratze im Hinterzimmer Liebe gemacht hatte, als sie ihm plötzlich in die Augen gestarrt und geflüstert hatte: „Ich habe sie geerbt“, also die Augen, „von meiner Großmutter, die eine Lappin ist und immer umherstreift.“ Als sie das sagte, war jedes Wort von großer Wichtigkeit erfüllt, erzählte Anders, und obwohl er dachte, dass es unpassend war, so etwas in so einer Situation zu sagen, hatte er zustimmend genickt. Er hatte sogar das unbehagliche Gefühl bekommen, dass sie eine bestimmte Antwort erwartete, und das tat sie sicherlich auch.
Als ich Anders im Winter zuvor besuchte, als sich die Affäre in ihrer heißesten Anfangsphase befand, schlich ich mich eines Nachmittags ins Zentrum um jene Frau anzusehen, die meinen großen Bruder derart vom rechten Weg abgebracht hatte. Sie stand vor dem Tresen, das Gewicht auf ein Bein verlagert, und sprach mit einem Kunden, während sie mit ihrem hübschen kleinen Fuß rhythmisch gegen einen Metalleimer voller gelber Rosen trat. Das ergab ein Knallgeräusch, das man noch auf der anderen Seite der Ladenfenster hören konnte. Ich trat so nahe heran, dass ich sie sehen konnte, wie sie dastand und die Hand nachlässig auf der schlanken Taille ruhen ließ, genau dort, wo der Gürtel der Schürze sie entzwei schnitt. Ich konnte mir genau vorstellen, wie Anders nackt und mächtig neben ihr lag. Die schwarzen Haarlocken aus dem Gesicht des Mädchens strich und eine Stirn entblößte, die schreiend weiß war.
Anders war am Telefon mehr und mehr zur Ruhr gekommen. Während ich in die Küche ging und eine Tasse Kaffee zubereitete, beschrieb er, wie die Katze, in derselben Sekunde, in der Hildes Telefon läutete, ihr schlankes Rückrat an sein Bein geschmiegt, ihre spitzen Zähne gezeigt, und mit einem Fauchen zu ihm aufgesehen hatte. „Ich hasse Katzen“, rief er. „Ich hasse diese Katze. Ich hasse ihr ganzes Wesen und die schleimige Selbstzufriedenheit.“ Ich nahm einen Schluck Kaffee und fragte mich, woher all dieser Zorn kam. Anders wurde selten wütend. „Wenn man nichts Gutes zu sagen hat, soll man gar nichts sagen“, sagte er immer. Mit der Zeit hatte ich jedoch verstanden, dass es eher die Angst vor Konflikten als moralische Abwägung war, die hinter dieser Haltung lag. Und im selben Atemzug merkte ich mir, dass man niemals den Zorn eines geduldigen Mannes unterschätzen sollte.
Das Ganze war an jenem Abend unglücklicher als sonst ausgefallen. Hilde, die normalerweise stolz darauf war, sich nicht von modernen Kommunikationsmitteln durch die Manege ziehen zu lassen, warf sich auf das Telefon, und Anders, der viele Dinge hätte tun können, wäre er imstande gewesen, klar zu denke, tat nichts. Er hätte so tun können, als ob das Ganze ein schlechter Scherz war. Er hatte genügend Zeit um eine Erklärung zusammenzuzimmern, wenn er nicht just an diesem Abend so unglaublich träge im Kopf gewesen wäre. Er brauchte genau so viel Zeit, wie Hilde brauchte, um die Nachricht zu lesen, um die Tatsache, dass er eine Nachricht geschickt hatte, mit der Tatsache, dass Hilde eine erhalten hatte, zu verknüpfen.
„Aber da war es zu spät, Anna. Oh, das war viel zu spät. In dem Augenblick hatte ich mich schon als der Verräter enttarnt, der ich bin.“
Die kleinen Punkte, die sich hastig auf Anders‘ Gesicht ausbreiteten, verstanden offenbar schneller als er selbst den Zusammenhang. Denn schon bevor ihm der Umfang der Katastrophe vollends bewusst wurde, begannen sie zu wachsen und wurden augenblicklich zu dem, das er am besten als Schandflecke bezeichnen konnte. „Ich saß nur dort auf dem Sofa mit Schandflecken auf der ganzen Visage und starrte hinunter auf die Nähte des Sofas“, schniefte er. „Zählte die Stiche. Sauber und gleichmäßig waren sie. Ganz klar maschinell genäht. Sie sah mich nicht einmal an. Sie las nur wieder und wieder die Nachricht, und als sie sich mir endlich zuwandte, sah sie aus, als ob sie in die Augen eines Fremden starrte.“
Das glaube ich nun nicht. Ich glaube, sie sah Anders an und wusste, dass sie nie jemanden so gut gekannt hat, wie sie ihn kennt. Sie legte das Telefon auf das Bücherregal und setzte sich auf die Kante des Sofatischs mit einer Hand auf dem Bauch. Es war nicht mehr als ein paar Wochen her, da sie beschlossen hatten, dass sie ein Kind machen wollten.
Ich trollte mich in die Ecke des Sofas, das Handy ans Ohr gepresst, und versuchte die kleine Häkeldecke, die meinem kleinen Bruder gehört hatte, um mich zu wickeln. Es war kalt im Wohnzimmer. Unten im Treppenhaus knallte die Eingangstür. Ich zuckte zusammen. Ich überlegte, wer es wohl war, der so früh von zu Hause fort ging, und aus welchem Grund, als Anders in meine Gedanken einbrach: „Ich glaubte, dass es verloren war“, sagte er. „Aber dann kamen meine Gedanken mir zur Hilfe. Umgekehrte Gedanken. Mir wurde klar, dass ich es mir de facto recht gut erlauben konnte darüber beleidigt zu sein, dass sie so etwas von mir glauben konnte.“ Er klang mit einem Mal ganz belebt. „Auf einer derart dünnen Grundlage. Sie hat ja keinen Beweis für irgendetwas. Das ist schiere Spekulation.“ Er legte eine gedankenvolle Pause ein, ehe er fortfuhr: „Im Grunde genommen ist es beängstigend, was für ein misstrauischer Mensch sie ist, findest du nicht?“
Sie waren seit drei Jahren verheiratet, als Anders jene unglücksselige SMS schickte. Das kam jedoch nicht aus dem Nichts. Mein Bruder hatte die Ehe oft als persönlichen Übergriff beschrieben. „Das ist wie zu erfahren, dass du nicht länger du selbst sein darfst“, hatte er gesagt, „dass du nicht mehr die Dinge machen darfst, auf die du Lust hast, ja, du darfst nicht einmal mehr Lust auf sie haben. Damit können nur die wenigsten auf lange Sicht leben. Jeder Mensch hat das Recht auf einen privaten Raum. Einen Ort im Leben, der einem ganz allein gehört, wohin kein anderer kommt. Das hier ist mein Ort. Die Geheimnisse sind mein Ort.“
Nun sollte man nicht glauben, dass ich in Unwissenheit über Anders’ Neigungen gelebt hätte. Aber ich setze das Vertrauen meines Bruders über alles. Mein Bedürfnis, ihm nahe zu sein, kommt vor allen anderen Erwägungen. „Leugne das Ganze“, hatte ich ihm ein Mal, bei einer früheren Gelegenheit, gesagt. Das war am Tag nachdem ich Kajsa im Blumenladen aufgelauert hatte. Ich kann immer wieder hören, wie ihr Fuß gegen den Eimer schlägt, rhythmisch wie ein Countdown. Ein metallischer Herzschlag. Wir standen so nahe am reißenden Fluss, dass wir uns die ganze Zeit die Gischt aus dem Gesicht wischen mussten, als ich das sagte.
Anders war dabei, eine neue Veranda vor dem Haus zu bauen, und ich hatte mir ein paar Tage vom Studium und vom Babysitting frei genommen, und war hinauf gereist, um ihm zu helfen. Wir waren unten in der Holzhandlung, um Holz zu holen. Lange, gleichartige Planken. Gründlich ausgesucht. Er guckte mich einen Augenblick überrascht an, bevor er den Kopf zurücklegte und wiederholte: „Leugnen? Ist das dein Rat?“ Dann guckte er mich kopfschüttelnd an, und an einem flüchtigen Aufblitzen konnte ich sehen, dass er mich liebte. Zum Dank schenkte ich ihm mein allerschönstes Lächeln. Er kratzte seinen Vollbart und warf einen Balken mit derselben Leichtigkeit, als wäre es ein Bund Nägel, auf den Lastwagen. „Ja, das ist so gesehen ein Rat, den man für das meiste anwenden kann“, fügte ich hinzu, und das brachte ihn so zum lachen, dass die Tränen kullerten. Er trocknete auf jeden Fall das Gesicht mit dem Jackenärmel.
Am selben Abend, zur Essenszeit, als wir auf dem Weg hinauf zum Haus in seinem Auto saßen, die Bretter auf der Ladefläche festgeschnallt, durchfuhr eine leuchtende Erkenntnis meinen Bruder. Er fuhr mit dem Wagen rechts ran und erklärte, dass er plötzlich das Ganze klar sehen konnte: Er konnte sehen, dass er so mit Fehlern behaftet war, dass es sowieso hoffnungslos war, sie korrigieren zu wollen. Derart hoffnungslos dass er nun, da alle Masten des Stolzes, die er einmal aufgestellt hatte, längst eingeknickt waren, genau so gut damit fortfahren könne er selbst zu sein und sogar probieren könnte, das Beste daraus zu machen. Er machte das Kreuzzeichen, bevor er den Wagen wieder anließ, denn angesichts seines Gedankengangs ließ sich nicht bestreiten, dass er als Kind regelmäßig gezwungen worden war, in die Kirche zu gehen. Die Reste eines Glaubens hingen ständig an ihm fest wie hartnäckige Flecken auf einem Teppichboden. Der Gedanke stellte ihn so zufrieden, dass er auf der ganzen Heimfahrt pfiff. Und später, als er mit seinem Kaffee und Gebäckkränzen im Schoß auf dem Sofa saß und Hildes rundes Hinterteil betrachtete, das sich hin und her bewegte, während sie den Kaminofen anzündete, schickte er mir einen Blick quer durch das Wohnzimmer, der sagte: Sieh selbst, kleine Schwester, im Grunde genommen bin ich ein sehr zufriedener Mann.
„Es fällt mir also schwer, mir deswegen Vorwürfe zu machen, Anna“, erklang Anders’ Stimme im Handy. „Was?“ fragte ich müde und streckte mich auf dem Sofa, so dass die Beine in der Morgenkälte frei lagen.
„Dass ich mir ihr zusammen gewesen bin. Also Kajsa.“
Was ihm sich vorzuwerfen schwerfiel war, dass er unzählige Mal auf dem Betonboden des Blumenladens in das Lappenmädchen eingedrungen war. Dass er sie auf den Tisch gehievt hatte, auf dem man Sträuße bindet. Sie auf Dornen und abgeschnittene Stiele gelegt hat. Dass er sie von vorne, von hinten, und von allen Seiten auf der Matratze genommen hat, die im Hinterzimmer lag und nach Halmen duftete. Er hatte den Überblick verloren, wie oft sich seine Lungen mit dem schweren, würzigen Duft von Lavendel gefüllt hatten, während er die Backen des jungen Mädchens spreizte. Denn, wie er sagte: „Was für ein Mann wäre man, wenn man nicht das durchtriebene auffordernde Glimmen in ihren dunklen Augen sehen könnte? Was für ein Mensch? Ich liebe meine Ehefrau. Das tue ich. Sogar das Wort Ehefrau liebe ich. Ich liebe den Klang ihres Namens, ich liebe es, zärtlich mit ihr Liebe zu machen. Ich liebe ihre Art, mich zu lieben.“
An diesem Tag hatte er offenbar kein Problem damit, über Liebe zu reden, und als er erst einmal in Gang gekommen war, war er nahezu nicht aufzuhalten. „Sie passt auch gut zu mir“, fuhr er fort. „Sie legt mir meine Sachen morgens auf die Heizung, so dass man sie bequem anziehen kann. Sie schaut listig drein, wenn ich etwas Lustiges sage, und abends zieht sie unter einem Vergrößerungsglas unangenehme kleine Holzsplitter aus meinen Händen. Sie gibt mir sogar ohne zu fragen zwei Stücke Zucker in den Kaffee. Und das ist die Frage: Kann man sich im Grunde genommen so viel mehr wünschen?“
Ich schüttelte den Kopf, aber das kann man durch ein Handy ja weder sehen noch hören.
„Was ist dann passiert?“, fragte ich.
„Sie sagte: Wen nennst du Sexy?“ Er gab ein Schluchzen von sich, aber ich war mir nicht sicher, ob es von ihm kam oder bloß ein Teil der Geschichte war.
Ich rätselte, wann Mattis auffallen würde, dass ich nicht mit ihm zusammen im Bett lag, als Anders mich mit noch einer erschütternden Tatsache ins Jetzt zurückbrachte: „Das Schlimmste ist, dass ich nicht einmal an das Lappenmädchen gedacht habe, als ich die Nachricht schickte. Das war nur so dahin getippt. Das sind zwei Wirklichkeiten, die nicht zusammengehören, und deshalb schrieb ich das. Weil es dabei war, für mich im Sande zu verlaufen, und es ist immer etwas traurig, wenn das geschieht. Ich hasse es, wenn meine Gefühle mich im Stich lassen. Gefühle sind mit das Schlimmste, was einem ausgehen kann.“
Es waren mehrere Dinge, die den Ausschlag gegeben haben. Sie hatte begonnen, ihn Liebster zu nennen, sie hatte immer eine Kanne frisch zubereiteten Kaffee, wenn er im Blumenladen vorbeikam, und sie wollte seine Hand nicht loslassen, wenn er sie zu sich zog. Aber das Schlimmste war, dass sie etwas von wegen „Liebe kann nicht dort einziehen, wo Liebe bereits wohnt“, gemurmelt hatte. In dem Augenblick wurde Anders klar, dass er das nicht wieder machen wollte. Jedenfalls nicht mit ihr. Er musste nur noch eine einigermaßen schonende Art finden Schluss zu machen, denn „es ist ja schade um sie“, wie er sagte: „Und man will ihr ja am liebsten nicht das Herz brechen. Man weiß nie, was gebrochene Herzen sich ausdenken können.“
Einen Augenblick lang, als er von dieser Einsicht schöpfte, wirkte es so, als ob der Umfang der Katastrophe für ihn leicht in den Hintergrund geglitten war.
Im Bett begann Mattis sich herumzuwälzen. Es ärgerte ihn, wenn ich zu lange mit Anders am Telefon sprach. Er findet, dass mein Bruder meine Liebe ausnutzt, und vielleicht tut er das auch.
Als wir fertig damit waren, über Kajsa und ihr gebrochenes Herz zu reden, kam er auf den schicksalsträchtigen Wortwechsel des Vorabends zurück.
„Was ist gestern geschehen?“ fragte Hilde.
„Du darfst nicht wütend werden.“ antwortete Anders.
„Das hättest du nicht sagen sollen“, seufzte ich.
„Das weiß ich jetzt“, flüsterte er. “Ich weiß das.”
„Was ist dann passiert?“
„Tja, sie schüttelte nur den Kopf und flüsterte: Wie konntest du das tun, Anders? Und das konnte ich nicht beantworten, weil ich nicht weiß, wie ich das tun konnte. Sag besser nichts mehr, sagte sie dann, und ihre Stimme war nicht nur klein und piepsig, wie sie zu sein pflegt, wenn ich sie unglücklich mache, sie war kalt und fremd.“
„Das glaube ich gerne, dass sie das war“, sagte ich resigniert. Aber ich glaubte nichts. Ich war mir sicher, dass Hildes Stimme genau so fremd war, wie es nur das, was man am allerbesten kennt, sein kann.