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5. Arztbesuch
ОглавлениеDresden, 04. Oktober 1881, am Nachmittag
Florence stand auf dem Balkon und rauchte. Henri war im Club. Wahrscheinlich würde er erst spät am Abend nach Hause kommen. Doch ihre Schwiegermutter war schon wieder in der Wohnung und blieb einfach, auch wenn Henri gar nicht da war. Mittlerweile kam Antoinette fast täglich vorbei und verbrachte die Nachmittage in der Räcknitzstraße. Sie hatte ihr Stickzeug dabei oder etwas zum Lesen. Manchmal beschäftigte sie sich mit den Enkelkindern. Dann wieder ließ sie sich in der Küche blicken und warf einen kritischen Blick in die Planung der Mahlzeiten. Florence seufzte. Zum Glück hatte sie jetzt gerade ein paar Minuten Ruhe vor ihr. Hier, auf dem schmalen Balkon, der zum Hof hinausging, würde sie niemand sehen, glaubte sie.
Sie hörte ein Klopfen. »Gnädige Frau, hier ist der Aschenbecher, ich habe ihn sauber gemacht.« Es war die Stimme von Adele, dem Dienstmädchen. Was musste sie sich nicht alles anhören, nur wegen ein paar Rauchwölkchen am Tag. Sogar die Kaiserin von Österreich sollte eine starke Raucherin sein. Die berühmte Elisabeth mit ihren prachtvollen Haaren – Florence hatte neulich erst ein Bild von ihr in einem Modemagazin gesehen. Sie überlegte, wer ihr erzählt hatte von dem Laster der Kaiserin. Irgendjemand vom Hof des sächsischen Königshauses hier in Dresden. Florence kannte einige deutsche Herzoginnen und Gräfinnen, die im Dienste der königlichen Familie standen. Florence’ Deutsch war gut, ihre Stellung durch die Heirat mit Henri herausragend. Die de Melis wurden auch unter den Deutschen als schwerreiche, adelige Familie aus New York betrachtet. Dabei gab es das doch gar nicht. Adel in Amerika.
Sie stieß die Luft aus. Wie unwürdig, dass sie hier stehen musste für diesen kleinen Moment der Entspannung. Wenn Henri am Abend seine Zigarren rauchte, saß er im Salon und musste sich nicht rechtfertigen. Eine Frau hatte es nicht leicht, dachte sie und erinnerte sich an ein Gespräch mit ihrer Freundin Minna von Funcke, die ihr von der Frauenbewegung berichtet hatte. Unvorstellbar, was diese kämpferischen Frauen forderten: Wahlrecht, Mitbestimmung, eine richtige Ausbildung, vielleicht sogar den Zugang zur Universität. Nun, bestimmt nicht für mich, überlegte Florence. Aber vielleicht für Minnie? Wer wusste schon, was die Zukunft brachte? In einem Punkt würde sie ihrer Tochter jedoch unbedingt helfen, sie sollte einen guten Mann heiraten. Nicht nur eine gute Partie, nein, einen guten Mann. Genügend Geld war wichtig, Bildung und Stand auch. Doch es durfte nicht an Herzenswärme und Güte fehlen, fand Florence und fragte sich zum x-ten Mal, warum diese Seiten bei Henri so im Verborgenen lagen.
Wieder klopfte es zaghaft von innen an die Glasscheibe. Adele knickste. »Gnädige Frau, Dr. Zumpe ist da.«
»Dr. Zumpe? Ich habe ihn nicht herbestellt. Wollte er zu Henri? Der ist im Club.«
Adele zuckte die Schultern. »Was soll ich ihm ausrichten?«
»Ach, ist schon gut, Adele. Bitte führen Sie ihn in den Salon. Ich bin gleich so weit. Und sagen Sie doch bitte der Kinderfrau, dass sie die Kinder zurechtmachen soll. Ich möchte mit den beiden zur Brühl’schen Terrasse und einen Kakao trinken.«
Das Dienstmädchen machte sich auf den Weg, und Florence ging in den Salon, nicht ohne sich noch einmal etwas von dem Orangenparfüm aufzutragen.
Der Arzt saß zusammengesunken auf dem Sofa und schien seinen Gedanken nachzuhängen. Als Florence den Raum betrat, erhob er sich schnell. »Meine liebe Frau de Meli, wie schön, Sie zu sehen!«, begrüße er sie galant und deutete einen Handkuss an.
Sie tauschten ein paar Höflichkeiten aus, bis Florence direkt nachfragte: »Wer hat nach Ihnen schicken lassen? Wenn Sie zu meinem Mann wollen, müssten Sie morgen noch einmal wiederkommen. Henri ist im Club.«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Ich wollte tatsächlich zu Ihnen, meine liebe Frau de Meli. Gucken Sie nicht so überrascht! Ganz harmlos, ganz harmlos«, sagte er mit einem Lächeln.
»Dann klären Sie mich doch bitte auf! Ich fühle mich sehr gut. Kommen Sie in einer anderen Angelegenheit?«
»Nun«, fing Carl Julius Zumpe an. »Manchmal hat man selbst das Gefühl, man sei in ausgezeichneter Verfassung. So will ich es einmal vorsichtig formulieren.«
Florence runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen …«
»Ich hörte, dass Sie matt sind, erschöpft. Wir kennen Sie doch alle als eine fröhliche Person. Ja, geradezu schwungvoll. Und mir kam zu Ohren, dass Sie häufig unter Kopfschmerzen leiden, sich zurückziehen. Dass Ihnen möglicherweise alles zu viel wird. Es ist ja auch kein Wunder. Sie müssen ein vornehmes Haus führen, haben Kinder, einen anspruchsvollen Ehemann, sind in der Kirchengemeinde aktiv… Frau de Meli, ich würde Sie gern kurz untersuchen.«
Florence runzelte die Stirn. Wie kam der Arzt darauf, dass es ihr schlecht ging? Sie hatte nirgends Andeutungen dieser Art gemacht. Nun gut, in letzter Zeit hatte sie sich in der Öffentlichkeit etwas zurückgehalten. Es war Anfang Oktober. Die Wintersaison würde erst in ein paar Tagen beginnen. Die ersten Einladungen für abendliche Gesellschaften und Bälle waren schon eingetrudelt.
»Hat mein Mann Sie rufen lassen? Oder von wem kam die Bitte, zu uns zu kommen?«
»Das tut doch nichts zur Sache, meine liebe gnädige Frau. Gehen Sie einfach davon aus, dass es Menschen in Ihrer Umgebung gibt, die sich um Sie sorgen und die Sie unbekümmert und fröhlich wissen möchten«, erwiderte der Arzt mit undurchdringlicher Freundlichkeit.
»Da Sie sich extra auf den Weg gemacht haben. Bitte sehr, Herr Dr. Zumpe, dann untersuchen Sie mich. Ich habe allerdings nicht viel Zeit, ich möchte mit den Kindern einen Spaziergang unternehmen.«
Der Arzt klappte seine abgegriffene Tasche aus Schweinsleder auf und zog ein Stethoskop heraus. Er horchte das Herz ab, die Lungen, befühlte ihren Puls, sah in ihre Pupillen und in ihren Hals. Als die kurze Prozedur beendet war, packte er seine Geräte umständlich wieder ein.
»Wir sollten uns setzen, liebe Frau de Meli«, begann er. »Der erste Eindruck ist durchaus gut. Nur der Puls scheint mir etwas schwach. Ich meine auch, ein leichtes Pfeifen in der Lunge gehört zu haben. Sagen Sie, rauchen Sie noch diese türkischen Zigaretten?«
Florence nickte. »Aber ich habe nicht bemerkt, dass mein Atem rasselt.«
»Um Gottes willen, das habe ich auch nicht gesagt!« Julius Zumpe schüttelte den Kopf. Er legte die Hände zusammen, sodass sie ein Dreieck bildeten. »Ich mache es kurz. Meine Arzt-Augen sehen, dass Sie ein wenig erschöpft sind und Ruhe benötigen. Und bevor dieser Zustand Sie wirklich krank macht, sollten Sie auf mich hören und sich schonen.«
Dann zog er ein Papiertütchen aus seiner Tasche. »Dieses Pulver hier ist sehr hilfreich. Es handelt sich um eine Art Heilerde. Ein wahres Wundermittel, vielen meiner Patienten hat es schon geholfen. Sie rühren sich etwa einen halben Teelöffel in ein Glas Wasser, jeden Morgen, oder wann immer Sie sich ermattet fühlen, und Sie werden sehen, bald sind Sie wieder ganz die Alte!«
Argwöhnisch betrachtete Florence die kleine Tüte aus braunem Packpapier. Es stand kein Schriftzug, kein Zeichen darauf. »Haben Sie vielen Dank, Herr Doktor. Gern werde ich Ihre Empfehlungen annehmen.«
Zumpe strich über seine Tasche und erhob sich. »Sehr schön, verehrte Frau de Meli, es ist zu Ihrem Besten, glauben Sie mir!«
Florence brachte ihn zur Tür. Dann faltete sie das Tütchen auseinander und sah hinein. Ein grauweißes Pulver, es roch eigenartig. Sie rollte die Tüte wieder zusammen. Was für ein merkwürdiger Besuch. Sie ging in ihr Schlafzimmer und steckte das Tütchen in ihren Beutel. Sie würde es dem Inhaber der Löwen-Apotheke zeigen, um herauszufinden, welche Inhaltsstoffe tatsächlich in dem Pulver steckten. Sie sah auf die kleine Konsolenuhr. Die Kinder warteten bestimmt seit einer Viertelstunde auf sie. Florence schlüpfte in ein Paletot und eilte durch die leere Wohnung. Ihre Schwiegermutter schien unbemerkt gegangen zu sein. Im Kinderzimmer angekommen standen Minnie und Henry tatsächlich schon in Jacke und Mantel und warteten auf ihre Mutter.
Die Oktobersonne machte aus diesem Tag eine matte Erinnerung an den Sommer. Die Bäume waren noch voll belaubt. Nur das Grün ihrer Blätter war dunkel und staubig geworden. Bald würden die ersten Herbststürme über Sachsen ziehen, und dann ging es immer ganz schnell, dachte Florence mit einem Anflug von Melancholie, als sie aus dem Droschkenfenster blickte. Der Wagen rollte an der Bürgerwiese vorbei, links herum in die Waisenhausstraße.
»Aber, Mommy, du hast gesagt, wir trinken Kakao im Belvedere«, jammerte Henry, als die Droschke vor der Löwen-Apotheke hielt.
»Das tun wir auch. Vorher muss ich schnell in die Apotheke. Es dauert nicht lange«, beruhigte sie ihn.
Die Kinder warteten im Wagen, während ihre Mutter Dresdens älteste Apotheke betrat.
Ein freundlicher Herr in weißem Kittel bediente sie. Als Florence ihm das Papiertütchen gab, öffnete er es mit spitzen Fingern. »Von ihrem Arzt? Soso. Ungewöhnlich, dass gar keine Bezeichnung darauf steht«, sagte er und guckte Florence durchdringend an. »Kenne ich den Kollegen? Es ist nicht üblich, dass ein Medicus ein Präparat verabreicht – ohne den Patienten, pardon, die Patientin, vollständig zu informieren«, murmelte er.
»Es handelt sich um unseren Hausarzt. Ein sehr erfahrener Mediziner. Sein Name tut hier nichts zur Sache. Könnten Sie dieses Pulver bitte überprüfen? Er sprach von einer Art ›Heilerde‹. Ich weiß nicht recht …«, entgegnete Florence.
»Selbstverständlich werde ich mich darum kümmern. Schauen Sie doch morgen wieder vorbei. Oder lassen Sie mir Ihre Anschrift da, falls ich Rückfragen habe«, sagte der Apotheker.
»De Meli, Florence de Meli. Räcknitzstraße 7«, antwortete Florence und kaufte noch ein Tütchen Salmiakbonbons für die Kinder und Kopfschmerztabletten für sich selbst. Ob es am Wetter lag? Oder hatte es ihr Dr. Zumpe eingeredet? Florence fühlte sich tatsächlich nicht besonders gut. Sie schob es auf das Wetter. Diese sommerlichen Temperaturen im Herbst bekamen ihr nicht. Und vielleicht sollte sie sich das Rauchen tatsächlich abgewöhnen, dann würden sie die Kopfschmerzen weniger häufig plagen, überlegte sie.
Kaum war sie zurück in der Droschke, belagerten sie ihre Kinder. »Mommy, hast du uns etwas mitgebracht?«
Florence zog die Salmiakbonbons aus dem Beutel. Die restliche Fahrt über den Pirnaischen Platz bis hin zur Elbe war sie durch Henry und Minnie abgelenkt und verscheuchte alle Gedanken an Unwohlsein und Mattigkeit. Als sie dann am Flussufer entlangspazierten, kam ihr der Besuch von Dr. Zumpe immer befremdlicher vor. Hier, in der Sonne inmitten vieler anderer Mütter und Kindermädchen, zwischen Flaneuren und spielenden Kindern, fühlte sie sich ganz lebendig. Von Abgeschlagenheit keine Spur. Auch im Belvedere auf der Brühl’schen Terrasse ließ sie sich von der lebhaften Stimmung ringsherum anstecken. Das große Café mit seiner unvergleichlichen Aussicht auf die Elbe hatte vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr die Terrasse geöffnet. Und beinahe jeder Tisch war besetzt. Florence hielt den Schirm schräg, um nicht von der Sonne geblendet zu werden auf der Suche nach einem freien Platz, als Minnie sich losriss und davonrannte. Ihr Bruder stürzte hinterher. Der Kies spritzte zur Seite, bis die Kinder völlig außer Atem drei leere Stühle eroberten.
Eine ältere Dame hob ihre Stielbrille an die Augen und starrte zu Florence und ihren ausgelassenen Kindern. »Typisch, diese Yankees. Glauben wohl, überall ist der Wilde Westen!« Die Frau schüttelte den Kopf.
Ihre Begleiterin nickte und schluckte schnell das Stückchen Kuchen hinunter: »Ja, da haben Sie etwas Wahres gesagt. Aber die Stadt ist ja voll von Amerikanern. Und von Engländern. Man hört es überall. Dabei heißt es immer, diese Leute kommen zu uns, um Deutsch zu lernen. Wenigstens sollten sie Benimm lernen.« Zur Bekräftigung klopfte sie mit der Kuchengabel auf ihren leeren Teller.
Ihre Freundin sah sie verwundert an. »Tischmanieren?«, fragte sie gedehnt.
Die andere legte schnell die Gabel zur Seite und tupfte sich den Mund ab. »Jaja, auch Tischmanieren …«, murmelte sie und wechselte schnell das Thema.
Florence bemerkte das Missfallen am Nachbartisch. Sie lächelte den beiden alten Dresdnerinnen versöhnlich zu, die dies mit gekräuselten Lippen erwiderten. Florence zuckte mit den Achseln. Sie wollte die Zeit mit ihren Kindern genießen. Sie waren unter sich. Keine Kinderfrau. Kein schlecht gelaunter Ehemann, keine Schwiegermutter. Es war herrlich! Die Kinder durften so viel Kuchen essen und Kakao bestellen, bis sie nicht mehr konnten. Auch Florence musste den Teller mit dem halb aufgegessenen Stück Marzipantorte zur Seite stellen.
»Jetzt sind wir alle kugelrund! Da hilft nur ein kleiner Spaziergang.« Sie strich über Minnies Wange und wischte einen Krümel aus dem Kindergesicht. Das Leben war auf einmal leicht. Florence gab Henry einen Kuss auf die Stirn, während sich Minnie an ihrem Bein festhielt. »Wir müssen nach Hause, leider. Aber wir steigen in der Prager Straße aus, versprochen. Und dann schauen wir noch bei Hempels vorbei, und ihr dürft euch etwas aussuchen!«
Minnie jubelte bei der Aussicht auf noch mehr Süßigkeiten an diesem Nachmittag. Und Henry zeigte auf den nächstgelegenen Droschkenstand. »Wenn wir zur Konditorei fahren, dann sollten wir sofort aufbrechen!«, übernahm er das Kommando.
Wenig später rollten sie durch die breite Einkaufsstraße, um vor Hempels Konditorei zum Stehen zu kommen. Dort kauften sie reichlich Schokolade und Marzipan.
»Den Rest machen wir zu Fuß. Jetzt ist es nicht mehr weit«, rief Florence, und die drei setzten ihren Weg fort.
»Nanu, woher kommt ihr denn? Wollt ihr einfach grußlos an mir vorüberziehen?« Die Stimme gehörte Antoinette de Meli. Und sie klang nicht freundlich. Florence hatte ihre Schwiegermutter gar nicht erkannt unter dem Sonnenschirm, mit dem sie ihr Gesicht verbarg. Mit einem Schlag war die Unbekümmertheit dahin.
Während Minnie sich aus ihrer Hand löste und auf die Großmutter zusprang, blieb Florence verhalten: »Das ist eine Überraschung. Ich habe dich tatsächlich nicht gesehen. Die Sonne blendet so.«
»Ach, komm nur her, kleine Minnetta! Du hast mich gleich gesehen, nicht einfach ignoriert wie deine Mutter!«
»Antoinette, das stimmt nicht, wir kommen doch gerade aus Hempels Konditorei. Wir waren einkaufen«, versuchte es Florence.
»Das sehe ich.« Antoinette deutete auf die prall gefüllte Papiertüte mit dem verschnörkelten Emblem der Konditorei. »Ihr habt alles gekauft, was euch gefiel, was, Kinder?« Es klang boshaft.
Henry nickte eingeschüchtert. Minnie legte den Kopf schief. »Granny, nicht böse sein!«
Antoinette tätschelte ihre Wange. »Nein, mein Kind, mit euch bin ich nicht böse. Ihr seid doch noch viel zu jung.« Sie sprach liebevoll zu dem Mädchen. Florence atmete innerlich auf. Minnie hatte einen ganz besonderen Zugang zu der alten Dame. Gott sei Dank! Doch Antoinette de Meli war noch nicht fertig. »Florence, du verwöhnst die Kinder viel zu sehr. Was soll das? Sie werden verweichlicht, schau dir nur deinen Sohn an!«, sagte sie mit schneidender Stimme.
Florence wurde rot vor Wut. »Schwiegermama, ich glaube nicht, dass wir das hier besprechen sollten.« Sie wollte weitergehen.
Doch Antoinette hielt ihren Arm fest. »Einen Moment noch.«
Florence wand sich aus dem Griff. »Kinder, geht langsam weiter. Bis zur Ecke da vorn. Großmama und ich haben noch etwas zu besprechen.«
Die Kinder gehorchten.
»Da man dich zu Hause nicht antrifft, müssen wir uns wohl hier einmal kurz unterhalten«, fing Antoinette an.
»Ich war zu Hause. Und ich hatte dich auch noch gesucht im Salon und im Esszimmer. Aber du warst schon fort. Ich wusste nicht…«, erwiderte Florence.
Antoinette schnitt ihr das Wort ab. »Es tut nichts zur Sache. Etwas anderes beschäftigt mich sehr viel mehr als das, was du weißt oder nicht weißt.«
Florence stand mit offenem Mund da. Antoinette war von Anfang an entschieden gegen ihre Verbindung mit Henri gewesen. Und das Verhältnis zwischen den beiden Frauen war über die Jahre immer frostiger geworden. Ihre Schwiegermutter machte ihr Angst. Antoinette de Meli machte einigen Menschen Angst. Ihrem Sohn. Ihrer Tochter. Und auch ihr verstorbener Ehemann hatte sich vor ihrem scharfen Verstand und ihrem noch schärferen Urteil gefürchtet.
»Florence, ich verabscheue deine Verschwendungssucht! Heute beim Konditor, morgen beim Schneider, übermorgen beim Blumenhändler. Von überallher kommen Rechnungen für Dinge, die du kaufst. Hast du dir jemals Gedanken gemacht, woher das ganze Geld stammt, das du hier mit vollen Händen ausgibst?«
Florence schwieg. Sie kannte diese Argumente schon.
»Ich will es dir sagen. Das Geld kommt von Henri. Von unserer Familie. Hörst du? Von unserer Familie. Und wenn du es ganz genau wissen willst, das Vermögen, das dir ein so schönes Leben beschert, stammt von meinem Vater. Du hast gar nichts mit in die Ehe gebracht. Außer Unglück! Ohne uns wärst du eine Bettlerin. Deine Eltern hatten nichts!«, ihre Stimme war lauter geworden.
»Lass meine Eltern aus dem Spiel. Sie waren sehr anständige Menschen.« Florence schluckte bei dem Gedanken an ihre tote Mutter, die sie in deren letzten Tagen nicht mehr besuchen durfte – weil Antoinette und Henri es ihr verboten hatten. »Du hast kein Herz! Und nun lass mich in Ruhe mit deinen ewigen Vorhaltungen.«
»Ich denke gar nicht daran. Du bringst meinen Jungen noch um. Merkst du denn gar nicht, wie unglücklich er mit dir ist? Ich habe es von Anfang an gewusst – du bist nichts als eine kleine Erbschleicherin. Hast ihm schöne Augen gemacht, ein Kind angedreht, um ihn dann heiraten zu können. Genau das war dein Plan!«, redete sich die alte Frau weiter in Rage.
»Mir reichen deine Unverschämtheiten!« Florence starrte sie wütend an.
»Du brauchst dich hier gar nicht so aufzuführen, meine liebe Florence. Jetzt schreist du hier herum. Dann heißt es wieder, du seist unpässlich und am nächsten Tag blamierst du Henri mit deinem kindischen Verhalten und trällerst auf Gesellschaften wie ein Vögelchen. Da ist ja Minnie schon reifer …«
Florence stieß die Luft aus. »Ich gehe jetzt«, sagte sie mit bebender Stimme. »Die Kinder stehen da vorn und warten auf mich.« Sie zeigte zur Straßenecke, die weit genug entfernt war, sodass Minnie und Henry nicht jedes Wort verstehen konnten.
»Ja, geh nur zu deinen Kindern, Florence. Solange du noch kannst.« Die alte Frau nestelte wütend an ihrem Beutel.
Florence blieb stehen und drehte sich langsam um. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, warf ihre Schwiegermutter ihr ein paar deutsche Münzen vor die Füße und schrie: »Hier, du Bettlerin, noch mehr von meinem Geld!« Die Münzen rollten über den Gehweg.
Fassungslos schüttelte Florence den Kopf. »Du bist krank, Antoinette«, war alles, was sie herausbrachte.
»Wenn hier jemand krank ist, dann du, Florence Draper! Man muss die Kinder schützen vor dir! Du gehörst in eine Anstalt.« Jetzt war es heraus. Antoinette de Meli reckte das Kinn in die Höhe und sah sie verächtlich an. »Ich habe schon mit Henri gesprochen, er sagt auch, dass du besser in einem Heim aufgehoben wärst.«
Florence sah ihre Schwiegermutter ungläubig an. »Was hast du gesagt?«
»Du hast ganz richtig gehört. Und eines merk dir, meine liebe Flossie«, und ihre Stimme klang vernichtend, »das kann schneller gehen, als man meint …«
»Du weißt doch gar nicht, was du da redest. Dir bekommt die Sonne nicht«, war alles, was Florence herausbrachte. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Sie wollten sie abschieben! In eine Irrenanstalt! Florence lief zu ihren Kindern. Sie weinte vor Wut.
»Mommy, warum habt ihr euch gestritten, Granny und du? Und warum schmeißt Grandma Geld auf die Straße?« Minnies Hand hinterließ einen Fleck auf Florence’ Handschuh. Irritiert betrachtete Florence den orangefarbenen Punkt auf der gelben Seide. »Zeig mir einmal deine Hände! Was hast du da?« Ihre Stimme zitterte.
Minnie begann zu weinen. »Es hat so lange gedauert, da haben Henry und ich die roten Beeren abgepflückt. Adele hat mal gesagt, innen drin ist Juckpulver.« Das Mädchen zeigte auf die Heckenrosen, die hinter einem schmiedeeisernen Zaun wuchsen.
»Ach, Minnie …« Florence seufzte.
»Bist du jetzt böse mit mir? Henry hat auch mitgemacht!« Minnie zeigte auf ihren Bruder, der seine Hagebuttensammlung längst fallen gelassen hatte.
»Kinder«, Florence rang um Fassung. »Lasst uns schnell nach Hause gehen«, flüsterte sie. »Schnell.«
Als sie sich eine Stunde später für das Abendessen umzog, hatte sich Florence äußerlich beruhigt. Sie musste mit Henri reden. Wenn sie an die Begegnung auf der Straße zurückdachte, kehrte der Zorn zurück. Aber auch die Angst. Antoinette war eine beherrschte Frau. Dass sie sich so gehen ließ – auf offener Straße, wo sie jeder hätte sehen und hören können –, war untypisch. Aber vielleicht war es einfach aus ihr herausgeplatzt? Der ganze Plan? War deshalb Dr. Zumpe hier gewesen? Was steckte in dem braunen Tütchen? Florence betupfte nervös ihre Handgelenke mit Eau de Cologne. Im Spiegelbild sah sie eine hübsche junge Frau. Sah so eine Person aus, die in eine Anstalt gehörte? Henri würde diesen Unfug aufklären, dachte Florence und atmete tief durch. Dann ging sie ins Esszimmer.