Читать книгу Ein anderer Ort - Signe Langtved Pallisgaard - Страница 9

Fünf

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Im Gegensatz zu Anders bin ich bei meinen beiden Eltern aufgewachsen. In dem großen Haus nahe Strandvejen habe ich meine Kindheitsjahre verbracht. Wir wohnten im Erdgeschoss, wo meine Eltern heute noch wohnen. Als ich klein war, blieb meine Mutter zu Hause und kümmerte sich um den Haushalt, während mein Vater sich als Verleger etablierte. Nach dem Tod meines Bruders warf er das Los, kündigte seinen Job als Revisor und verfolgte seinen Traum mit nahezu blutrünstigem Eifer. In der Etage darüber wohnte die Greisin. Sie starb vor kurzer Zeit. Am vorletzten Tag des Jahres nahm sie ihren letzten Atemzug. Ihre Wohnung sieht weiterhin so aus, als ob sie nur vom Sessel aufgestanden und auf den Altan gegangen wäre, um etwas Luft zu schnappen. Die Pantoffeln warten auf der Fußmatte. Das Zigarettenetui liegt zusammen mit ihrer Lesebrille geöffnet auf dem Tisch und auf der Armlehne des Sessels liegt das Buch, mit dem sie nie fertig wurde.

Als Kind bin ich viel allein gewesen. Mein großer Bruder kam nur in den Sommerferien zu uns zu Besuch, so dass ich viele Jahre lang technisch gesehen Einzelkind war. Obwohl ein junges Mädchen sich kein besseres Umfeld zum Aufwachsen wünschen konnte, war das genau das, was ich tat. Ich sehnte mich nach allem, was anders war. Ich sehnte mich immer danach, an einem anderen Ort zu sein. Als ich also mit der neunten Klasse fertig war, war mein größter und einziger Wunsch, dass mir erlaubt würde hinauf zu reisen und bei Anders in Oslo zu leben.

Das erste Mal, dass ich meinen großen Bruder als großen Bruder wahrnahm, war an dem Tag, als er mir das Fahrradfahren beibrachte. Ich war sieben Jahre alt. Es war Hochsommer. Wir saßen auf dem schwarzen Ledersofa im Wohnzimmer und langweilten uns, als er mir plötzlich sein gebräuntes Gesicht zuwandte und fragte: „Kannst du eigentlich Fahrrad fahren?“ Als ich beschämt den Kopf schüttelte, denn damals war ich ständig vor ihm eingeschüchtert, ergriff er resolut meine Hand, zerrte mich auf den Hofplatz, zog mein Fahrrad aus dem Schuppen, gab ihm einen harten Klaps auf den Sattel und sagte: „Dann wird dein großer Bruder dir das schon beibringen.“ Das war das erste Mal, dass der Begriff großer Bruder sich so schön in meiner Brust ausbreitete.

Den Rest des Nachmittags lief er unermüdlich hinter mir, den Gepäckträger fest im Griff. Wenn ich schlingerte, richtete er meinen Kurs, und wenn ich stürzte, richtete er mich auf. Wenn ich mir die Haut aufriss, wusch er meine Wunden, und wenn ich aufgab, brachte er mich dazu dabeizubleiben. Und ganz plötzlich ließ er los, und ich fuhr Fahrrad.

Den Umständen zum Trotz vermochten Anders und ich ein Verhältnis aufzubauen, das unsere Kindheit hindurch wuchs. Der kindliche Wille ist mehr zu überwinden imstande, als man glaubt. Ich bestand darauf, dass Anders mein Bruder war und band ihn im Laufe der Jahre näher und näher an mich. Mit unbändiger Entschlossenheit hielt ich an den jährlichen Sommerbesuchen fest, obwohl ich wohl die einzige war, die sie sich wirklich wünschte.

Jeden Sommer hielt es Anders so zwei steife Wochen bei uns aus, in denen niemand außer mir zu verstehen versuchte, was er sagte. Zwei Wochen, in denen mein Vater seinen Sohn verwundert ansah, und in denen meine Eltern all ihre Kräfte dafür aufwandten, für dieses im Grunde genommen fremde Kind eine verkrampfte Familienvorstellung aufzuführen.

Als ich ihn auf dem Hof in Norwegen besuchte, war es anders. Hier wurde ich wie ein Wunder behandelt, das im Laufe der Nacht vom Himmel gefallen und auf der Türschwelle der Familie gelandet war. Hier aßen wir Würstchen direkt aus der Pfanne, liefen abschüssige Wiesen hinab, lagen unter unendlichen Baumkronen, lasen Anders’ Donald-Duck-Hefte und waren einfach wir selbst. Es färbte mein Innerstes kohlenschwarz, dass meine Eltern nicht auch so sein konnten.

Über die Sommerbesuche hinaus hielten wir engen Briefkontakt. Ich schrieb lange, Anders schrieb kurze Briefe. Ich stellte Fragen, Anders antwortete. So war das Gleichgewicht. Ich wusste, dass unsere Verbindung in der Sekunde aufhören würde, in der ich aufhören würde zu schreiben, also machte ich weiter.

Erst als ich älter wurde ging mir auf, das meine Kindheitsfaszination von Anders sich in höherem Maß an meine Vorstellung von ihm knüpfte, als sie sich nach ihm als Person richtete. Als ich dann mit der Schule fertig war und die Sommerbesuche längst im Sande verlaufen waren, entschloss ich mich, zu meinem großen Bruder nach Oslo zu ziehen, um ihn besser kennenzulernen. Und meine Eltern sahen keinen anderen Ausweg als meinem beharrlichen Quengeln nachzugeben und mich fahren zu lassen.

Anders war zweiundzwanzig und hatte sich längst von seiner Kindheit losgerissen. Er wohnte in einer Wohnung mit hoher Decke auf Akerbrygge, die er für das Geld mietete, das er als Barchef im Hotel Bristol verdiente. Die Fenster der Wohnung gingen auf den Hafen hinaus und das Wasser funkelte in ihnen. Mein Vater fuhr mich in seinem schwarzen Audi hinauf. Er umklammerte mit den Händen das Lenkrad die ganze E6 rauf ohne ein Wort zu sagen. Als wir ankamen, gab er seinem Sohn einen gleichermaßen zornigen und warmen Händedruck. Dann küsste er mich auf die Stirn und fuhr wieder nach Hause, ohne etwas Anderes als einen feuchten Abdruck zu hinterlassen.

Die Wohnung lag im vierten Stock eines Gebäudes aus dem späten 19. Jahrhundert. Seine Fassade war mit Efeu bedeckt. „Strotzt es hier nicht nur so vor Atmosphäre?“ fragte Anders, als ich zum ersten Mal durch die Tür trat. Als ich bejahte, sprühte er Funken vor Stolz, denn Anders ist immer auf der Suche nach etwas, womit er einem imponieren kann. Die Wohnung verfügte über eine hohe Täfelung und Stuck, der von 50 Jahren Zigarrenrauch, der den Raucher fertig gemacht hatte, aber nicht den Stuck, dunkelgrau geworden war.

In der nächsten Zeit saß ich viele Stunden am Tag und bei jeglichem Wetter draußen auf dem Altan und folgte den Masten der Segelboote, die auf dem Wasser vorbeiglitten. Ich hörte Radio, las Bücher, rauchte Kippen und knipste die Asche über das Geländer ab. Nicht einen Augenblick dachte ich an all das, an das man denken sollte, wenn man sechzehn ist. Ich hatte weder das Gewicht noch die Leichtigkeit der Jugend, deshalb stahl ich von beidem bei Anders.

Er kannte alles und jeden in der Stadt. Er war aufgeweckt und hatte schlechte Manieren, deutlich schlanker als heute, und alle mochten ihn. Es gefiel einem in seinem Schatten, und ich wuchs in dem hellen Schein, der von ihm ausging. Ich arbeitete auch in der Bar, wo ich unter dem Namen die Dänin gehandelt wurde, obwohl ich versuchte Norwegisch zu sprechen. Es war nicht nur in Anders‘ Sprache, in der ich mich verblüffend schnell zuhause fühlte, sondern auch in seinem ganzen Leben.

Wenige Wochen nachdem ich eingezogen war, erzählte mir eine Mieterin unter uns, dass der frühere Bewohner der Wohnung nicht nur Zigarrenraucher, sondern auch ein sehr einsamer Mann gewesen war. Und er hatte viele Bücher, sagte sie mit einem Ton, der mehr als andeutete, dass das eine mit dem anderen zusammenhing. Anders war damit einverstanden gewesen, dass die Bücher in der Wohnung blieben, als er einzog. Am Anfang kursierten wilde Geschichten über das Buch in der Hand des toten Mannes. Es sei fast unmöglich gewesen, es seinem wachsartigen Griff zu entreißen, als sie ihn im Sessel fanden.

Ich dachte oft daran, was das wohl für ein Buch war, das das letzte war, das er gelesen hatte, als das Leben ihn verließ, oder als er das Leben verließ. Welche Seite, welcher Satz, welches Wort. Das war der Grund dafür, dass ich das erste Buch aus dem Bücherschrank nahm und damit begann, es zu lesen. Und so zog das eine Buch das zweite nach sich, und bald hatte ich mich durch das ganze oberste Regal gelesen.

Die Lektüre folgte dem System, dass ich alle Bücher in genau der Reihenfolge lesen sollte, in der sie standen. Ich begann in der obersten rechten Ecke mit einem Roman, der so verstaubt war, dass ich jedes Mal, wenn ich darin blätterte, niesen musste. Obwohl ich nie ganz herausgefunden habe, wovon er handelte, berührte er mich tief. Ich machte keinen Unterschied zwischen den Büchern, schielte nicht darauf, wer sie geschrieben hatte, oder wovon sie handelten. Ich nahm sie genau so, wie sie waren. In einer unordentlichen Wohnung in Oslo verstand ich, dass man gleichzeitig verschwindet und entsteht, wenn man liest. Ich verstand, dass man niemals alleine ist, wenn nur Bücher einen umgeben.

Jedes Mal, wenn ich mit einem Buch fertig wurde, warf ich es auf einen schnell wachsenden Stapel in der Ecke. Ich hatte ein ausgesprochen gutes Auge für Lyrik, und obwohl ich ungeduldig und gereizt wurde, wenn ich die Bedeutung nicht verstand, raubte es mir vollständig den Atem, wenn ich es tat. Wenn ein Gedicht mich öffnete, wirkte die Welt wunderbar, nur weil es darin solch ein Gedicht gibt. Die besten Sätze schrieb ich auf kleine Stücke Papier, die ich mit Anders‘ Werbemagneten unterschiedlicher Spiritusfirmen am Kühlschrank befestigte.

Ich war nicht nur zufrieden, als ich in Norwegen wohnte, ich war glücklich. Glücklich, wie man es ist, wenn die großen Fragezeichen außer Sicht sind. Wenn man einen Grund zu lachen findet, obwohl man ganz allein ist. Wenn man morgens aufwacht und Lust hat aufzustehen. Und wenn man einfach keine Lust hat, sich jedenfalls nicht von Widerwillen beschwert fühlt. Wir lebten ein leichtes und einfaches Leben, Anders und ich. Wir sprachen miteinander ohne zu viel miteinander zu sprechen. Anders band eine Socke um die Türklinke, wenn er nächtliche Gäste hatte, was in den meisten Nächten der Fall war. Und wenn er keine hatte, kroch ich zu ihm, sobald ich am Morgen aufwachte. Dann lagen wir Arm im Arm auf seiner Federmatratze und sahen durch die nach Osten gewandten Fenster der Sonne beim Aufstehen zu.

Mein Aufenthalt in Norwegen bestand aus einer langen Reihe glasklarer Augenblicke, in denen alles so war, wie es sein sollte. Aber langsam begann sich das zu ändern. Die Tage bekamen Kanten und kleine Risse. Seine Antworten kamen mit ein paar Sekunden Verspätung. Das frohe Lächeln auf seinem Gesicht verschwand schneller, als es früher der Fall war. Er begann sich seltsam zu verhalten. Nichtsdestoweniger kam es für uns beide überraschend, als ich eines Tages ohne irgendeinen Grund mitteilte, dass ich lieber heim nach Dänemark fahren würde.

„Warum?“, fragte Anders.

Wir saßen auf dem Altan und aßen Pizza aus einem ölbefleckten Pappkarton. Es war ein warmer Spätsommerabend.

„Das weiß ich nicht.“

Er stand auf, öffnete eine Flasche Rotwein, warf den Korken vom Altan, und sah ihm nach, als er fiel.

„Aber fühlt sich das richtig an?“

„Ne.“

Ich stellte mich neben ihn. Er strich mir mit glühenden Handflächen über den Rücken.

„Nur weil es sich nicht richtig anfühlt, muss es nicht notwendigerweise verkehrt sein, Anna. Vielleicht ist es das Beste. Du bist nun lange hier gewesen.“

Das Herz sank in meiner Brust, aber das war ja meine Wahl, nicht seine. Ich war fest entschlossen gewesen, ihm zuvor zu kommen. Er setzte sich wieder auf den Plastikstuhl, nahm einen Schluck seines Rotweins und besiegelte das Neue zwischen uns indem er sagte: „Das ist ja kein Weltuntergang, und du kannst ja vorbeikommen und mich besuchen so oft du willst.“

Ich nickte. Und eines Abends nicht lange darauf setzte ich mich in einen Zug nach Kopenhagen, um zu meinen Eltern zurückzukehren, die erneut einen Sinn in der Welt sahen, jetzt, da ich genügend Vernunft gesammelt hatte, um nach Hause zu kommen und ein ordentliches Leben zu beginnen. Ich sollte nach Hause zur Stille. Nach Hause und in die Oberstufe gehen, auf Feste gehen, Herzschmerz haben und in der schachbrettartigen Ordnung der Küche sitzen und mich mit einem Finger auf der Kante des ovalen Esstischs durch eine endlose Reihe Alltage trommeln.

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