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1. Die Schlangenfrau
ОглавлениеDresden, 20. Dezember 1875
Der Vorhang hob sich. Es roch nach Staub und Puder. Der rote Samtstoff war an einigen Stellen fleckig. Florence saß ganz vorn und unterdrückte ein nervöses Kichern. Tiere, wie aus einer längst untergegangenen Welt, so groß, dass sie ganze Kälber verschlingen – so hatte es auf den Plakaten gestanden. Beherrscht nur von einer zarten Frau, der Schlangenbändigerin Mademoiselle Laurent aus Paris. Der Victoria-Salon war jeden Abend ausverkauft. Florence presste den Fächer vor den Mund. »Henri, meinst du, die Schlangen können von der Bühne gleiten?«, wisperte sie ihrem Mann ins Ohr. Er schüttelte den Kopf und sah sie an. Sie konnte entzückend sein! Er drückte ihre Hand. Sie war kalt.
Die Bühne lag in vollkommener Dunkelheit. Nur das Gaslicht sorgte für einen schwachen Lichtkranz vor den Bühnenbrettern. Florence hörte, wie hinter ihr ein Opernglas aus dem Karton gezogen wurde. Sie genoss die Anspannung. Eine Schlangenbezauberin – hier in Dresden! Die Frau kam von einem Pariser Theater, dessen Name ihr nichts sagte: Folies-Bergère. Henri hatte anerkennend genickt, als er es gelesen hatte. Florence starrte auf die Bühne. Sie konnte die Umrisse von vier ausladenden Körben erkennen. Leise begann eine Männerstimme zu singen. Ein klagendes Lied in einer Sprache, die Florence nicht verstand. Der Mann verstummte. Jetzt hörte sie eine Flöte. Auf Florence’ Unterarmen stellten sich die Härchen auf. Eine Trommel ertönte in einem halblauten, gleichförmigen Rhythmus. Stille. Zwei dunkelhäutige Männer, bekleidet nur mit weiten Serail-Hosen und einem Turban auf dem Kopf, betraten die Bühne. In den Händen hielten sie rußende Fackeln, die sie in schwere, gusseiserne Halterungen an den Seiten steckten. Gebannt starrte Florence auf die Männer, die wieder zu ihren Instrumenten griffen. Im Hintergrund erkannte sie das Bühnenbild – eine Art Urwald mit exotischen Schlingpflanzen und Palmen. Man hörte ein Knacken aus einem der Körbe, er schwankte ein wenig. Florence stieß die Luft aus.
Die Trommelschläge wurden schneller. In ihrem Rhythmus tanzte eine Frau in einem durchsichtigen, enganliegenden Kleid auf die Bühnenmitte zu. Sie hatte ihre dunkelblonden Haare in große Locken gelegt, die von einem bunten Tuch am Hinterkopf zusammengehalten wurden. Darunter ergoss sich noch mehr Haar, beinahe bis zur Taille hinab. Die Frau erhob ihre weichen, weißen Arme wie zu einem Gebet. In den Händen hielt sie ein Tamburin. Der Ausschnitt ihres Kostüms war gewagt. Die üppig dargebotene Weiblichkeit verdarb Florence die Stimmung. Die Schlangenbeschwörerin klopfte gegen das Tamburin und schloss die Augen. Sie war stark geschminkt. Am Hals trug sie ein schwarzes Samtband, an dem ein Kruzifix hing. Wie geschmacklos!, dachte Florence streng und blickte zu Henri hinüber. Ihr Mann starrte auf die Bühne. Die Frau machte ein paar weitere Tanzschritte, dann verstummte die Musik, und sie verbeugte sich. Henri klatsche begeistert. Florence runzelte die Stirn.
Sie nestelte an ihrem Fächer. »Ich dachte, das ist eine Tier-Schau«, flüsterte sie ärgerlich und beobachtete, wie die Frau auf der Bühne sich an einem der Körbe zu schaffen machte. Sie sah, wie die Frau unter sichtbarer Anstrengung einen Schlangenkörper hervorzog. Die dunkelhäutigen Männer halfen ihr, das massige Tier aus dem Korb zu heben. Florence hielt die Luft an. Der dunkelgrüne Leib mit dem braunen Muster wollte kein Ende nehmen. Zwei Meter? Drei Meter? Vorsichtig legten die Männer die Schlange auf die Schultern der Frau. Wie eine teure Zobelstola hielt sie das Tier, nahm die Enden und breitete die Arme aus. Florence sah, dass die Frau trotz der dicken Puderschicht Schweißperlen auf der Nase hatte. War die Schlange so schwer? Oder schwitzte sie vor Angst? Florence griff wieder nach Henris Hand. Und dann schritt die Dompteurin doch tatsächlich die Bühne ab. Ganz nahe kam sie. Das Gaslicht von unten ließ sie gespenstisch aussehen. Die Schlange wirkte noch riesiger, als sie es ohnehin war. Florence zuckte zurück.
Henri zwinkerte der Schlangenfrau zu und nickte unauffällig in Florence’ Richtung. Die Tierbändigerin zeigte keine Regung, doch dann machte sie einen kleinen Knicks direkt vor Florence und ließ die Schlange in ihrer rechten Hand hinabgleiten. Der Schlangenkopf hing keinen Meter entfernt vor Florence’ Gesicht. Sie schrie auf und presste sich an die Rückenlehne. Das Tier baumelte vor ihr. Florence konnte die Augen erkennen und sah das schuppige Muster der Haut. »Henri! Hilfe! Sie soll die Schlange fortnehmen!«, schrie sie voller Abscheu. Selbst die Sitznachbarn waren erschrocken aufgesprungen. Man hörte spitze Schreien, ein Raunen. Und ein Lachen. Ein lautes Männerlachen. Es kam von Henri. Er machte eine lässige Handbewegung. Nun ist es gut, schien seine Hand zu sagen. Mit einer tiefen Verbeugung zog sich die Frau wieder zurück in die Bühnenmitte.
Florence’ Herz klopfte wie verrückt. Tief sog sie den Duft aus dem Riechfläschchen ein. Die Angst verging. Jetzt kam die Wut. »Wie konntest du das zulassen?«, zischte sie in Henris Richtung. »Dieses widerliche Tier? Diese unmögliche Frau! Fast nackt auf der Bühne!«
Henri lächelte und wollte ihre Hand tätscheln.
»Nimm die Finger weg! Du hast mir den Abend verdorben. Und das so kurz vor Weihnachten.« Sie versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken.
»Nun beruhige dich, Darling. Ein kleiner Spaß. Es ist doch nichts passiert. Mach bitte keine Szene. Das ist doch lachhaft!«
»Ich gehe gleich nach Hause. Dann kannst du dir die nackte Französin mit ihren fürchterlichen Schlangen allein ansehen.« Florence wischte sich eine Träne aus den Augen.
Hinter ihnen war Gemurmel zu hören. »Ruhe da vorn!« – »Psst!«
Unsicher strich sich Henri über den Kopf und ordnete sein Haar. Die kahle Stelle am Hinterkopf wurde seit Monaten größer. Florence guckte starr geradeaus.
In der Pause standen Florence und Henri umringt von Freunden und Bekannten aus der amerikanischen Kolonie im Foyer. Florence trank bereits ihr zweites Glas Champagner.
»Wie konntest du das nur aushalten, liebe Flo? Ich wäre direkt in Ohnmacht gefallen«, staunte Minna von Funcke.
»Sehr tapfer. Sehr tapfer!« Anerkennend tätschelte Dr. Jenkins, der bekannte Zahnarzt in Dresden, Florence’ Arm. Er zwinkerte in Henris Richtung. »Deine kleine Frau so zu erschrecken …«
Henri prostete ihm zu. »Ein kleiner Spaß.« Er zog genüsslich an seiner Zigarre. »In den Armen dieser Dame aus Paris wäre ich auch gern eine Schlange …«
Newell Sill Jenkins lachte, dann zog er Henri beiseite und wurde leise. »Die Dame ist mir anvertraut worden. Kein Scherz. Mein Kollege Dr. Evans aus Paris hatte mir geschrieben, dass ich mich um sie kümmern solle, hier in Dresden. Das Fräulein ist … wie sag ich es am besten? Also, sie ist seine Geliebte. Evans sagt, Méry – so heißt sie – sei sehr kultiviert …« Er räusperte sich und sah sich um. Die beiden Männer standen an die Wand gelehnt, während Florence sich ein paar Meter entfernt mit Clara, der Ehefrau von Jenkins, und ihrer Freundin Minna unterhielt.
Henri blickte einem Rauchkringel seiner Zigarre nach. »Aber warum muss sie dann als Schlangenfrau auftreten?«
»Sie ist wohl von Haus aus Schauspielerin und Tänzerin und liebt es, auf der Bühne zu stehen. Das hat mir Evans geschrieben.« Der zweite Gong ertönte. Die Pause ging zu Ende.
»Auf den Plakaten stand, sie kommt vom Folies-Bergère«, erwiderte Henri. »Man hört viel von diesem Theater! Da treten die schönsten Frauen auf. Sieht man ja.«
Jenkins seufzte. »Aber wir sind hier in Dresden. Nach der Schau bitten wir die Dame auf ein Glas Champagner in eine Weinstube, schicken unsere Frauen nach Hause und sagen, dass wir zwei noch etwas zu besprechen hätten.«
Henri nickte und strich über seinen schwarzen Vollbart.
Die beiden Männer schlenderten zurück.
»Na, was habt ihr zwei da ausgeheckt?« Clara Jenkins zog eine Augenbraue in die Höhe.
»Gar nichts, mein Darling. Aber Henri und ich müssen noch etwas besprechen. Wir wollen uns nach der Vorstellung kurz zusammensetzen. Dann nimmst du dir mit Florence eine Droschke, und ihr fahrt schon einmal nach Hause.«
Florence drehte sich um. »Nein, Henri soll mit mir kommen. Sonst wird es wieder so spät. Und dann trinkst du so viel.« Sie hakte sich bei ihrem Mann ein.
»Flossie, bitte überlass das mir!« Henris Stimme klang streng.
»Es geht um die Sache mit dem Ehepaar Thomas«, sprang ihm Newell Jenkins bei.
Florence blieb stehen. »Cecelia? Die Arme kann sich nirgends mehr blicken lassen.«
»Na, arm dran sind doch wohl eher die vielen Toten und Verwundeten, die ihr Mann auf dem Gewissen hat«, sagte Henri.
»Ja, grauenhaft. Man macht sich gar keine Vorstellung«, murmelte Florence. »Aber Cecelia bleibt meine Freundin. Sie kann nichts dafür, dass ihr Mann ein solcher Schuft ist und so viele Menschen mit seinem Bombenfass in den Tod gerissen hat.«
»Das müssen wir hier nicht klären. William King Thomas hat mit seiner Tat ein ganz schlechtes Licht auf uns alle hier geworfen. Die gesamte amerikanische Kolonie in Dresden muss nun ausbaden, was sich dieser Bösewicht ausgedacht hat«, erwiderte Henri und seine Stimme wurde lauter: »Da müssen wir uns positionieren. Als Amerikaner in dieser schönen Stadt. Sonst stehen wir alle unter Generalverdacht, so wie man es in den vergangenen Tagen schon in den Zeitungen nachlesen konnte. Jedenfalls wollen Newell und ich gleich noch überlegen, was wir als amerikanische Gäste in Deutschland machen können, um zu zeigen, dass wir alles andere als Schwerverbrecher und Massenmörder sind.«
Die Paare trennten sich und gingen zurück in den Saal.
Die traurige Flöte setzte ein. Und die Trommel.
Die Schlangenbeschwörerin trat langsam in die Mitte der Bühne. Dieses Mal bestand ihr Kostüm aus einem grobmaschigen Netz – verziert mit funkelnden, hellgrünen Steinchen und einer Haube auf dem Kopf aus lauter glitzernden Perlen. Florence schnappte nach Luft. In ihren Schläfen klopfte es. Das war nicht der Champagner, das war diese unmögliche Frau mit ihren widerlichen Schlangen. Sie fühlte, wie eine Migräne herannahte. Wie eine von diesen Riesenschlangen, dachte sie und betupfte ihre Stirn mit etwas Pfefferminzöl. Henri bekam davon nichts mit. Seine Augen waren fest auf die Tierbändigerin gerichtet. Er bewunderte den unbekannten Zahnarzt in Paris, der sich eine solche Geliebte leisten konnte.
Es schneite. Die meisten Droschken vor dem Varieté-Theater in der Waisenhausstraße hatten sich schon in Bewegung gesetzt. »Henri, es wäre mir wirklich lieber, du würdest mit mir kommen. Sieh doch nur, wie es schneit.« Florence hakte sich bei Ihrem Mann unter.
Clara Jenkins steckte ihre Hände vorsorglich in den Pelzmuff. »Newell, ich bin ganz Florrys Meinung. Ich weiß nicht, was es Bedeutendes gibt, dass ihr unbedingt heute zu später Stunde noch besprechen müsst. Vertagt es! Lass uns aufbrechen!« Sie sah ihn streng an.
Newell Jenkins wischte über den Rand seines Zylinders. Er seufzte. »Ihr habt ja recht. Es ist nur so …«, er warf Henri einen zerknirschten Blick zu. »Wir müssen uns um jemanden kümmern.« Und er erzählte von der Bitte seines Kollegen aus Paris, sich der schönen Schlangenfrau anzunehmen.
Florence war mit einem Schlag hellwach. Ihr Kopf dröhnte noch immer. Jetzt wollten sich die beiden Männer doch allen Ernstes mit dieser Halbwelt-Dame durch Dresden schlagen. Auch Clara Jenkins schlug die Hand vor den Mund. »Newell. Ich bin entsetzt!«
Der Zahnarzt war zerknirscht. »Aber was soll ich denn tun? Thomas Evans hat mich ins Vertrauen gezogen. Ich kann ihn nicht enttäuschen. Er ist in Paris eine absolute Instanz, was zahnmedizinische Belange angeht. Er behandelt die Zarenfamilie, den bayerischen König und andere gekrönte Häupter in ganz Europa. Clara, vielleicht öffnet er auch mir die Tür zu solch hochkarätigen Patienten.«
Clara schüttelte den Kopf: »Bei dir sperrt die gesamte sächsische Königsfamilie den Mund auf. Reicht das nicht?«
»Pscht. Nachher hört uns noch jemand! Es ist sozusagen eine kollegiale Anfrage. Man muss da gar nichts hineingeheimnissen.«
»Mit einem so prominenten Kollegen sollte man es sich nicht verscherzen«, sprang ihm Henri bei, der darauf hoffte, den Abend in französischer Gesellschaft fortsetzen zu können.
Die Runde schwieg betreten. Florence fröstelte. Sie überlegte. Natürlich war die Heimlichtuerei der Männer empörend, gleichzeitig war sie neugierig, einen Blick in eine gänzlich verbotene Welt zu werfen. Sie räusperte sich. »Henri, Newell, ich habe einen Vorschlag zur Güte. Solange die Dame ihre Schlangen nicht dabeihat und sich etwas mehr überwirft als auf der Bühne, könntet ihr doch in den Rats-Weinkeller gehen. Und um euren Ruf nicht in Misskredit zu bringen, werden Clara und ich euch begleiten.«
Clara Jenkins warf einen überraschten Blick auf ihre Freundin. »Mit diesem Vorschlag kann ich mich einverstanden erklären«, sagte sie dann etwas förmlich.
Die Herren sahen einander an. Der Abend nahm eine unerwartete Wendung. Jetzt waren sie unter der Aufsicht ihrer Ehefrauen. Henri musterte Florence ärgerlich.
Doch die lächelte. Ihre Kopfschmerzen schienen nachzulassen. »Wie gut, dass meine Eltern immer Wert auf französische Konversation gelegt haben. Das wird sich jetzt hoffentlich bezahlt machen.« Sie strahlte Henri an. »Wo bleibt die Schlangendame?«
Und tatsächlich dauerte es nur ein paar Minuten, bis eine ganz und gar in Fuchspelz gehüllte Schönheit suchend durchs Foyer kam. Newell Jenkins eilte zu ihr und geleitete sie zu der Runde. Mit einem freundlichen Nicken stellte sie sich vor: Méry Laurent sei ihr Name. Sie lächelte charmant. Ihre Stimme war angenehm, etwas tiefer als die der meisten Frauen. Noch immer trug sie Schminke im Gesicht. Aber nicht mehr in so auffälligen Farben wie eben noch auf der Bühne. Sie wirkte jünger als während der Vorführung und gleichzeitig sehr erwachsen, dachte Florence, die es aufregend fand, einer solchen Frau gegenüberzutreten. Clara Jenkins blieb zurückhaltend, wenngleich sie sofort ins Französische wechselte, um dem Besuch aus Paris die Beklommenheit zu nehmen.
Henri de Meli ließ Méry kaum aus den Augen. Doch seine Französischkenntnisse waren bescheiden. Bis auf ein paar Höflichkeitsfloskeln konnte er wenig zur Unterhaltung beisteuern. Ganz anders Florence. Sie verlor die Scheu vor der eleganten Zahnarzt-Geliebten und ließ sich berichten vom Salon der Méry Laurent, in dem Dichter und auch Maler verkehrten. Sie wolle damit eine Stätte schaffen, erklärte die Französin, wo sich die verschiedenen künstlerischen Bereiche gegenseitig befruchten könnten. Ab und zu sei sie selbst noch auf Tournee. Doch sie würde zunehmend in Paris verlangt.
»Von Mr. Evans, nehme ich an«, bemerkte Clara Jenkins knapp.
Méry Laurent lächelte und warf ihre Locken zurück. »Ja, was wäre ich ohne Thomas?«, antwortete sie. »Er ist ein wahrer Gentleman. Und ein großartiger Arzt! Wussten Sie, dass er seit Neuestem die russische Zarenfamilie behandelt?«
Newell Jenkins nickte beeindruckt. »Ein herausragender Kollege. In jeder Hinsicht.«
Henri saß schweigend vor einem großen Krug Bier. Als er versuchte, die Runde zu einem deutschen Schnaps zu überreden, blieb er erfolglos. So trank er das Kirschwasser allein.
»Stört es Sie, wenn ich rauche?«, fragte Méry.
Clara Jenkins hüstelte, wurde aber überhört. Florence begann in ihrem Beutel nach ihrer eigenen Zigarettenspitze zu suchen. Wenn diese Dame rauchte, durfte sie es ebenfalls.
Henri beobachtete sie. »Muss das sein?«
»Ja, eine Zigarette wirst du mir doch wohl gönnen?«
»Hattest du nicht vorhin noch über Migräne geklagt?«
»Die Kopfschmerzen sind abgeklungen. Ich denke, es war der Schreck wegen der Schlange vor meinem Gesicht«, entgegnete sie schnippisch.
»Dank Thomas verstehe ich ein bisschen Englisch. Ich muss mich vielmals entschuldigen«, sagte Méry und legte eine Hand auf Florence’ Arm. Ein prächtiger Diamant funkelte mit dem passenden Armband um die Wette. »Es tut mir so leid. Das wollte ich nicht. Ihr Mann hatte so eine kleine Andeutung gemacht, und ich dachte mir nichts dabei!«
Florence lachte auf. »Ach, eigentlich ist es eine tolle Geschichte. Die kann ich morgen meinem Sohn erzählen. Aug in Aug mit einer Riesenschlange!« Sie zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch aus.
Henri verzog das Gesicht.
»Gaunerchen, nun guck nicht so böse. Unser Gast raucht schließlich auch!«
Henri schwieg und bestellte eine weitere Runde.
Es ging auf Mitternacht zu. Clara drängte zum Aufbruch. Méry Laurent schien ebenfalls müde zu werden. »Leider fahre ich morgen schon weiter. Wir haben noch einen Auftritt in Berlin. Dann geht es zurück nach Paris«, erzählte sie und sah Florence aufmerksam an. »Sind Sie manchmal in Paris?«
Florence schüttelte den Kopf. »Ich war nur ein einziges Mal dort. Aber das ist schon lange her. Mit meinen Eltern.«
»Dann sollten Sie wiederkommen. Hier ist meine Karte. Bitte besuchen Sie mich doch, wenn Sie einmal da sind!«
Florence blickte auf das cremefarbene Papier. »52, Rue de Rome, Paris«, las sie und verstaute die Karte in ihrem Beutel. »Wer weiß? Vielleicht machen wir einmal eine schöne Reise nach Paris, was, Henri?«
Henri de Meli hob langsam den Kopf. Eine Haarsträhne hatte sich gelöst und klebte an seiner Stirn.
»Gaunerchen, was ist mit dir?« Florence sah ihn erschrocken an.
»Nichts. Nichts. Au revoir! Es war mir ein Vergnügen«, er beugte sich zu Méry Laurent und wollte ihr einen Handkuss geben, dabei geriet er ins Schwanken.
Schnell griff ihm Jenkins unter den Arm. »Na, das waren wohl doch ein paar Gläser zu viel, alter Junge.«
Henri schnaufte.
Als Florence und Henri die Treppenstufen zu ihrer Wohnung in den zweiten Stock der Lüttichaustraße 10 hinaufgingen, musste Florence ihren Mann stützen, weil er so betrunken war. Vor der Wohnungstür angekommen, suchte er nach dem Schlüssel.
»Jetzt sei still, du weckst noch alle auf!« Florence versuchte, ihm den Schlüssel abzunehmen und selbst aufzuschließen.
Henri stieß die Luft aus. »Ich bin der Herr im Haus. Nur weil du ein bisschen Französisch parlieren kannst, brauchst du dich hier nicht aufzuspielen! Und als Frau de Meli mit einer Dame aus der Halbwelt am Tisch zu sitzen und zu rauchen! Wenn ich das am Sonntag nach der Kirche meiner Mutter erzähle…«, sagte er mit schwerer Zunge.
Florence schnaubte empört und wollte sich an ihm vorbeidrängen.
»Nichts da! Du lässt gefälligst deinem Mann den Vortritt!« Er schob sie taumelnd zur Seite.
Florence stolperte. Ihr Beutel fiel zu Boden. Die Visitenkarte aus Paris glitt heraus. Vorsichtig hob sie das Kärtchen auf. Erst jetzt bemerkte sie die kleine, zusammengerollte Schlange auf der Rückseite. Die winzigen Schlangenaugen schienen zu glühen. Florence strich über das geprägte Papier. Diese Karte würde sie aufbewahren.