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Reiseführer, Reiseberichte und Anleitungen, wie man richtig reist Reiseziel Schlachtfeld
ОглавлениеBis ans Ende des 18. Jahrhunderts suchten nur wenige Besucher den Ort der Schlacht am Morgarten auf. Zwischen 1750 und 1790 nahm der Reiseverkehr in die Schweiz beträchtlich zu, wie beispielsweise die Anzahl publizierter Reiseberichte nahelegt.39 Laurent Tissot setzt die Prämissen des Tourismus in die Jahre 1780 bis 1830.40 In dieser Zeitspanne wurde die Schweizerreise bei Reisenden zunehmend beliebter. Die Schweiz und die Alpen wurden als Projektionsflächen für neue Theorien genutzt, die erklären, was eine schöne Landschaft ausmache und wie Menschen zusammenleben sollten.41
Sehenswürdigkeiten der Vormoderne waren historische Waffensammlungen in Zeughäusern und vom 18. Jahrhundert an vor allem die Natur.42 Auch Schlachtfelder gehörten zu den frühen Sehenswürdigkeiten. In Goethes Faust, der Tragödie zweiter Teil (1832) fragt Mephistopheles spöttisch:
«Sind Briten hier: Sie reisen sonst so viel.
Schlachtfeldern nachzuspüren, Wasserfällen, Gestürzten Mauern, klassischdumpfen Stellen;
Das wäre hier für sie ein würdig Ziel.»43
Die gemeinsame Aufzählung von Schlachtfeldern mit Wasserfällen und Ruinen ordnet Schlachtfelder den Reisezielen des romantischen Tourismus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu. Im Gebiet der heutigen Schweiz war insbesondere das Schlachtfeld von Murten ein beliebtes Ziel von Reisenden, die es oft Goethe gleichtaten und aus dem Beinhaus von Murten den Schädelteil eines Burgunders als Souvenir mitnahmen.44
Die Schlachtfelder und Schlachtkapellen waren nicht die einzigen Orte, an denen Geschichte «besichtigt» wurde. Auch frühe Denkmäler und Zeughäuser repräsentierten Geschichte. Die Historikerin Christine von Arx untersuchte Zeughäuser als «Orte der historischen Repräsentation» im 18. und 19. Jahrhundert. Von Arx schreibt, dass in den Reiseberichten ein grosses Interesse an der mittelalterlichen Geschichte der Eidgenossenschaft, insbesondere der Kriegsgeschichte, auszumachen sei, ja sogar, dass eine Geschichtsbegeisterung massgebend die Beliebtheit der Schweiz als Reiseland bewirkt habe.45 Die Reisenden hätten den «bezeugten historischen» Schauplatz betreten wollen. Sie zitiert den englischen Reiseschriftsteller William Coxe, der in seinem Reisebericht von 1781 seine Gedanken beim Besuch des Schlachtfelds von Näfels beschrieb: «Hier wars! Hier wars, wo 350 Glarner mit Hilfe von 30 Schwyzern der ganzen Macht der österreichischen Armee widerstunden.»46 Von Arx folgert, dass die Reisenden des späten 18. Jahrhunderts bereits den «authentischen Ort» betreten wollten, um Geschichte «über alle Sinne» wahrzunehmen und somit «erst eigentlich» zu erleben. Dabei hätten die Denkmäler an den historischen Orten nur als «Zeigefinger» funktioniert, die den Schauplatz markierten, den man zu betreten wünschte. Dieser Wunsch sei, so von Arx weiter, in engem Zusammenhang mit einem neuen Naturverständnis zu verstehen. Die Landschaften seien neu «in ihrer historischen Bedeutsamkeit» wahrgenommen worden.47
Was ist die Rolle von Landschaften in der Darstellung mittelalterlicher Geschichte? Wenn Authentizität eine Zuschreibung ist, wie Martin Sabrow es definiert, etwas Echtes und Originales, eine «unverstellte Unmittelbarkeit», vor sich zu haben – an welchen Kriterien machten die Reiseautoren eine Zuschreibung von Morgarten als authentische «historische Stätte» fest?48
Ein erstes Beispiel stellt die Behauptung, dass die Reisenden Geschichte als «authentischen Ort» besuchen wollten, bereits in Frage. In den 1780er-Jahren reiste Christoph Meiners (1747–1810), Professor in Göttingen, streckenweise zu Fuss durch die Schweiz und schrieb einen Reisebericht in Briefform. Dieser Bericht wurde in der aufkommenden Begeisterung für die Schweiz zum vielverkauften Reiseführer.49 Meiners reiste auch ins Ägerital, wo sich eine Wirtin über den «vornehmen» Besucher, der «aus blosser Neugierde» so weit gereist sei, gewundert habe. Von einem Hügel aus habe er das Schlachtfeld von Morgarten gesehen. Auf zwei Zeilen rekapituliert Meiners die Geschichte der Schlacht am Morgarten in einer Version, die der Schilderung von Ägidius Tschudi im 1734–1736 veröffentlichten Werk Chronicon helveticum naheliegt.50 Tschudis Erzählung war von mehreren anderen Werken des 18. Jahrhunderts übernommen worden, etwa den populären Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft von Johannes von Müller, den Meiners persönlich kannte. Die zwei wichtigsten Motive in Meiners Morgartendarstellung sind die ungleichen Gegner – wenige schlecht bewaffnete Fusskrieger gegen viele schwerbewaffnete Ritter – und die Steinlawine vom Berg herab. Von der Schlacht erzählt Meiners, als er von seinem Aussichtspunkt ins Ägerital zurückblickt und nicht, als er am Ort der Schlacht steht. Dieser Blick entspricht der Vogelperspektive, mit der die zeitgenössischen Kupferstiche das Ägerital als ländliches Arkadien zeigen. Die «schöne» Ansicht der Landschaft von oben war für Meiners der geeignete Standort, um sein Nachdenken über die Schlacht zu verorten. Die Frage nach dem genauen Standort der Schlacht spielte für ihn offensichtlich keine Rolle.