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Klassische Stelle Morgarten Heinrich Zschokkes Katalog der klassischen Stellen, 1836

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Mit der Formulierung «klassische Stellen» benutzten Johann Gottfried Ebel und Gerhard Anton von Halem einen Begriff, der 1836 vom Schriftsteller und Politiker Heinrich Zschokke eingeführt wurde. Zschokke hat ihn in seiner Publikation Die klassischen Stellen der Schweiz und deren Hauptorte in Originalansichten in den Titel aufgenommen – ein zweibändiges, mehrfach aufgelegtes Werk, das sich als Mischung von Bildband, Geschichtsbuch, Reisebericht und Reiseführer umschreiben lässt.137 Die von Zschokke ausgewählten und beschriebenen «klassischen Stellen» gelten seit Ebels Anleitung als etablierte Sehenswürdigkeiten der Schweiz.138 Wie wurde die klassische Stelle Morgarten visualisiert?

Das sechste Kapitel von Zschokkes Klassischen Stellen heisst Die Kapelle bei Morgarten und ist mit einem Stich illustriert. Er zeigt die Schlachtkapelle an der Schornen von Süden gesehen, mit einer Frau auf dem Strässchen, die einen Korb trägt, und weit im Hintergrund der Ägerisee und Berghänge.

Zschokke beschreibt den Standort der Schornenkapelle als Mitte zwischen zwei «Siegesfeldern».139 Die Schlacht am Morgarten von 1315 und der Kampf zwischen den Schwyzern und den Franzosen von 1798 werden in einem Atemzug nebeneinandergestellt: «Auf der Höhe, zwischen den beiden Siegesfeldern, steht neuerbaut nun die Schornen-Kapelle, ohnweit dem Morgarten und dem Rothenturm. Sie ist zugleich das Denkmahl der Faustrechtszeiten, vom XIII bis zum XIX Jahrhundert […].»140 Die Schornenkapelle ist die «klassische Stelle», an der sich gleich zwei kriegerische Ereignisse besuchen liessen. Indem Zschokke beide Ereignisse den «Faustrechtszeiten» zuordnet, schafft er einen gemeinsamen Rahmen: Die Wandbilder vergegenwärtigen die mittelalterliche Schlacht, und die Mauern des Turms – das Materielle, nicht die Ansicht des Turms – fungieren als Zeugen des Mittelalters und der Gegenwart.


Abb. 4: Das Frontispiz der ersten Auflage von Heinrich Zschokkes Werk Die klassischen Stellen der Schweiz und deren Hauptorte in Originalansichten (1836) ziert ein Stahlstich, der das Konzept der klassischen Stellen gut ins Bild setzt – ein ländlicher Ort vor beeindruckender Kulisse, bestückt mit «typischen» Figuren und Bauten.


Abb. 5: Die klassische Stelle Morgarten in Zschokkes Werk. Wenige Jahrzehnte später wird eine Postkarte produziert werden, die eine Fotografie der Schlachtkapelle aus derselben Perspektive und ebenfalls mit einer Frau mit Korb auf dem Weg zeigt. Es handelt sich hierbei also um ein Motiv, das in ein neues Bildmedium wandern wird.

Was meint Zschokke mit dem zweiten «Siegesfeld» von Rothenthurm? Im April 1798 gaben die Regierungen von Schwyz, Nidwalden, Glarus und Uri bekannt, dass sie die soeben ausgerufene helvetische Verfassung ablehnten. Gründe waren Ängste um die katholische Religion, um Privilegien der herrschenden Schicht, um die kantonale Souveränität und vor der neuen Staatsordnung.141 Die Verfassung der Helvetischen Republik machte aus der Eidgenossenschaft der zwölf Orte mit ihren «Zugewandten Orten», eigentlichen Untertanengebieten, einen zentral organisierten Staat mit Gewaltentrennung. Die Schwyzer Truppen wurden von Alois Reding angeführt, der nach seiner Rückkehr aus spanischen Kriegsdiensten 1796 zum Landeshauptmann von Schwyz ernannt worden war.142 Redings Truppen besetzten widerstandslos Luzern und erreichten über den Brünigpass das Berner Oberland, zogen sich dann aber wieder nach Schwyz zurück, weil sie im Berner Oberland keine Unterstützung erhielten und weil inzwischen französische Truppen über Zug, Luzern und den Sattel Richtung Schwyz vorstiessen.143 Die Schwyzer Truppen unterlagen den Franzosen bei einem Gefecht bei Schindellegi. Am 2. Mai 1798 schlugen sie jedoch bei Rothenthurm an den Hängen des Morgartenbergs die französischen Truppen zurück. Einzelne Autoren sprechen deshalb von Gefechten bei Morgarten, als Ort und Name des Hauptgefechts gilt jedoch Rothenthurm.144 Angesichts der aussichtslosen Lage stimmte am 4. Mai 1798 die Schwyzer Landsgemeinde einer Kapitulation zu: Die französischen Truppen gewährleisteten religiöse Freiheit sowie Verzicht auf Entwaffnung und Besetzung des Kantons Schwyz. Diese günstigen Kapitulationsbedingungen soll der Respekt gegenüber dem Schwyzer Widerstand bewirkt haben.145

Alois Reding, der «Sieger von Rothenthurm», wurde zu einer wichtigen Symbolfigur, der Gedichte, Schauspiele, Reiseberichte und historiografische Werke huldigten.146 Schon bald besuchten Reisende die Kampforte von 1798. Heinrich Zschokke, neu helvetischer Regierungskommissär, freundete sich mit Alois Reding an und berief sich in seiner Schilderung des Schwyzer Widerstandskampfs Geschichte vom Kampf und Untergang der Schweizerischen Waldkantone, besonders des alten eidgenössischen Kantons Schwyz von 1801 symbolkräftig auf Redings Angaben.147 Zschokke verglich in dieser Publikation den Kampf gegen die Franzosen von 1798 mit den Heldentaten der mittelalterlichen Eidgenossen und rückte folglich die Schlacht am Morgarten in die Nähe des Gefechts bei Rothenthurm und der Gegenwart: «Europa hat kein Land, worin die Geschichten der vaterländischen Vorzeit so unvergessen und neu geblieben, […] als in jenen Gebirgen. Seit den Thaten Tells und dem Kampfe von Morgarten scheinen nur so viele Jahre verflossen zu seyn, als es Jahrhunderte waren.»148 Ist an der «klassischen Stelle» Geschichte präsent, weil die Zeit dort nur sehr langsam vergeht? Der Historiker Eric Godel formulierte den Gedanken von der «Vorstellung einer immobilen Geschichte in den Alpen».149 Dieses Geschichtsbild sei von Aufklärern konstruiert worden und finde sich in der Literatur und in Reiseberichten. Die Vorstellung einer immobilen Geschichte legt nahe, dass eine Zeitreise möglich sei, wenn man diese Gegenden aufsuche. Eine Formulierung Heinrich Zschokkes von 1822 lässt sich in diese Richtung deuten: «Die Eidsgenossenschaft stand zuletzt [im 18. Jh.] in der Mitte des verwandelten Welttheils einsam da; doch merkwürdig, oder ehrwürdig, wie eine Ruine fremder Zeit.»150

Die Eidgenossenschaft, wie sie bis 1798 bestand, wird von Zschokke als unverändertes Produkt des Mittelalters dargestellt.151 Die Reisenden seien begeistert gewesen von der anmutigen und majestätisch wilden Natur und ihrer Bevölkerung «im Einklang» damit.152 Und dies, so betont Zschokke, obwohl die meisten Schweizer in Unfreiheit gelebt und die einzelnen Orte sich bekämpft hätten. «Klassische Stellen» sind ein Anziehungspunkt für diese Zuschreibungen: Es sind Orte, die eine Bühne für das Vergegenwärtigen einer Vergangenheit bieten. Sie werden auch bei Zschokke an Gedenkorten wie der Kapelle in der Schornen festgemacht. Die Frage um die exakte Einheit des Raums mit dem historischen Ereignis kümmert nicht, solange die Blickrichtung und die Gefühlslage vorgegeben sind. Was für eine Rolle spielten die klassischen Stellen für das Geschichtsbild der helvetischen Republik?

Auch die zentralistische Helvetische Republik legitimierte sich damit, dass sie von den Alten Eidgenossen, dem friedlichen Hirtenvolk in den Alpen, abstammen würde. Geschichte diente in der Helvetischen Republik als Integrationsmittel.153 Dabei übernahmen die nationalen Propagandisten der Republik Idealbilder «der Schweiz», «des Schweizers» und Narrative seiner Geschichte aus der Reiseliteratur.154 Reiseberichte lieferten die Vorlagen für Beschreibungen der eigenen Nation. Zwei Verfasser bekannter Reisebeschreibungen, Johann Gottfried Ebel und Johann Michael Affsprung, erhielten quasi für ihre nationalen Verdienste das Helvetische Bürgerrecht verliehen.

(Reise-)Schriftsteller hatten in den zeitgenössischen Bewohnern der Schweiz die direkten Nachfahren der Eidgenossen gesehen, die für die Freiheit gekämpft hatten – zum Beispiel Gerhard Anton von Halem 1790. Acht Jahre später kennen die französischen Eroberer diese National- und Geschichtsbilder aus der Literatur und die Helvetische Regierung propagiert sie für eine nationale Einigung.

Heinrich Zschokke schliesst seinen Text über die «klassische Stelle» Morgarten mit einer Landschaftsbeschreibung: «Hirtenwohnungen», aber keine Bewohner bevölkern das Bild – die imaginierten Gestalten der Geschichte stehen an ihrer Stelle. Der Schornenturm harrt als «Zeuge des barbarischen Mittelalters» besserer Zeiten. Was für eine Rolle spielt die Landschaftsbetrachtung für die klassische Stelle? Zschokke führt aus: «Es ist hier wohl eine der heiligsten Stätten des Schweizerlandes; aber auch, hier ob Morgarten, eine der schönsten, weitumher. Der Blick verliert sich träumerisch in einer wunderlieblichen Idyllenwelt.»155 Zschokkes Klassische Stellen erzählen nicht nur von den Ereignissen, deren man an jenen Orten gedenkt, sondern geben immer auch eine Blickempfehlung für den ästhetischen Genuss mit.156

Dass eine heilige Stelle auch schön und eine Hirtenidylle mit Alpenkranz ist, entspricht dem Konzept. Dieses besagt, dass der Ort eines wichtigen historischen Ereignisses, sei dieses schrecklich oder schön, eindrucksvoll und erhaben zu sein habe. Der Historiker Daniel Frei schreibt, dass man in der Helvetik zwei anschauliche Vorstellungen einer Schweiz propagiert habe. Man reduzierte die Schweiz auf die Orte der Befreiungstradition oder man konzentrierte sich auf die Darstellung einer «typisch schweizerischen» Ideallandschaft. Die Vorstellung der Schweiz als Landschaft der Befreiungstaten habe die vielfältige Schweiz in Form von «Szenen» veranschaulicht, die Mythen durch Lokalisierung greifbar gemacht und das Territorium in geweihten, klassischen Boden der Freiheit, den es zu verteidigen galt, verwandelt.157 Der Morgarten-Stich in Zschokkes «klassischen Stellen» ist sowohl typisch schweizerische Landschaft («Idyllenwelt») als auch lokalisierte, greifbar und anschaulich gemachte Befreiungsgeschichte («hier ob Morgarten»).

Georg Simmel sah den «Reiz der Ruine [darin], dass hier ein Menschenwerk schliesslich wie ein Naturprodukt empfunden wird.»158 Zschokkes Konzept der «klassischen Stelle» verwandelt auf ähnliche Weise die Schauplätze von Geschichte in pittoreske Szenen, in zeitentrückte Ansichten, die ohne Vermittlung überdauert hätten und deshalb für die Evokation von «merkwürdiger» Geschichte und damit verbundener Vorstellungen geeignet sind.159 Die historische Stätte muss dabei offensichtlich kein Überrest aus der Zeit des Ereignisses sein. Auch Gedenkkapellen, ein Denkmal, ein Wohnhaus oder Landschaftselemente (und Geschichte) können wie eine Ruine, wie ein Naturprodukt, wahrgenommen werden.

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