Читать книгу Ein anderer Ort - Signe Langtved Pallisgaard - Страница 8
Vier
ОглавлениеIch habe nicht einmal die Hälfte der Suppe gegessen, als ich den Rest in die Spüle kippe. Die braun-orangefarbene Masse klebt wie Kotze am Stahl. Ich frage mich, was Selma und Mattis zu Abend essen, und da, wie aus dem Nichts, die Hände am Küchenwaschbecken, werde ich von jener Sorte Einsamkeit übermannt, die einen ein paar Sekunden lang aushöhlt. Es einem unmöglich macht zu sein. Ich lasse mich auf den Boden gleiten. Drücke den Rücken gegen die Küchenschränke und denke an Selma. Ich wünsche mir so sehr, dass sie das Leben leichter nehmen wird als ich.
Langsam stehe ich wieder auf und beginne, in der Wohnung umherzugehen. Ich suche nach dem ein oder anderen, was sie vergessen hat, das ich vorbeibringen kann. Aber da ist nichts. Ich gehe in ihr Zimmer. Stehe mitten auf dem Boden und drücke die Handinnenseite so fest gegen Augenhöhlen wie ich nur kann. Die Haut klebt, als ich loslasse. Eine Flutwelle von Verlust erhebt sich in mir. Nichts ist beängstigender als ein Kinderzimmer ohne Kind. Die Strumpfhosen, die schlapp auf dem Stuhlrücken hängen, das aufgeschlagene Buch auf dem Nachttisch, das niemand liest, die Bilder an der Wand, die sich niemand anschaut. Die Abwesenheit ist unendlich. Vorsichtig krieche ich in ihr Bett und ziehe die allzu kleine Decke über mich. Dann liege ich da, die Füße ragen über die Bettkante hinaus, und lasse kleine, spitze Wellen der Trauer mich durchspülen.
Erst nachdem ich alleine bin, wachsen meine Gefühle über mich hinaus. Jetzt fällt es mir nur mehr auf. Alles wird stärker empfunden, wenn es keinen anderen gibt, um es auszugleichen. Das ist es, was wir füreinander tun, wenn wir ansonsten gut zusammenpassen: Wir mildern den Schmerz und verstärken das Glück.
Vor einem Jahr wurde mir bewusst, dass ich nicht diejenige war, die ich gerne sein wollte. Ich war nicht einmal die, die ich lange Zeit zu sein geglaubt hatte. Selbst in den vielen letzten Jahren, in denen alles gut gewesen war, war es schlecht gewesen. Je richtiger es wurde, desto verkehrter fühlte es sich an. Der Tag, an dem das für mich feststand, war ein Sonnabendvormittag mit hohem Himmel und einem Streif Frostschnee auf dem Kopfsteinpflaster. Ich blieb ruckartig stehen, nachdem ich bei Brugsen1 gewesen war. Ein kleiner Stein steckte in meiner Schuhsohle fest, doch das war es nicht, was mich störte. Ich pulte den Stein heraus und blieb vor der Eisdiele stehen, die in meiner Kindheit die Festung am Ende der Welt war. Nun war sie für den Winter geschlossen. Davor lehnte ein mannshoher Stapel alter Zeitungen an der Tür.
Ich blieb einfach auf dem Bürgersteig stehen. Wie eingepflanzt zwischen Menschen, die mit Einkaufstüten im Arm vorbei strömten und Kinder hinter sich herzogen. Ich stand nur da und sah dabei zu, wie das alltägliche Leben sich abspielte, während ich mich selbst aussiebte wie Sand zwischen den Fingern. Ich stellte die zwei proppevollen Einkaufstüten auf der nächstbesten Bank ab und ging runter zum Hafen von Hellerup. Es war schon befreiend, ohne irgendeinen Grund dahin zu gehen. Ohne etwas zu sollen. Ich atmete leichter, und meine Gedanken begannen, ihre gewohnten Formen wiederzuerlangen. Die Sonne stach in die Augen. Auf dem Wasser lag Eis und die Möwen schrien.
Bevor mein kleiner Bruder zur Welt kam, machten meine Eltern und ich oft einen Abendspaziergang in diesem Hafen. Ich kenne jede Bank, jeden Baum. Ich bilde mir ein, dass ich auf jede einzelne Fliese in dem kleinen Rosengarten getreten bin. In meiner Erinnerung sind die Abendspaziergänge Impressionen: Abendsonne, eine schwingende Schaukel, kleine Sprünge in einer Pfütze. Ich hob einen Stein auf und wog ihn in der Hand. Vielleicht habe ich einmal denselben Stein mit meinen Kinderhänden aufgehoben und ihn weggeschmissen, dachte ich.
Ich ging auf die Mole. Ein frierender Erpel spazierte auf dem dünnen Eis, das in Schollen auf dem Wasser lag. Einen kurzen Augenblick lang sah er mich direkt an, als ob er betonen wollte, dass er sich meiner Anwesenheit bewusst war. Aber das Kratzen einer Schneeschaufel auf dem Asphalt brachte ihn auf andere Gedanken. Er schlug verängstigt mit den Flügeln, und obwohl er viel zu schwer wirkte, um sein eigenes Gewicht zu tragen, wurde sein Körper in die Luft und hinaus auf den offenen Sund gehoben. Er flog entlang der dunklen Fahrrinne, und ich spähte ihm hinterher, bis ich ihn aus den Augen verlor.
Mein Telefon klingelte in meiner Tasche. Ich musste rangehen. Mattis könne nicht begreifen, wo ich geblieben sei, sagte er missmutig. Er brauche die Einkäufe, Schlagsahne, Eier, Bier, Parmesan. Ich begann zurück in Richtung Strandvejen zu gehen, aber als ich ging, blieb der beste Teil von mir stehen. Der beste Teil von mir tat das, was er wollte, und blieb stehen. Die Tüten standen immer noch auf der Bank, und es war just, als ich die schwerste von ihnen am Henkel fasste, als Frage Nummer eins mich traf: Soll das so sein? Ich bin 29 Jahre. Soll das wirklich so sein? Als ich atemlos die Treppe heraufstürzte, kam Frage Nummer zwei, die nicht wirklich eine Frage, sondern eher eine Feststellung war: Ich bin nicht die, die ich gerne sein möchte.
Gegen Mitternacht krieche ich wieder aus Selmas Bett. Ich streiche die Überdecke glatt und stopfe die gehäkelte Decke, die meinem kleinen Bruder gehört hat, längs unter die Matratze. Die letzte Ecke presse ich in der Hand, bevor ich sie zurecht drücke. Nur einen Augenblick. Das tue ich immer. Das erinnert mich an ihn. Seine pummeligen Babyfinger, die sich fest um die Deckenkante geschlossen hatten, seine kleinen pummeligen Arme. Die lauten Glücksschreie, die die Zimmer erfüllten.
Bevor ich den Raum verlasse, platziere ich vorsichtig die Teddybären Schulter an Schulter wie einen Rahmen um das leere Bett. In der Tür drehe ich mich um und gucke in ihre sehnsuchtsvollen, runden Glasaugen. Dann schließe ich die Tür hinter mir und setze mich wieder an den Computer, um zu dem kalten Abend am Hauptbahnhof zurückzukehren.
Alle Geräusche wurden vom Quietschen des Zuges, das durch Mark und Bein ging, verschluckt. Ich hielt meine Tasche dicht an meinem Körper. Nun dauerte es nur noch wenige Minuten, bis mein Zug kam. Anders hatte gesagt, dass ich die einzige sei, die Hilde zum Reden bringen könne, also war ich gezwungen hinzufahren. Das hatte ich Mattis jedenfalls erklärt.
Ich versuche mir die Geräusche und Gerüche jenes Abends in Erinnerung zu rufen, aber meine Gedanken schweifen immer wieder ab wie ein Schiff auf schiefem Kurs. Ich hole die kleine gehäkelte Decke zu mir aufs Sofa und wickle sie stramm um meinen Körper. Ab und zu stelle ich mir vor, dass sie immer noch nach ihm riecht.
Einmal hatte ich einen kleinen Bruder. Johan hieß er. Meine Großmutter, die wir alle die Greisin nannten, sprach es Johan aus, mit Betonung auf der ersten Silbe. Es klang viel schöner aus ihrem Mund. So schön, dass alle versuchten, ihre Art es auszusprechen zu imitieren. Johan starb vor seinem ersten Geburtstag. Er hauchte sein Leben friedlich in seinem Laufstall aus, sagen alle, aber ich war erst sechs Jahre alt und zu jung, um zu verstehen, was passiert war, wie meine Mutter immer sagt, während sie so schnell mit den Augen blinzelt, dass sie ihren Blick in Stückchen hackt. „Ja“, fügt mein Vater dann hinzu: „klein Anna glitt glücklicherweise über Johans Tod hinweg, wie das Auge über die Worte einer Sprache gleitet, die man nicht versteht.“
Aber ich verstand die Sprache der Trauer gut. Ich verstand, dass es alles verändert. Dass die Trauer all das Gute in eine unsichtbare Dunkelheit hinabsenkt. Sein Tod wurde meine Zeitrechnung, mein Damals und Jetzt. Gleichwohl habe ich selten an ihn gedacht. Ich kann nicht an ihn denken. Das, woran ich denken kann, ist, wie still es wurde. Es wurde still, und so ist es immer noch. Die Stille wurde übertönt, aber sie ist ständig da. Lass dich nicht täuschen, sie ist ständig hier. Als mein kleiner Bruder starb, wurde in meinem Leben der Ton ausgeschaltet.
Wenn ich nicht an Stille und Dunkelheit denke, denke ich an Gardinen. Die Gardinen im Wohnzimmer waren bei Tag zu und bei Nacht auseinander gezogen. Es war immer dunkel. Alle Erwachsenen starrten in die Luft, als ob sie etwas anstarrten, was ich nicht sehen konnte, und etwas lauschten, das ich nicht hören konnte. Ich stand im Wohnzimmer und sah Dinge an ohne ihre Namen zu kennen. Weder Gardinen noch Licht oder Dunkelheit konnte ich noch benennen. Sie waren einfach da. Genau so wie die Männer einfach da waren. Die Männer, die nach seinem Tod im Badezimmer knieten und einen neuen Boden auslegten.
Als ich auf dem Bahnsteig stand, rief Anders wieder an. Er erzählte mit bebender Stimme, dass Hilde sich im Badezimmer eingeschlossen hatte. Sie war den ganzen Tag dort drin gewesen, und er konnte sich nur deshalb davon abhalten, die Tür einzutreten, weil er hören konnte, dass sie auf der anderen Seite saß und heulte.
Seine Stimme klang wie ein Boot, das dabei war zu kentern, und ich fühlte einen Stich aufrichtiger Sorge um ihn.
Als er aufgelegt hatte, rief ich zu Hause an. Der Wind kratzte in der Leitung. Ich wollte Mattis’ Stimme hören, ihrem Klang lauschen. Seine Stimme kann mich immer dazu bringen runterzukommen, wenn ich aufgeregt bin, und mich zusammenzureißen, wenn ich dabei bin auseinanderzufallen. Einige Male wünschte ich mir, dass er nicht diese Wirkung auf mich hätte, und andere Male hasse ich es geradezu. Aber das ändert nichts daran, dass er ein guter Mann ist. Er gehört in eine Welt, in der es keinen Zweifel gibt. Obwohl ich die ganze Zeit wusste, dass ich mich dafür glücklich schätzen sollte, dass ich es war, die er in den Jahren, die wir zusammen waren, zu lieben gewählt hatte, richtete ich mich nicht danach.
Niemand nahm den Hörer ab, also rief ich noch einmal an, bekam aber immer noch keine Antwort. Er muss doch zu Hause sein, dachte ich, und rief noch ein drittes Mal an, wobei ich das Telefon einfach klingeln ließ, ohne es ans Ohr zu halten. Der Zug war verspätet, aber just als die Rastlosigkeit an mir zu nagen begann, näherte er sich in der Dunkelheit. Der ratternde Klang der Zugwaggons, der auf den Bahnsteig drang, brachte die Leute dazu, aus den nächtlichen Schatten zu taumeln wie umherirrende Fledermäuse, die aus ihrem Versteck gescheucht werden. Der Zug begann seinen langen, zähen Bremsvorgang mit einem ohrenbetäubenden Quietschen. Ich hielt mir mit den Fingern beide Ohren zu, aber sein Schrei erzeugte trotzdem Widerhalle in meinem Schädel. Wenige Augenblicke später wurden die Türen mit lautem Knallen aufgestoßen, das eine Serie von Echos durch den Regen schickte. Ich warf meine Reistasche über die Schulter und quetschte mich durch den schmalen Gang.
In meinem Schlafwagen war noch niemand drin, obwohl er für sechs Leute ausgelegt war. Zwei braune samtene Kojen ganz unten, zwei in der Mitte, die die aufgeklappt werden sollten, und zwei ganz oben unter der Decke. Trotz der Abscheu, die ich dabei fühlte, in der Nähe von Fremden zu schlafen, hatte ich die billigste Fahrkarte genommen, die ich kriegen konnte, in der Hoffnung, dass das mein schlechtes Gewissen darüber, dass ich Anders’ Bedürfnisse über die meiner Familie stellte, lindern würde. Ich drückte die Tür ein weiteres Mal zu, als ob das jemanden davon abhalten würde, in den nächsten vielen Stunden durch sie durchzukommen.