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Rückblende: Geschichtsgebrauch vor 1800
ОглавлениеDie 500-Jahr-Gedenkfeier war nicht der erste Anlass, der sich auf die Schlacht am Morgarten berief. Seit dem 16. Jahrhundert sind Schlachtjahrzeiten belegt. In der älteren Literatur wird angenommen, dass die Schlachtjahrzeiten wenige Jahre nach den kriegerischen Ereignissen erstmals durchgeführt worden seien und sich seither unverändert erhalten hätten.233 Meist wird auch davon ausgegangen, dass es sich bei den Schlachtjahrzeiten um typisches eidgenössisches und vor allem innerschweizerisches «Brauchtum» handle.234 Der Historiker Rainer Hugener führte diese Lehrmeinungen wesentlich auf den Einfluss der 1940 erschienenen Quellensammlung Das Schlachtjahrzeit der Eidgenossen nach den innerschweizerischen Jahrzeitbüchern des Klosterarchivars von Einsiedeln Rudolf Henggeler (1890–1971) zurück.235 So wie der Titel von «Das Schlachtjahrzeit» in Singular spricht, verstand Henggeler die Schlachtjahrzeit als singuläres, immer gleich bleibendes, religiöses «Volksbrauchtum». Schlachtjahrzeiten wurden jedoch im Spätmittelalter von benennbaren Akteuren aus bestimmten Anlässen und Absichten eingeführt. Die Obrigkeiten des Spätmittelalters hätten, so Rainer Hugener, die Schlachtjahrzeiten – «liturgische Feiern zum Andenken an bestimmte kriegerische Auseinandersetzungen»236 – angeordnet, um Niederlagen der spätmittelalterlichen Gegenwart zu bewältigen. Zum Beispiel sei das Gedenken an die Schlacht bei Sempach zuerst als Dankfeier für den Sieg gestaltet worden; den Gefallenen gedachte man erst nach der Niederlage von Arbedo 1422.237
Seit wann wurde der Gefallenen von Morgarten gedacht? In den frühesten Jahrzeitbüchern der Innerschweiz wurde die Schlacht nicht erwähnt, die Namen der Gefallenen waren folglich auch nicht überliefert.238 Eine entscheidende Rolle für das Schlachtjahrzeit von Morgarten spielte der Berner Chronist Konrad Justinger.239 Justinger verfasste ab 1420 im Auftrag der Berner Obrigkeit eine Chronik der Geschichte der Stadt Bern von deren Gründung bis in die Gegenwart des frühen 15. Jahrhunderts. In dem später Berner-Chronik genannten Werk brachte Justinger die Schlacht am Morgarten mit der Gründung der Eidgenossenschaft in Verbindung und etablierte einen Kanon der siegreichen eidgenössischen Schlachten, der mit Morgarten beginnt.240 Zudem zog Justinger Parallelen zwischen der Schlacht am Morgarten und zeitgenössischen Berner Kämpfen gegen die Habsburger. Weshalb gab Justinger Morgarten ein grosses Gewicht in seinem Geschichtsbild? Die Berner Regierung wünschte sich vermutlich auch deshalb eine Stadtgeschichte, um Berns Eroberung des Aargaus, seine antihabsburgische Politik und seine aktuelle Bündnispolitik zu legitimieren und zu bestärken.241 Morgarten 1315 und Aargau 1415 hätten mit der Chronik Justingers im Gedenkjahr 2015 als Zusammenhänge gedacht werden können.
Justingers Chronik diente dem Luzerner Melchior Russ als Vorlage für seine 1482–1488 verfasste Luzerner Chronik.242 Russ schrieb grössere Textteile aus Justingers Berner-Chronik ab. Unter anderem übernahm er Justingers Schlachtenkanon, nach dem Morgarten die erste in einem Kanon von «Freiheitsschlachten» gewesen sei, welche die Eidgenossenschaft begründeten.243 Das Urner Jahrzeitbuch aus den 1480/1490er-Jahren wiederum übernahm die Darstellung Morgartens von Justinger/Russ und nannte erstmals Namen von Gefallenen. Hugener zeigt, dass die Urner Verfasser des Jahrzeitbuchs tatsächlich aus Urkunden aus dem frühen 14. Jahrhundert «alt» wirkende Namen auswählten und dass einige der Namensträger auch nach 1315 noch am Leben waren. Als man die Namen der angeblichen Gefallenen niederschrieb, war man einerseits um eine Art historischer Authentizität besorgt, andererseits berücksichtigte man aktuelle Interessen. So bemühten sich herrschende Urner Familien wie die Beroldingen darum, einen ihrer Vorfahren in der Gefallenenliste unterzubringen, weil eine Beteiligung am ersten Freiheitskrieg als symbolisches Kapital der Nachfahren galt, wie Hugener argumentiert.244
Derselbe Vorgang wiederholte sich nach 1521 in Schwyz, wo etwa die Familie Schorno im Jahrzeitbuch festhalten liess, dass einer ihrer Vorfahren im hohen Alter bei der Schlacht am Morgarten geblendet worden sei.245 Die Erzählung des alten Mannes, der geblendet wird, ist ein bekanntes Motiv zur Darstellung der Grausamkeit und Willkür tyrannischer und illegitimer Herrscher und aus der Geschichte des Vaters von Arnold von Melchtal bekannt.246 Auch die Zuger liessen in den 1470er-Jahren – der Kontext war laut Hugener die Niederlage in der Schlacht von Arbedo – ein neues Jahrzeitbuch schreiben, worin Morgarten an erster Stelle aufgeführt ist. Verwandte Gefallene erwähnten sie aber nicht, weil diese auf der «falschen» Seite gefallen wären und nicht zur neuen Bündnispolitik passten. Die führenden Innerschweizer Familien zogen also Geschichte heran, um die aktuelle politische Ordnung und ihre Stellung darin zu rechtfertigen und somit zu festigen. Hugener nennt diese Form des um 1500 gängigen Geschichtsgebrauchs «Verlängerung der Vergangenheit»: Die eigene Geschichte werde «entlang einer fast kanonischen Reihe von Schlachten» imaginiert.247
1521 beschloss der Rat von Schwyz, der Schlacht am Morgarten am 11. November zu gedenken. Im Jahrzeitbuch waren im Jahr des Beschlusses noch keine Gefallenennamen von Morgarten enthalten, diese wurden erst später eingefügt. Laut Hugener war der Auslöser für diese Renaissance von Morgarten die Schlacht von Marignano 1515, bei der Tausende eidgenössische Söldner ums Leben kamen. Das Gedenken an die siegreiche Schlacht von 1315 sollte helfen, die Verluste und die Niederlage von Marignano zu verarbeiten.248
Die 1521 eingerichtete Schwyzer Schlachtjahrzeit konnte sich jedoch nicht etablieren, weil die Obrigkeit die Feier zwar verordnet, aber ihre Finanzierung nicht geregelt hatte.249 Die eidgenössischen Schlachtengedenkfeiern wurden vom Spätmittelalter bis zur Helvetik mehrmals an zeitgenössische Kontexte angepasst und entsprechend verändert.250 In den 1820er-Jahren, nach dem Ende der Helvetischen Republik, wurden die Schlachtjahrzeiten wiederbelebt und auf eine neue Art gefeiert. Dabei wurde an die Gedenktradition des Spätmittelalters angeknüpft, die religiösen Inhalte jedoch zu patriotischen Reden oder, nach Georg Kreis, zu Festen zivilreligiöser Art umgedeutet, in denen weniger der Toten als der siegreichen Tat gedacht wurde.251 Neben dem lokalen Publikum richteten sich die Gedenkfeiern des 19. Jahrhunderts auch an einen überregionalen, teilweise nationalen Einzugskreis von Zuschauern. Die Funktion dieser neuartigen Gedenkfeiern war es, das Nationalbewusstsein zu fördern.252
Die Schlachtjahrzeiten fanden bis in die 1940er-Jahre in der Pfarrkirche von Sattel statt, die angeblich auf eine Stiftung der Schwyzer im Gedenken an Morgarten gebaut worden sei.253 1940 verlegte man die Gedenkfeier neu zur Kapelle in der Schornen, der sogenannten Schlachtkapelle. Zur Geschichte dieser Kapelle gibt es nur lückenhafte Angaben. Laut Annina Michel wurde sie 1603 «neu gebaut», man hielt aber in einer Urkunde fest, dass es eine Vorgängerkapelle seit 1501 gegeben habe.254 Dies würde Hugeners These von einer Renaissance des Schlachtgedenkens nach Marignano 1515 widersprechen. In der Literatur wird aber nirgends erwähnt, ab wann die Kapelle «Schlachtkapelle» genannt und mit Fresken zur Schlacht versehen wurde – sie ist zugleich auch eine Jakobskapelle am Pilgerweg. Gonzague de Reynold behauptet, die Kapelle sei 1520 mit einem entsprechenden Wandbild bemalt worden, ohne die Quellen für diese Jahreszahl anzugeben.255