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Fremdgefühle
ОглавлениеSchon während wir im Bauch unserer Mutter wachsen, bei unserer Geburt, als Säugling und in der frühen Kindheit übernehmen wir Gefühle von Personen in unserer Umgebung. Zu dieser Zeit sind wir als fühlende Wesen noch vollkommen offen, und alle Eindrücke von außen dringen ungefiltert in uns ein. Wir spüren es, wenn unsere Mutter unsicher ist und wenn sie Angst, Gewalt, Leid und Kummer erfährt. Jede Depression oder Enttäuschung in ihrer Beziehung zu unserem Vater wirken sich auf uns aus. Und stellen Sie sich vor, wie sich ein Embryo oder Säugling fühlen muss, wenn die Mutter ihr Kind, sich selbst oder das Leben insgesamt ablehnt und Selbstmordversuche unternimmt. Das Kind erleidet dabei Todesangst. Es kann nicht flüchten oder kämpfen. Seine Chance besteht nur darin, aus großer Liebe und dem Wunsch zu leben heraus Gefühle der Mutter zu übernehmen. In der Hoffnung, sich Liebe und einen Platz im Leben zu verdienen, ist es bereit, all das Leid zu seinen eigenen Gefühlen zu machen. Es kennt sich dann nur mit diesen Gefühlen, diese sind ihm vertraut, und es fällt später oft schwer, sie wieder zu ihrem Ursprung zurückzugeben. Wenn ein Kind zu wenig von seinen Eltern hat, hält es oft lieber an diesen Fremdgefühlen fest, da sie ein zu großes Loch hinterlassen würden.
Da wir in einem verzweigten Familiensystem stehen, übernehmen wir beispielsweise auch Gefühle und Traumata von Großmüttern oder Großvätern, denen vielleicht Schreckliches im Krieg oder auf der Flucht widerfuhr, oder von anderen Personen aus dem System.
EIN FALLBEISPIEL FÜR FREMDGEFÜHLE
Der Vater einer Klientin war im Krieg acht Jahre alt und lebte auf einer Art Bauernhof. Eines Tages kamen Soldaten und forderten Tabak. Sie stellten den Großvater der Klientin, ihren Vater und dessen Zwillingsbruder ans Scheunentor und schossen einfach los. Der Vater der Klientin, der nicht getroffen wurde, ließ sich mit den beiden anderen umfallen und konnte später flüchten. Nach Tagen fand ihn eine Bäuerin halb erfroren. Sie taute seine Füße in Kuhdung wieder auf. Gemeinsam fuhren sie mit einem Holzkarren zu dem Gehöft. Sein Vater und Zwillingsbruder lagen noch genauso da, und er half der Frau, die beiden Toten auf den Karren zu laden.
Was macht ein achtjähriges Kind mit solch einem traumatischen Erlebnis? Wie kann es diesen Schock verarbeiten? Der Schmerz wird zur Seite gestellt, denn er ist einfach zu überwältigend. Die Tochter spürt später natürlich diesen Schmerz des Vaters und übernimmt ihn zum Teil.
Mehr dazu, wie wir solche Fremdgefühle zurückgeben und heilen können, erfahren Sie in Kapitel 5 über das wunderbare Potenzial der Aufstellungsarbeit. Ich wünschte mir von Herzen, dass dieser tiefere Umgang mit Gefühlen schon ein Thema in der Schule wäre. Kinder könnten lernen, wo Gefühle ihren Ursprung haben, und sie könnten verstehen, dass viele davon auf früheren Erfahrungen beruhen. Wir alle sind mit unserer Geschichte verbunden, und der Verstand hat die schmerzlichen Erfahrungen abgespeichert wie in einem Aktenordner und will uns davor schützen, sie noch einmal zu machen. Doch genau das passiert immer wieder, da die alten Energien noch in uns schwingen. Vielen von uns gelingt es auch nicht, Handlungen von Personen zu trennen. Wir machen andere für unsere erlittenen Verletzungen verantwortlich. Doch die anderen zeigen uns nur ihre eigenen und unsere Wunden.
Wahres Fühlen ist ohne Story, Emotionen sind mit Story. Es ist in unserem seelischen Heilungsprozess sehr wichtig, Gefühle zu spüren und dennoch zu erkennen, dass wir nicht unsere Gefühle sind.