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Reiseliteratur und «nation building»
ОглавлениеReiseliteratur spielte im Prozess des «nation building», der Nationalstaatsbildung, eine wichtige Rolle.61 Wie hat das Reisen und die Reiseliteratur das Bild der Nation beeinflusst? Der Historiker Georg Kreis schreibt, dass die Reiseberichte des 18. Jahrhunderts die Eidgenossen «auf das eigene historische Erbe aufmerksam» gemacht hätten und diese sich daraufhin in einer Bewegung des Aufklärungs- und Reformpatriotismus vermehrt auf historische Vorbilder bezogen hätten.62 Reiseberichte machten die patriotische Bewegung nicht nur auf ihre Geschichte, sondern auch auf deren «Stätten» aufmerksam, und sie formten die Erzählungen zu diesen Orten wesentlich mit.
Die Überlegungen, wie Reiseliteratur und Selbstbild der Schweiz zusammenspielten, spitzte der Schriftsteller Michail Schischkin zu: «Es waren Reisebeschreibungen, die das Land kreierten, die Wortgebilde haben sich über die Realität gelegt.»63 Ein erfolgreicher Reisebericht habe eine Welle neuer Reisender und Reisebeschreibungen ausgelöst. Die Reiseliteraten «leisteten so etwas wie einen unausgesprochenen Rütlischwur bei der Gründung der virtuellen Eidgenossenschaft.»64 Die realen Bewohner dieses erdichteten Landes hätten nicht nur «marktgerecht» an der Idylle herumgefeilt, sondern konnten auch «ihr Brot verdienen, indem sie als ideale Schweizer arbeiteten.»65 Und letztlich, so Schischkin, prägten sich das reale Land und das erdichtete Land gegenseitig so stark wie ein Schauspieler und seine Bühnenrolle, die er kreiere und dabei gleichzeitig sich selbst bleibe und die ihn wiederum präge; umso mehr, als er auch nach Ende der Vorstellung sozusagen auf der Bühne lebe.66 Was heisst dies konkret für das Geschichtsbild des späten 18. Jahrhunderts?
Christine von Arx schreibt in ihrer Untersuchung über Zeughäuser, dass deren Geschichtsinszenierungen stark lokal geprägt gewesen seien und dass die Macher der Präsentationen jeweils die Geschichte ihres Ortes in Abgrenzung zu den anderen eidgenössischen Orten präsentiert hätten.67 Im Gegensatz dazu hätten sich deutsche, englische und französische Reisende in ihren Berichten über die Zeughäuser auf die Schlachten der Eidgenossen konzentriert. So habe die «Fremdperspektive» eine «imaginierte Eintracht» beschworen, bevor diese Geschichten von nationalen Akteuren ausgeschöpft worden seien.68 Der Blick der Touristen gründete die nationale Perspektive auf Geschichte mit.
Aus der Reiseliteratur lässt sich folglich nicht zuverlässig erfahren, wie der Ort aussah, den Reisende auf Spurensuche nach der Schlacht am Morgarten besucht und was die Reisenden dort erlebt hatten. Aber die Reiseliteratur zeigt, mit welchen Motiven und in Bezug auf welches historische Material Reiseschriftsteller in der Frühzeit des Tourismus (1780–1830) die Schlacht am Morgarten erzählten und ihren Besuch auf dem Schlachtfeld schilderten.